Erfurt I und II

Als sich die alte Sozialdemokratie nach dem Ende des Sozialistengesetzes daran machte, ein neues Programm zu erarbeiten, sah Friedrich Engels in London die Gelegenheit gekommen, einen Fehler aus der Vergangenheit zu beheben.

1875 hatten sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geführt wurde, in Gotha mit dem einst von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands vereinigt. Um die Sache schnell voranzubringen, machte Wilhelm Liebknecht den Lassalleanern für das gemeinsame Programm Zugeständnisse. Marx hatte eine ausführliche Kritik verfasst, die Liebknecht aber nicht an die Parteiöffentlichkeit weitergab. Jetzt wurde sie von Engels am Vorstand vorbei publiziert. Er schrieb auch einen kritischen Kommentar zum neuen Entwurf. 1891 wurde auf einem Parteitag in Erfurt ein Programm, das diesen Einwänden weitgehend Rechnung trug, verabschiedet. Damit war der historische Materialismus offizielle Handlungsmaxime der deutschen Sozialdemokratie.

Genützt hat das am Ende nicht viel. Ohne vorangegangene Programm-Änderung stimmte die SPD-Reichstagsfraktion am 4. August 1914 für die Kriegskredite.

Nicht an diesem fatalen Endpunkt, sondern an den hoffnungsvollen Anfängen wollte die Partei „Die Linke.“ anknüpfen, als sie vom 21. bis zum 23. Oktober 2011 ihren Parteitag nach Erfurt einberief und dort ein Grundsatzprogramm beschloss. Vom 17. November bis zum 15. Dezember wird eine Mitgliederbefragung stattfinden. Der Text kann im Internet eingesehen werden.

Über vier Jahre hatte die 2007 aus der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) und Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zusammengefügte Organisation ohne Programm existiert. Das Dokument, das sich 2003 die PDS gegeben hatte, wollte sie nicht länger haben. Es war kein Höhepunkt sozialistischer Programmgestaltung gewesen. Seine Verfasser hatten es für nötig gehalten, mit der Betonung bürgerlicher „Freiheitsgüter“ noch einmal den Abschied von ihrem Leiden in der DDR Ausdruck zu geben. Jetzt musste man endlich an die Zukunft denken. Dies geschieht durch Rückgriff auf eine Vergangenheit: auf eine Sozialdemokratie vor Friedrich Ebert und Walter Ulbricht.

Redundanz

Das Erfurter Programm von 1871 kam mit 157 Taschenbuch-Zeilen aus (einzusehen z.B. im Anhang von: Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie). Erfurt II dagegen benötigt 2.827 im DIN-A-Format. Viele Forderungen werden gleich mehrmals gestellt – „Hartz IV muss weg“ zweimal oder: „Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden, ihr Einsatz im Inneren ist strikt zu untersagen, die Notstandsgesetze, die den Einsatz der Bundeswehr im Inneren vorsehen und ermöglichen, sind aufzuheben.“ Und später dann fast wortgleich noch einmal: „Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden, ihr Einsatz im Inneren jenseits notwendiger Katastrophenhilfe ist strikt zu untersagen, die Notstandsgesetze, die den Einsatz der Bundeswehr im Inneren vorsehen und ermöglichen, sind aufzuheben.“

Man kann sich vorstellen, wie es zu diesen Wiederholungen kam: Wahrscheinlich sahen sich alle möglichen Arbeitskreise veranlasst, Texte aus ihren Spezialgebieten einzureichen. Die wurden aufgenommen, und dann ist offenbar nicht gründlich redigiert worden, sei es aus Achtlosigkeit, sei es, dass man niemanden verärgern wollte. Die innerparteilichen Diskussionen in den Monaten vor dem Parteitag befassten sich nur selten mit dem Programm, sondern mit anderen Themen, insbesondere aber mit Personalien. Da erschien seine Verabschiedung manchmal nur noch wie eine Pflichtübung. Stritt man sich ausnahmsweise einmal wirklich ums Programm, war das meist ein Stellvertreter-Kampf der einander misstrauenden Flügel.

Wäre das Dokument der Linkspartei im Verhältnis 18:1 gekürzt – also von Erfurt II auf Erfurt I –, bliebe noch genügend Platz für durchaus sinnvolle Vorschläge, die sich in dem am 23. Oktober verabschiedeten Text finden. Sehen wir ihn uns an.

Vernünftiges

Wenn das Parteiprogramm der Linken „für politische Streiks und Generalstreik“ eintritt (das ist übrigens eine Forderung, die gleich viermal erhoben wird), dann könnte eingewandt werden, dass die Adresse falsch gewählt ist: so etwas müssten doch wohl die Arbeiter und die Gewerkschaften selbst entscheiden. Die Sache hat dennoch Hand und Fuß, da Arbeitsgerichte nach dem Streik der IG Druck und Papier gegen das Betriebsverfassungsgesetz 1952 politische Streiks für rechtswidrig erklärt hatten. Eine linke politische Partei kann sich da schon dafür einsetzen, dass die gesetzliche Grundlage verbessert und somit die faktische Illegalisierung aufgehoben wird.

