Zum Tod von Johannes Heesters, der mit 108 Jahren starb
Der Mantel der Geschichte ist eine Tracht, die zu tragen nur wenigen Menschen vergönnt ist, die Glücklicheren werden einmal gestreift davon. Und höchst sonderbar scheint, wenn diese Tracht so ausschaut, wie der Umhang des Operetten-Grafen Danilo.
Johannes Heesters wird am 5.Dezember 1903 geboren, einige Wochen, ehe Tschechows „Kirschgarten“ in Moskau uraufgeführt wird. Und beinahe 100 Jahre später wird er eine Rolle in diesem Stück spielen. Wer geboren wurde, als Heesters erstmals den Grafen Danilo sang, der ist heute jenseits der 70. Franz Lehar hielt ihn für den besten Danilo aller Zeiten und Adolf Hitler auch. Und wenigstens juristisch ungeklärt ist die Frage, ob er gelegentlich einer verordneten Besichtigung des KZ Dachau dort auch vor den Wachmannschaften gesungen hat. Das entscheidende Urteil darüber hat kein Gericht gesprochen: Es war das Publikum. Und in der Tat, gesungen oder nicht, Heesters hat, anders als Leni Riefenstahl, öffentlich seine Scham bekannt und er hat, anders als diese, Hitler nicht durch eine exzellente Kunstsausübung vergöttlicht.
Johannes Heesters auf der Bühne, das war, wer es erlebte in den letzten Jahren, ein merkwürdiges Erlebnis. Der alte Mann läuft wie auf Glas, ohne Schuhe. Vorsichtig tastend lehnt er sich an den Flügel, zu den sie ihn führen, legt die Hände auf das Instrument. Das ist sein Quell und das ist sein Ort. Hier benötigt er niemanden, der ihn stützt. Hier hat er, wenn sie ihn die ersten Zeilen einsagen, den Text und den Ton.Hier kann er abrufen, was gespeichert ist in ihm. Dann singt er. Und träumt? Er steht da vorn wie geschützt hinter Glas. Wie entrückt. Wie anwesend und doch sehr fern. Wie ein sehr kostbares Stück in einer gläsernen Vitrine, bewundert von allen, alle faszinierend. Und betrachet wie etwas, das sehr fremd ist und sehr anders auch.
Es ist etwas zutiefst Anrührendes um diesen Mann und etwas Merkwürdiges auch. Die 100 ist eine magische Schwelle. Wer sie überschreitet ist noch immer ein Mensch, doch wir nehmen ihn wahr, als sei er nicht wirklich noch einer von uns. Als lüfte die Schöpfung für einen Augenblick den Vorhang vor ihrem letzten Geheimnis, das wir eines Tages angstvoll zu entdecken haben. Und es ist, als sähen wir für einen Augenblick hinter den Vorhang.
Wer weiß schon, was dieser Mann sieht und träumt, wenn er singt, was er vor siebzig Jahren sang. Ist es noch eine Melancholie, eine Traurigkeit, wenn er von den Damen im Maxim singt oder ist es schon eine glückselige Hingabe an den Augenblick? Sieht er sich, wie er als ein glänzend aussehender Mann die Showtreppe beherrschte, neben dem alten Mann stehen, der am Flügel lehnt und den sie feiern, weil er noch stehen kann? Ist das noch ein alter Mann oder doch schon wieder ein unbefangenes Kind, dem die Zeit nichts bedeutet?
Die Standing Ovations, die der alte blinde Mann nicht mehr sehen, nur spüren konnte, die galten nicht wirklich seinem Gesang. Sie gelten den Jahren. Und auf seinen schwachen Schultern hocken die körperlosen Geister seiner berühmten Zeitgenossen. Aber niemand der kräftigeren Menschen vermöchte diese flirrende Last zu tragen. Deshalb erhoben sie sich vor diesem alten, schwachen Mann. Und wie um die Legende zu vollenden starb er am Vormittag, dem die Heilige Nacht folgte.
Henryk Goldberg
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