Die Schriftstellerin Christa Wolf ist tot. Sie starb am 1. Dezember im Alter von 82 Jahren in Berlin.

 

Unterm ungeteilten Himmel

So fangen ihre Bücher an: Hier war es. Da stand sie. Und: Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Und: Die arge Spur, in der die Zeit von uns wegläuft.

Wem die wirkliche Zeit sich derart in die literarische Fiktion drängt, wer seinen Ich-Ort, seine Ich-Zeit derart verschwimmen lässt mit Figuren-Ort und Figuren-Zeit, der bekennt so unauflösliches Verbundensein mit seiner Zeit. Und wer, wie Christa Wolf, um offene Formen rang, offen für Partikel des Wirklichen, den musste es irgendwann ins Tagebuch treiben. Und so veröffentlichte sie 2003 „Ein Tag im Jahr“.

„Mir fällt ein“, notiert Christa Wolf unter dem Datum des 27. September 1979, „dass dieser ganze beobachtete Tag unter das Heisenbergsche Gesetz von der Unschärferelation fällt: Er wird deformiert durch meinen unausgesetzten Blick auf ihn.“ In gewisser, wenn auch schwer zu fassender Weise mag das auch für die öffentliche Wahrnehmung der Person Christa Wolf gelten.

Hat auch sie sich – und wenn: wie? – durch den unausgesetzten Blick einer teils kultisch verehrenden, teils hämisch desavouierenden Öffentlichkeit verändert? Vermutlich ist das so. Und vermutlich ist kein deutscher Schriftsteller nach Heinrich Böll so sehr als öffentliche Instanz wahrgenommen worden wie Christa Wolf. In dieser Hinsicht nahm sie im Osten eine Stellung ein, wie sie im Westen einst eben Heinrich Böll bekleidet hat – und für das ganze, ungeteilte Deutschland niemand. Ein Umstand, der vermutlich damit zu tun hat, dass es keinen Schriftsteller gibt, der als Person und Autor über eine moralische Strahlkraft verfügt, die aus der Sicht östlicher wie westlicher Lebensentwürfe eine beide integrierende Maßstäblichkeit gewinnt.

Im Übrigen neigt der Zeitgeist dazu, nach dem Zusammenbruch der ideologischen Gewissheiten auch jede Erscheinung von sich in Menschen institutionalisierender Moral für etwas Komisches zu halten.

Aus genau diesem Grunde begann der gesamtdeutsche, also westliche, Literaturbetrieb, seinen, womöglich unbewussten Trieben zu folgen und Christa Wolf als eine Art trauernde Priesterin der geknechteten ostdeutschen Seele zu ironisieren – was sie in gewisser Weise ja auch tatsächlich war. Allerdings, das hatte nichts mit ihrem literarischen Rang zu tun. Sie war einfach eine Schriftstellerin, die sich weigerte, Moral für einen obsoleten, leicht albernen Begriff zu halten.

Es störte wohl den Betrieb, dass da eine übrig geblieben schien, die Literatur nicht als fröhliche Zeitgeisterei verstand, sondern als eine ernsthafte Lebensäußerung und der ein großer Teil ihrer Leser hierin folgte. Der Umstand, dass diese Leser in ihrer großen Mehrheit zur kleineren Hälfte des Landes rechnen, ließ die Staatsdichterin-Debatte beinahe zu einer ideologischen Frontstellung verhärten.

Doch spätestens seit „Ein Tag im Jahr“, schien diese Frontenbildung aufgehoben und die aufgeschäumte Stasi-Geschichte der „IM Margarete“ zur frühen biografischen Petitesse geschrumpft. Es spricht am Ende doch für diesen literarischen Betrieb, dass er sich und seine temporären Blähungen zu disziplinieren weiß und einer Schriftstellerin wie Christa Wolf ihren Rang schließlich mit Respekt vergönnt.

