Warum zum Wiederaufbau der Zivilgesellschaft eine Filmkultur gehört
Wie kehrt man zur „Normalität“ zurück in den Ländern nach dem Krieg? Es ist nicht nur die Vergangenheit, die schmerzt, etwa in Sarajevo. Die Gegenwart ist grau, der „Wiederaufbau“ sorgfältig aufgeteilt zwischen globalem Kapital und regionaler religiöser Macht, und etliches geschieht dazwischen im Verborgenen. Es ist auch die Zukunft. Welche Zukunft?
Das Kino aus Bosnien-Herzegowina, so ökonomisch marginal es am finanziellen Tropf von Staat und internationalen Ko-Produktionen auch sein mag, hat in den letzten Jahren weltweit Beachtung gefunden. Weil es unter den Bedingungen des radikalen Neuanfangs junge Talente hervorgebracht hat, und weil es gelernt hat, die Geschicke des eigenen Landes aus einer besonderen Mischung von Nähe und Distanz zu sehen. Das, was nur hier geschehen ist, und das, was überall geschehen kann.
Bruch mit Kusturica
Der realistische Minimalismus des bosnischen Kinos ist eine Möglichkeit, in satirischen Alltagsparabeln das eine oder andere an Kritik zu verstecken. Es entstand daraus eine eigene Poetik der Nuancen in der Verknüpfung von Geschichte, Alltag und (Alb-)Traum. Dazu kommen der schwarze Humor der seinerzeit populären Filme der Prager Schule in Bosnien, und insbesondere, was Emir Kusturica (Underground, Schwarze Katze, weißer Kater) anbelangt, der Einfluss der surrealistischen Traumbilder von Federico Fellini. Es ist die Fähigkeit dieses Kinos, den Alltag genau zu beschreiben und ihn doch radikal zu überschreiten.
An diesen Stil wieder anzuknüpfen, schien nach den traumatischen Erfahrungen des Krieges und nach dem Bruch mit der Kusturica-Linie fast unmöglich. Zunächst war es ein direkter und dokumentarischer Zugriff auf die historische Erfahrung, der eine neue Generation von bosnischen Filmemachern prägte, die den Krieg und die Belagerung der Stadt Sarajevo selbst erlebt hatten.
Die Filmwissenschaftlerin Irma Duraković beschreibt diese Phase: „Im Krieg formiert sich eine neue Generation von Filmemachern, zu der Žbanić, Tanović, Begić und andere zählen. In den Kriegsjahren stürzten sich alle auf Dokumentarform, viele Dokumentarfilme zeigten Alltag im belagerten Sarajevo, ein objektiver Blick auf Leben und Tod. Einer der bekanntesten dieser Dokumentarfilme ist die Trilogie MGM Sarajevo (Mensch, Gott und das Monster) von 1994. Der erste Spielfilm nach dem Krieg war Der perfekte Kreis von Ademir Kenović: Ein Mann bleibt im belagerten Sarajevo zurück, die Familie ist ins Exil geflohen. Hier entwickeln sich entscheidende Motive des bosnischen Films über den Krieg, das sind vor allem das Stadtleben im Zustand der Belagerung, traumatische Familientrennungen, das Exil. Kenovićs Film blieb lange der einzige Spielfilm der Nachkriegszeit. Der Dokumentarfilm dominierte bis 2002, als Tanovićs Niemandsland mit dem Auslands-Oscar ausgezeichnet wurde. Dieser Erfolg brachte eine neue Hoffnung für die junge, vergessene Generation von Regisseuren und Drehbuchautoren“.
Tatsächlich war No Man’s Land jener Film, der für die grausame Absurdität des Kriegs die richtigen Bilder gefunden hatte. Niemandsland erzählt die Geschichte von drei jugoslawischen Soldaten, zwei Bosniern und einem Serben, die in den Kämpfen zwischen die Fronten geraten und in einem Schützengraben auf Hilfe warten. Zunächst versuchen die feindlichen Soldaten, sich gegenseitig umzubringen. Cera, einer der beiden Bosnier, wird anfangs für tot gehalten. Man hat ihn als Falle für etwaige Helfer so auf eine Mine gelegt, dass es zur Explosion kommen muss, wenn man ihn hochhebt. Um das zu verhindern müssen die anderen beiden notgedrungen zusammenarbeiten, und da sie darüber ins Gespräch kommen, finden sie einander auch in Erinnerungen an friedliche Zeiten.
Mit dem Eintreffen der Blauhelmsoldaten und eines deutschen Minenexperten eskaliert die Situation wieder, nicht zuletzt wegen der Gegenwart der Journalisten, die auf eine dramatische Rettungsaktion drängen. Ein Happy End kann Tanović für diese Situation nicht anbieten. Am Ende sind die beiden Soldaten im Schützengraben tot, und Cera liegt immer noch auf der Schrappnellmine.
