Bilder-Welten und Gegen-Bilder
I
Eine DVD, warum auch nicht, dient erst einmal der Unterhaltung. Sie ist eine Ware. Sie kommt als Teil eines Verwertungszyklus über uns: Kino – Bezahlfernsehen – Leih-Disc – Kauf-Disc – Free TV – Special Price – Uncut Version – Grabbeltisch – Werbegeschenk. Immer schneller dreht sich dieser Kreis. Wofür du heute dein ganzes Taschengeld hergegeben hast, willst du morgen schon beinahe nicht mehr geschenkt. Und wie es so mit Waren geht: Der rapide Wertverlust hat eine wirtschaftliche und eine kulturelle Seite. Was es mit dem „tendenziellen Fall der Profitrate“ und den Folgen für den Markt auf sich hat, kann man beim ollen Marx nachlesen (oder einfach diesen Markt mal nicht mit gierigen, sondern mit kritischen Augen anschauen), die kulturelle Seite aber müssen wir unter uns ausmachen.
Denn eine DVD ist auch noch etwas ganz anderes als eine Ware, nämlich ein wichtiges Dokument unserer Kultur und unserer Kulturgeschichte. Und das gilt, den nötigen Respekt vorausgesetzt, für die anerkannte Filmkunst genau so wie für einen sexploitation-Thriller aus den siebziger Jahren, oder für Heimat-, Ideologie- und Wohlfühlfilme aus beiden Teilen Deutschlands. Die DVD ist also das Paradox einer Sache, die einerseits immer weniger und andererseits immer mehr wert wird.
Als Konsument kann man sich natürlich freuen, wenn man wieder einmal einen Godard, einen Ford, einen Chaplin oder auch einen Fulci, einen Reinl, eine „Sandmännchen“-Kompilation aus dem Wühltisch des örtlichen Kaufhauses rettet. Die Leute dort haben natürlich nicht die geringste Ahnung, welche Schätze sie da zum Mitnahmepreis anbieten, gleich neben der Neuerscheinung zum Überpreis. Und da kriegt selbst der cineastische Jäger und Sammler in dir oft ein mulmiges Gefühl: Seit es die DVD gibt hat die Filmgeschichte ein gewaltiges Gedächtnis. Nicht viel geht mehr verloren, alles taucht irgendwo irgendwie wieder auf. Aber dieses enorme filmgeschichtliche Gedächtnis hat so gut wie kein Bewusstsein, hat wenig Struktur und noch weniger Kultur. Vielleicht wären manchmal ein paar Schnäppchen weniger und ein bisschen Pflege des Sortiments, etwas Kenntnis und Information besser; vielleicht müssen wir den kulturellen Wert dieses digitalen Film-Gedächtnisses dann doch immer wieder selber organisieren. Mit eigenen Märkten zum Beispiel, auf denen wir nicht Wegwerfwaren sondern Filmdokumente kaufen, tauschen und kritisieren, die uns in der einen oder anderen Weise etwas sagen.
Nicht alle DVD-Projekte können die Zyklen der Vermarktung vom teuren Start-Produkt bis zum Super-Sonderangebot mitmachen. Projekte zum Beispiel, die von vornherein für ein aufgeschlossenes cineastisches Publikum bestimmt sind, liebevolle (und daher auch nicht gerade billig produzierte) Kompilationen, restaurierte Filme, Filme, deren Bonus-Material über die bekannten „Making Of“-, „Featurette“-, Lobhudel-Interviews und Trailer-Beigaben hinausgehen, Filme, die nicht unbedingt sensationell sind, aber doch viel zu schade, um sie dem Vergessen preiszugeben – all das kann nicht auf dem Ramschtisch landen, weil das nicht nur eine ökonomische sondern auch eine kulturelle Katastrophe bedeutet.
Eine DVD-Sammlung, das ist wie eine Bibliothek. Etwas sehr persönliches, sehr wertvolles, egal, was es gekostet hat. Und ganz und gar unabhängig vom ständigen Wechsel zwischen Neuerscheinung und Ramschaktion.
II
Also ein Beispiel: Im Jahr 1996 gab Claus Löser zusammen mit Karin Fritzsche das Buch „Gegenbilder – Filmische Subversion in der DDR 1976 – 1989″ heraus, und dazu entstand eine DVD-Kompilation mit einem ähnlichen Titel „Gegenbilder – DDR-Film im Untergrund 1983-1989″. Es sind Dokumente einer Film-Kultur, die es so eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, gleich weit entfernt von der Zensur- und Befreiungsgeschichte der DEFA-Filme wie vom staatlich oder betrieblich kontrollierten Amateurfilmschaffen der DDR (dem man gleichwohl auch einmal ein Forschungs- und Sammlungsprojekt widmen sollte, was vermutlich gleichermaßen amüsant und aufschlussreich ausfallen würde).