Christa Wolf ist mit diesem ihr durch Haltung zugefallenen Status, gleichsam die verkündende Repräsentantin ostdeutscher Moral zu sein, niemals leichtfertig oder zynisch oder gar kokett umgegangen, alles ihr fremde, unvertraute Haltungen. Sie muss diesen Status zu Teilen gemocht haben, weil er sie – neben dem Stück Eitelkeit, das in jedem Herzen nistet – in ihrer Grundhaltung bestätigt, die so etwas wie ein virtuelles Netzwerk der Moral zwischen der Autorin und ihren Lesern spannt.

Und es ging ihr, „Ein Tag im Jahr“ bezeugt das sehr eindrucksvoll, wie wohl manchem ihrer Leser: Unmerklich verflog die Weltgewissheit und wich einer Persönlichkeitsungewissheit, die nur noch die eigene Authentizität gegen die Welt zu setzen vermag. Damals, 1989/90 plädierte sie noch „Für unser Land“, hoffte auf ein Drittes, das das Beste aller Welten zu vereinigen vermag.

Doch der mitunter hohe Ton der Verkündigung verflog mit der Zeit und durch die Zeit: „Ich freilich hab allmählich meine Waffen abgelegt, das war’s, was an Veränderung mir möglich war“.

Das zu bekennen kann ihr nicht leicht geworden sein. Zum Teil hat wohl, auf den Heisenberg zu kommen, das Bewusstsein ihrer mitunter mehr Last als Lust bedeutenden Rolle als öffentliche Projektionsfläche von Moral, von Lebensart und Lebenshaltung auch ihr Leben beeinflusst, wenn sie diese singuläre Stellung als Verkörperin einer Gegenöffentlichkeit mit seufzender Verantwortung auf sich nahm. Und dass sie blieb in diesem Land, an dessen Verfasstheit sie litt, an dem sie verzweifeln mochte, dass sie für dieses Bleiben manch Schweigen auf sich nahm, das hatte auch zu tun mit ihren Lesern, mit der anhaltenden und intensiven Beobachtung durch diese.

Was die Zuhörer bei ihren Lesungen zu ihr zog, war mehr, oder vielmehr etwas anderes, als ein rein literarisches Interesse, dieses natürlich vorausgesetzt. Christa Wolf stand für ein authentisches Lebensgefühl vieler ehemaliger DDR-Menschen, für eine am Wirklichen verzweifelnde Moral, die eine Selbstlegitimation in diesem Lande suchte. Christa Wolfs Arbeit steht dafür, wie weit, wie unglaublich weit, wenn ein Talent, ein Charakter und eine Zeit in eines fallen, Literatur den Zirkel des rein Ästhetischen zu überschreiten vermag.

Und in dieser öffentlichen Wahrnehmung liegt auch eine Gefahr begründet, die, dass das Werk dieser Schriftstellerin, ihre Bücher, hinter der Persönlichkeit verschwindet.

Der Autor bekennt, es seien weniger ihre großen Bücher – „Nachdenken über Christa T.“, „Kindheitsmuster“ – wegen der er die Literatur der Schriftstellerin liebt, es sind eher die kleinen. Die wunderbare Novelle „Kein Ort. Nirgends“, darin sie ihren Schmerz auf die fiktive Begegnung der Selbstmörder Kleist und Günderode, der „Vorgänger“, projizierte. „Kassandra“ mit dem wunderbaren Anfang, die Absage an die Hingabe des Individuums an die Maßgaben der Gesellschaft. In beiden Büchern stiftet ihre sonst gelegentlich als Larmoyanz wahrgenommene Innerlichkeit Literatur. Und beide Bücher konnten in der DDR nicht unverstanden bleiben.

„Licht aus“ geht die letzte Zeile von „Ein Tag im Jahr“. Christa Wolf warf ein Licht auf ihre Zeit, die unsere Zeit bleibt. Und eines, in dem nichts subjektiv Falsches ist, eine Schriftstellerin von Rang. Ein Talent und ein Charakter. Und aus Deutschland.

Das wird bleiben.

 

Henryk Goldberg, Thüringer Allgemeine 02.12.2011