Das Schweigen hören
„The Artist“ rekonstruiert die Ästhetik des Stummfilms mit Raffinesse und Sensibilität. Dafür wird es Oscars geben. Wer diesen perfekten Film genießen will, sollte allerdings ein Cineast sein
„Ich sage nichts. Ich sage kein Wort“, sagt der Mann, den sie foltern, aber wir hören es nicht. Wir sehen, was er sagt, es steht auf dem Zwischentitel. Wir sehen einem Stummfilm zu, die Leinwand, das Orchester, das premierengeschmückte Publikum, die Stars hinter der Leinwand. Der Film heißt „The Russian Affair“, der nächste wird „The German Affair“ heißen. Dann der Applaus, doch auch den sehen wir nur, und das ist einen Augenblick lang fremd und irritierend. Denn jetzt sehen wir nicht einem Stummfilm zu, jetzt sehen wir einen Stummfilm. „The Artist“, der Künstler, ist ganz gewiss einer der merkwürdigsten Filme der letzten Jahre. Diese französische Produktion des Regisseurs Michel Hazanavicius, die nach den Golden Globes einer der beiden großen Favoriten für den Oscar ist, rekonstruiert mit handwerklicher Perfektion und künstlerischer Sensibilität die Ästhetik des Stummfilms. Und damit das einen Grund in sich findet, erzählt er in den Formen dieser versunkenen Ästhetik davon, wie sie versank. George Valentin (Jean Dujardin), der Stummfilmstar, ist mit seinem Produzenten bei einem Soundtest, 1929. The Artist, der Künstler, lacht und geht. Er lacht, weil er dieses neue Mittel, den sprechenden Film, für etwas Unkünstlerisches hält. Er lacht über seinen Untergang. Denn der schweigende Star ist der untergehende Star. Und einem Kino, in dem die Erde ein schweigender Stern ist, konnte nie die Zukunft gehören. Die Zukunft des Kinos wird immer in jener Technik liegen, die dem Leben am nächsten kommt. Und die Haltung dieses Stars ist genau jene künstlerische Ignoranz, von der noch jede technische Innovation begleitet wurde. Die Erfindung des Films selbst galt mehr als eine Errungenschaft des Jahrmarktes als der Kunst. Misstrauen galt der Erfindung des Tones und der Farbe, wie es den neuen Formaten galt. So galt und gilt es der Einführung der Dreidimensionalität. Und jetzt ist „Pina“ von Wim Wenders, ein hochkünstlerischer Dokumentarfilm über eine Künstlerin, für einen Oscar nominiert. Manchmal erscheint uns ein ästhetischer Rückgriff auf eine zurückliegende Technologiestufe des Kinos als reizvoll. Das macht etwa die Besonderheit von Schwarz-Weiß-Filmen aus, das kleine Format, die karge Ästhetik lässt uns solche Filme als kostbar empfinden, weil sie weniger schreiend sind als das, was wir gewohnt sind im Kino. Dieser Film aber ist nicht einfach weniger schreiend, er ist stumm. Und das ist ein Rückgriff auf eine Entwicklungsstufe des Kinos, die für die Mehrheit der Kinobesucher nur noch schwer nachzuvollziehen sein dürfte. Zu erwarten, dass diese Ästhetik eine Renaissance erleben könnte, das wäre, als erwartete man eine Renaissance des Lateinischen als Lingua franca der Gegenwart. Dabei, dieser Film ist wunderbar, er ist einfach großartig gemacht – aber man muss wohl ein Cineast sein, um sich an den Zitaten der verschiedensten Art erfreuen zu können. Der Vorspann in dem alten, kleinen Format ist im Design der frühen Filme gehalten, die Schrifttitel werden durchgeblendet, wir erleben die gute alte Kreisblende am Wirken. Die Schauspieler, begleitet von klassischer Filmmusik, unterbrochen von den Zwischentiteln, rekonstruieren perfekt den Stil, mit dem gespielt wurde im stummen Film. Die großen, ausgestellten Gesten, die, sozusagen, überdeutlichen Gesichter. Jean Dujardin mit dem markanten Männergesicht der Stummfilmzeit, Berenice Bejo mit dem flirrenden Charme der Zeit, beide auch nominiert für die Darsteller-Oscars, sie für die beste Nebendarstellerin. Und sie vermitteln das Gefühl, als seien sie, alle, mit einer überbordenden Lust am Arbeiten. Und Michel Hazanavicius kann das inszenieren mit einer wunderbaren Balance. Sie spielen das mit einer wunderbaren sanften Ironie und erlauben es uns doch, sie jederzeit ernst zu nehmen als künstlerische Äußerung. Wie fremd uns diese Ästhetik ist, wie geprägt wir von unseren Gewohnheiten sind, das kann jeder Besucher selbst an sich kontrollieren: Wenn wir das applaudierende Publikum sehen, den rotierenden Plattenteller, hören wir gleichsam das Geräusch – bis wir das Schweigen hören. Michel Hazanavicius hat eine wunderbare Szene. George hört plötzlich den Hund bellen, er hört das Glas, das er absetzt, den Stuhl, den er rückt. Und wir begreifen, wie fremd ihm das, im Kino, erscheinen muss, weil auch wir diese Geräusche jetzt hören, wo wir uns doch daran gewöhnt hatten, das Schweigen zu hören. Wenn dieser Film 80, 85 Jahre alt wäre, dann läge er unberühmt im Archiv. Wenn er, und so wird es sein, einige Oscars bekommt, dann werden die also einer exorbitanten handwerklichen Leistung und der Nostalgie von Cineasten gelten. So ziemlich am Ende gibt es ein geschriebenes „Peng“, und dieses „Peng“ ist der vielleicht witzigste Moment, den das Kino in den letzten Jahren hatte, und es erklärt zugleich, was der Schnitt bedeutet für das Kino. Und machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie diesem „Peng!“ begegnen: Alles wird gut.
Henryk Goldberg
erschienen in Thüringer Allgemeine Zeitung
Bilder: Delphi
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