Underground-Filme aus der DDR! Hat es so etwas gegeben? Einerseits natürlich: ja, und ob. Noch mehr als im Westen hat das andere Kino in der DDR aus dem technologischen Mangel seine Haupttugenden gemacht. Es gibt eben Dinge, die man mit Super 8 machen kann und andere nicht. (Die Video-Technik hat man in der DDR dem Volk wohlweislich gar nicht erst zur privaten Nutzung überlassen.) Hier wie dort wird das raue, unfertige und abstrakte betont. Man zerkratzt das ohnehin schon ramponierte Material, man macht sich die Belichtungsprobleme zum Thema (auf Super 8 ist die Welt eine Mischung aus Zufall und Horror). Und was man im Westen oft nur als ästhetische Pose riskiert, das ist beim DDR-Untergrund natürlich nichts anderes als ein Zwang, nämlich dass ein echter Underground-Filmer so tut, als hätte es die gesamte Filmgeschichte gar nicht gegeben und man hätte den Film gerade eben selbst erfunden. Bei allen Unterschieden verblüfft dann doch wieder die innere Verwandtschaft von Experimentalfilmen Ost und West. Im Guten wie im Schlechten. (Zum Schlechten gehören einerseits der bemühte Kunst-Anspruch, der oft genug dem schnellen, direkten Medium Schmalfilm die eigentliche Stärke, nämlich die sinnliche Nähe, die radikale Subjektivität nimmt, und andrerseits das ständige Suchen nach Vorbildern, wenn nicht im zeitgenössischen Kino, dann vielleicht bei den alten Expressionisten, bei einst avantgardistischen Fotografen und Malern, die Sehnsucht nach der DaDa-Renaissance.) Eine Entdeckung sind die meisten unter zehn Minuten kurzen Filme auf dieser DVD allemal. Zur Neuauflage im letzten Jahr hat absolut Medien zusätzlich eine ausgesprochen informative Dokumentation von Cornelia Klauß mit dem Titel „Die subversive Kamera“ beigefügt.
Mindestens genau so interessant wie die Filme sind auch die Biografien ihrer Autoren und Autorinnen. Die meisten von ihnen haben nicht im Kino sondern in der Bildenden Kunst ihre neue Heimat gefunden, sie sind Kritiker und Kuratoren geworden wie Claus Löser selbst, der als ehemaliger Filmemacher zum Gründer des Archivs für den „Experimentalfilm Ost“ wurde, oder man verlegt sich vom Filmen auf die Literatur. Wie man als ehemaliger Undergroundfilmer der DDR in der Kinokultur von Gesamtdeutschland scheitern kann, demonstrierte Thomas Frydetzki mit seinem „Max und Moritz Reloaded“ aus dem Jahr 2005. Offensichtlich haben sich „Subversion“ und „Provokation“ nicht wirklich von einem System ins andere übersetzen lassen. Die Gegen-Bilder aus der DDR sind in der gesamtdeutschen Bilderkultur nicht wirklich angekommen. Noch nicht.
III
Claus Löser ist auch Kurator der Retrospektive der diesjährigen Berlinale. Unter dem Titel „Winter Ade“ (natürlich bezogen auf den berühmten Vor-Wende-Film von Helke Misselwitz) werden Filme aus den osteuropäischen Ländern und der DDR vorgestellt, in denen sich auf sehr unterschiedliche Weise Zorn und Sehnsucht finden zu einer Art cineastischen Vorahnung des Zusammenbruchs. Auch hier gibt es ein paar filmgeschichtliche Lücken zu schließen, auch hier kann man sehen, wie auch unter schwierigsten Bedingungen Gegen-Bilder entstehen. Sie sind im Nachhinein sogar dann wichtig, wenn sie die Zensur, wie im Fall der DDR, für Jahre weggesperrt hat. Das ist nicht nur Geschichte, das ist auch eine Probe für die Zukunft: Ein paar Gegen-Bilder wären verflixt hilfreich, hier und heute. Die „Winter Ade“-Filme werden im Anschluss an das Festival auch an anderen Orten zu sehen sein, hier und dort begleitet von Regisseuren und Kritikern. Und vielleicht werden einige von ihnen auch ihren Weg in die eine oder andere DVD-Sammlung finden. Denn auch das kann eine DVD-Bibliothek sein: Eine Sammlung von Gegen-Bildern.
Autor: Georg Seeßlen und Markus Metz
Text: veröffentlicht in FILMSPIEGEL 02/ 2009
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