Der Film wurde mit Preisen ausgezeichnet und war bei Kritik und Publikum erfolgreich. Man wurde neugierig aufs bosnische Kino. Ein nächster Höhepunkt war Grbavica (Esmas Geheimnis) von Jasmila Žbanić, der den Goldenen Bären auf der Berlinale 2006 erhielt. Ein Film, der schon mit seiner trostarmen Stimmung verstörte: Es ist Winter, es schneit und es regnet ohne Pause und ohne Sonne. Die Kinder spielen im dreckigen Schnee, und die Erwachsenen laufen mit Schirmen und tief in die Gesichter gezogenen Mützen aneinander vorbei. Grbavica ist das Viertel von Sarajevo, das im Krieg serbisch besetzt war. Hier wohnt Esma (Mirjana Karanović) mit ihrer Tochter. Hier ist auch jenes Zentrum, in dem man den Kriegsopfern von damals eine kärgliche finanzielle Unterstützung und ein wenig psychologische Betreuung anbietet. Und hier muss sich auch Esmas Geheimnis offenbaren. Stellvertretend für das Schicksal der im Krieg vergewaltigten Frauen.
Die Grenzen der Zukunft
Bosnische Filme konnten helfen, das Leiden der Bevölkerung in diesem Krieg zu zeigen, sie konnten gegen das Vergessen angehen, und in diesem Bemühen der filmischen Bewältigung fanden sie ihre spezifische Sprache. Aber sie hatten noch eine zweite Aufgabe, nämlich aus der Vergangenheit und der direkten Konfrontation mit den Problemen der Gegenwart Fragen zu stellen nach der Zukunft. Und da stößt das bosnische Kino schnell wieder an Grenzen. Zwischen den Landesteilen ebenso wie zwischen Generationen und religiösen und traditionellen Prägungen.
„Bosnische Nachkriegsfilme“, meint Irma Duraković, „werden im serbisch dominierten Landesteil abgelehnt. Besondere Kontroversen gab es im Zusammenhang mit Filmen, die für eine patriarchalisch dominierte Gesellschaft brisante Themen behandelten – wie zum Beispiel Homosexualität in Go West. Die homosexuelle Gemeinde in Sarajevo entwickelt sich dadurch, das erweitert die Diskursgrenze. Weiterhin gab es bei Zbanics Auf dem Wegeine Kontroverse, wo radikale Religiosität, die in Konflikt mit Frauenemanzipation gerät, problematisiert wird und auf heftige Ablehnung radikalislamischer Kreise gestoßen ist.“
Im Kino zeigen sich die Brüche der noch nicht überlebensfähigen bosnisch-herzegowinischen Zivilgesellschaft. Die Wahlen des Jahres 2010 fielen so prekär aus, dass nur mühsam über Manipulationsvorwürfe und Verweigerungen ein politisches Gleichgewicht erzielt wurde. Und das Kino der Zivilgesellschaft, ein Kino, das die Augen nicht schließen will, sich aber keineswegs auf die Produktion von Elendsbildern zu beschränken gedenkt, ein zögerndes und doch selbstbewusstes Kino, gerät an die Grenzen von Tabu, Zensur und Akzeptanz, wenn es um die fundamentalen Werte oder ernsthafte Selbstkritik geht.
So bekam Danis Tanovićs neuer, vierter Film, Cirkus Columbia, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt, im Ausland viel Zuspruch. Ein Film, der vom einfachen Täter/Opfer-Narrativ abzuweichen beginnt. Im Jahr 1991 kehrt der Gastarbeiter Divko zusammen mit einer jungen Geliebten aus Deutschland nach Bosnien-Herzegowina zurück. Hier trifft er seine ehemalige Frau wieder und lernt seinen Sohn kennen. Aber das Wiedersehen ist nicht so harmonisch wie gedacht. Der Sohn begegnet ihm mit rebellischem Zorn. Die politische Situation wird immer angespannter. Und dann verschwindet Divkos Maskottchen, eine kleine schwarze Katze – ein Schlenker (einmal mehr in Richtung Kusturica, dem großen „Problem“ des bosnischen Films).
Tanović ist unter den jüngeren Regisseuren am ehesten so etwas wie ein Star. Dass sein Film in Bosnien dennoch eher auf Ablehnung stößt, hat auch damit zu tun, dass neben der Filmproduktion die anderen Teile einer Filmkultur noch gefördert werden müssen. In den Anfängen befindet sich die von Irma Duraković und Vahidin Preljević vorangetriebene Entwicklung einer kritischen Filmtheorie im universitären Bereich; die Filmkritik scheint die Produktion des eigenen Landes, nach Durakovićs Worten, wie sportliche Ereignisse zu betrachten, bei denen die Anzahl der Preise zählt.
„Es war dies“, sagt Tanović über die Zeit vor dem Krieg, in der Cirkus in meinem Leben, da ich glücklich war. Vielleicht, weil ich einfach naiv war, weil ich nicht glauben konnte, dass der Krieg kommt. Mit meinem Film will ich erreichen, dass die Menschen verstehen, wie wir uns gefühlt haben, eine Stunde vor dem Krieg.“ In der Normalität.
in der Freitag, 23.10.2011
Bild ganz oben: No Man“s Land © Arsenal
- Der Filmemacher Christoph Schlingensief – 75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand - 21. August 2015
- Jörg Maurer – Musikkabarettist und Krimiautor - 23. Februar 2014
- Notizen zum Kino in Bosnien-Herzegowina - 4. November 2011