Die Linkspartei verpflichtet sich, „für das Existenzrecht Israels einzutreten“. Da hat eine der programmfernen Debatten des vergangenen Sommers offenbar doch ein gutes Ergebnis gehabt.

Dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist, wird nicht verschwiegen, sondern herausgearbeitet, der finanzmarktgetriebene Kapitalismus zutreffend beschrieben.

Das Programm betont „die Zentralität der ökologischen Frage“, doch konkurrenzlos im Vergleich zu den anderen Parteien ist es bei der Behandlung der Eigentumsfrage. Hier wird spürbar, wer schon seit PDS-Zeiten gründlich darüber nachgedacht hat. Die Großbanken, strukturbestimmenden Unternehmen und alle Einrichtungen der Daseinsvorsorge sollen in die Öffentlichen Hände übergehen, nicht monopolistisch an den Staat, sondern auch an Kommunen und Genossenschaften. Hinzu kommt Belegschaftseigentum. (Dass die Versorgung mit Energie, Wasser, Kommunikation dem Profitstreben entzogen werden soll, wird dann gleich wieder zweimal gesagt.) Die Erwerbsarbeit sei zu verkürzen, perspektivisch auf 30 Stunden in der Woche. Dann geht es weiter: „Dies ist Voraussetzung, damit die Arbeit der Sorge und Pflege von Menschen um das Leben und seine natürlichen Voraussetzungen aus der Ecke der Vernachlässigung und unentgeltlichen Zuweisung an Frauen geholt wird, diese Tätigkeiten gesellschaftlich organisiert und alle Gesellschaftsmitglieder beteiligt werden.“ Die sprachliche Unklarheit – was ist „Sorge und Pflege von Menschen um das Leben“? – weist darauf hin, dass da etwas nicht zu Ende überlegt wurde. Soll denn diese Nicht-Produktionstätigkeit keine Erwerbsarbeit sein? (Andererseits, so heißt es, dürfe sie nicht weiter unentgeltlich verrichtet werden.)

Dass eine „solidarische Bürgerversicherung“, in die alle proportional nach Einkommen und Vermögen einzahlen und aus der sie nach jeweiligen Bedarf Leistungen erhalten, eingeführt werden soll, ist – wie die ebenfalls geforderte schärfere Progressiv-Besteuerung – Umverteilung von oben nach unten und gut so. Allerdings wird das Adjektiv „sozial“ in dem Text inflationär benutzt. Man weiß nicht recht, wer da jeweils mit wem solidarisch sein soll. Werden die Unternehmer dazu gebracht, zur Finanzierung der Sozialversicherung beizutragen, ist das letztlich Lohnpolitik (deshalb klagen sie ja über „Lohnnebenkosten“). Das kann nicht durch dasselbe Wort gekennzeichnet werden wie die Solidarität, mit der Menschen derselben Klasse einander beistehen sollten.

Deutsches-Wesen-Korps

Im Programm wird ein „Willy-Brandt-Korps für internationale Katastrophenhilfe“ vorgeschlagen. Hier geht es um eine Sache und um einen Namen. Letzterer soll wohl signalisieren, dass die Linkspartei zwar für ein paar Tage nach Erfurt zurückgekehrt ist, aber nicht auf Dauer zu August Bebel. Sie will stattdessen bei einem Politiker einkehren, der vor 1933 aus der SPD ausschied, sich ihr aber später wieder anschloss. Man muss nicht unterstellen, hier werde der künftige Verzicht auf eine eigene Organisation vorbereitet. Eher wird wohl auf Einheit der Sozialdemokratie in zwei Parteien gezielt.

Was die Sache, das Korps, angeht, so ist zu fragen, ob es denn zurzeit an internationaler Kapazität zur Katastrophenhilfe fehlt. Falls das so ist, sollte sie geschaffen werden, sei es durch die EU oder durch die UNO. Eine eigene deutsche Truppe setzt die Ansicht voraus, jene seien dazu nicht imstande.

Subjektiver Faktor

Die Mitglieder der Partei „Die Linke“ werden dem Programmentwurf wohl zustimmen, und es gibt keinen Grund, weshalb sie das nicht tun sollten. Gleichzeitig werden sie mit einem anderen Problem konfrontiert sein. Es gilt die Zweifel zu beheben, ob ihre Partei nach allem, wie sie sich in den vergangenen zwölf Monaten ansonsten dargestellt hat, noch von genügend vielen Menschen als eine Organisation angesehen wird, der sie praktische und erfolgreiche Politik im Sinne dieses Programms zutrauen.

Georg Fülberth in Konkret 12/2011