Überraschungen

Streik im öffentlichen Verkehrswesen Italiens. Nicht mal mehr die Gondolieri sangen. Die Festivalgäste allerdings konnten fröhlich drauf pfeifen. Denn Marco Müller, der Festival-Direktor, hatte vorab einen Sondervertrag für eine Festival-Bootslinie ausgehandelt. Auf der wurde nicht gestreikt. So konnten all diejenigen, die in den etwas preiswerteren Hotels und Pensionen in der Stadt logieren, die Filmschau problemlos besuchen.

Böse Überraschung: Der so genannte „Film sorpresa“, ein erst heute morgen bekannt gegebener Wettbewerbsbeitrag, konnte nur mit Schwierigkeiten gezeigt werden. Die erste Vorführung am Morgen musste ausfallen, denn es gab nur eine Version ohne die passenden italienischen und englischen Untertitel. Die zweite am Abend – mit den richtigen Untertiteln – musste unterbrochen werden, weil sich plötzlich ekliger Gestank im Kino breit machte. Der Grund: Ein Scheinwerfer samt Kabel schmorte, und die Lüftungsanlage verteilte den Geruch im ganzen Saal. Nach einer Pause wurde die Vorführung zwar fortgesetzt, doch der Aufnahme des Films war das natürlich nicht gerade dienlich. Und der chinesische Spielfilm bietet starken Tobak: Regisseur Cai Shangjun schildert die absolut furchtbaren Lebensumstände so genannter kleiner Leute in der Provinz. Ein Mord geschieht. Die Polizei weiß zwar schnell, wer die Tat begangen hat, doch der Verbrecher flieht. Von Rachedurst getrieben macht sich ein Bruder des Opfers auf den Weg, um den Täter aufzuspüren. Die Reise führt ihn direkt ins Reich der Finsternis.

Der Titel des Films „Ren Shan Ren Hai“ (People Mountain People Sea) ist, so sagt es das Werbematerial, ein stehender Begriff in China. Er meint so etwas wie „Menschenmassen“ oder „Volksauflauf“. Damit ist klar, dass die an sich kleine Geschichte auf eine Spiegelung größerer Zusammenhänge zielt. Vermutlich sehen die chinesischen Machthaber das nicht gerade gern. Denn hier wird kein Bild einer aufstrebenden Nation, so wie es die öffentliche Propaganda gern offeriert, angeboten. Im Gegenteil. „People Mountain People Sea“ ist ein pechschwarze Mär von Vereinsamung, Verelendung und Verrohung der Menschen unter dem Diktat völliger Profitgier. Gut möglich, dass die Jury diesem düsteren Panorama gewöhnlichen Alltags einen der Hauptpreise zuspricht.

Einen Regiepreis könnte Andrea Arnold für ihre x-te (gefühlte zweihundertste) Adaption des berühmten, zweifellos zur Weltliteratur gehörenden Romans „Wuthering Heights“ (Stürmische Höhen/ England) bekommen. Vollkommen auf Musik verzichtend, die ja sonst gern zum Aufpeitschen der Emotionen genutzt wird, erreicht sie dennoch eine ungemeine Spannung. Die Geschichte vom Findelkind Heathcliff, das in einer armen Bauernfamilie zunächst fürsorglich aufgenommen, dann als Arbeitstier ausgebeutet wird, und schließlich an der Liebe zur Bauerntochter, die schließlich vermögend heiratet, verzweifelt, ist zwar im historischen Kontext belassen worden, wirkt jedoch absolut heutig. Den aktuellen Bezug unterstützt Andrea Arnold, indem sie Heathcliff in einen Farbigen verwandelt hat. Mir persönlich ist das etwas zu vordergründig, aber, ja, es ist wirkungsvoll. Noch so ein Film, über den sich beim meist fast einstündigen Schlangestehen vor Beginn der Vorführungen gut streiten lässt. Da wär’ man gern mal Mäuschen bei der Jury-Diskussion.

 

Peter Claus aus Venedig, 6. September 2011

Bild: People Mountain People Sea (la Biennale di Venezia © 2011)