Oi fuck you, Identitätspolitik

Eine hübsche britische Komödie über Alltag, Religion und Wahnsinn

In der ersten Einstellung sehen wir Mahmud vor dem Fernseher. Die Nachrichten über einen extremistischen Prediger  nerven ihn, da schaltet er lieber um auf den New Romantic-Elektropop eines gewissen Gary Page, der wohl in den achtziger Jahren ein großer Star zu werden versprach. „Close My Eyes“ singt er. Was das für eine Art von Umschalten war, verstehen wir erst am Ende des Films.

Mahmuds Familie ist genau wie man sich das so vorstellt, bei kleinbürgerlichen Pakistanis in London zuhause. Die Familie ist lebhaft und mehrkulturell, es gibt verschleierte und nicht verschleierte Frauen, Zeichen von Traditionalismus, Zeichen von Moderne, und Zeichen des universalen kleinen Ordnungsglücks in der Familie. Die kleinen Kinder spielen Dschihad mit dem Plastikschwert, so wie Bart Simpson „Star Wars“ spielt. Überhaupt: die Simpsons. Der Autor David Baddiel behauptet, seine Hauptfigur, der Kleinbürger Mahmud, gespielt von Omid Djalili, habe etliche Züge mit Homer Simpson gemein. Die Klassenlage, die Lust auf die kleinen Freuden des Lebens, Statur und Haar- Mangel und das wohlig Familiäre passen schon mal. Doch kaum hat Mahmud sein turbulentes Zuhause verlassen, geht der Ärger auch schon los und überschreitet bald das gewöhnliche Maß von Rassismus, Überlebenskrieg und Alltag (jeder Opfer und jeder auch Täter, so ist das nun mal). Sein Autor David Baddiel schickt Mahmud nämlich dorthin, wo man als Kino-Figur gerne gerät. In eine Identitätskrise. Aber die ist diesmal wirklich einigermaßen, tja, fundamental: Mahmuds Mutter ist gestorben, in ihrem Nachlass findet er statt einer Geburts- eine Adoptionsurkunde, und es kommt noch schlimmer. Mahmuds, des nicht gerade strengen aber doch von Herzen gläubigen Muslims Geburtsname ist Shimshillewitz. Solomon Shimshillewitz!

David Baddiel ist einer dieser multimedialen Komik-Talente, die es scheinbar nur in England gibt: Comedy Shows im Radio und im Fernsehen, Kolumnist für den Literaturteil von The Times und Esquire, Theater-Schauspieler und Roman-Autor (auf deutsch sind „Ab ins Bett“ und „Was man so Liebe nennt“ zu haben, wie alle seine Bücher ein Woody Allen/Philip Rothsches Mäandern zwischen unglaublich komischen und unfassbar melancholischen Aspekten), und ein Dokumentarfilm über die Entschädigung der Opfer des Holocaust steht auch auf seiner Werkliste. High & Low, das Leichte und das Schwere, Anspruch und Unterhaltung, bei so einem ist das alles kein Widerspruch. 2009 begannen die Arbeiten für seinen ersten langen Spielfilm als Drehbuchautor, „The Infidel“, der jetzt endlich auch in unsere Kinos kommt. Inszeniert hat ihn Josh Appigagnanesi, der mit einer ziemlich dunklen Fabel aus dem Leben einer jüdisch-orthodoxen Familie in London (mehr oder weniger) bekannt wurde „Song of Songs“ (2006). So düster, dass es kaum auszuhalten ist. Klar, dass „The Infidel“ eher als Baddiel-Film herumkommt, aber unter uns Film-Freaks: Der Regisseur dieses Films ist nicht unwichtig!

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52 Filmkritiken, geschrieben und veröffentlicht in den Jahren 2010 bis 2013, bieten Einblicke und Ansichten, vermitteln Zusammenhänge und Perspektiven.
Das Thema der Filmkritik ist das Filmesehen. Und Filmesehen ist eine Kunst. Und Georg Seeßlen versteht davon eine ganze Menge. Seine kompetente Übersetzung des audiovisuellen Mediums Film in Sprache ist tiefgründig, vielschichtig und bezieht aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit ein.
Gehen Sie mit Georg Seeßlen auf eine Reise in die Filmgeschichte. Eine Reise in Zeit und Raum.

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Was man von „The Infidel“ gleich sagen kann: Er ist wirklich sehr komisch. (Die Baddielsche Melancholie wie die Appigagnanesi-Düsternis sind aber trotzdem keineswegs vollständig verschwunden.) Und ja – obwohl alle Beteiligten zu Recht betonen, „The Infidel“ sei kein message movie – man kann hier was lernen. Über kulturelle und religiöse „Identität“ und darüber wie sie erzeugt oder eben nicht erzeugt wird. Über Identitätspolitik im Alltagsleben. Und über das, was man so Anpassung nennt. „Jesus“ seufzt der Muslim, „Christ“ flucht der Jude, und der Gospelchor jubiliert vor dem Einwohnermeldeamt über jungfräuliche Geburten.

Da spukt etliches Autobiographisches: Baddiel (der übrigens, wie der zweite „Held“ dieses Films, in den USA geboren wurde) und der sich als „jüdischer Atheist“ bezeichnet, war davon überzeugt, dass seine Mutter Sarah, in Nazi-Deutschland geboren und 1939 nach England auf der Flucht mit ihren Eltern gekommen, von einer anderen Familie adoptiert worden war. Der jüdische Junge wurde als Kind verprügelt, weil man ihn für einen Pakistani hielt, und später, am Beginn seiner Comedian-Karriere, erhielt er die Ehrenbezeichnung eines „talentierten indischen Komikers“. Von allen Klischees des „jüdischen Humors“ erfüllt David Baddiel auch das letzte, nämlich dass sich niemand so wundervoll über die Klischees des „jüdischen Humors“ lustig machen kann.

Okay, ohne allzu viel zu verraten: Mahmud findet seinen leiblichen Vater, Mr. Shimshillewitz, sterbend in einem Altersheim. Der Rabbi will ihn, vielleicht eher aus medizinischen als aus religiösen Gründen, nicht zu ihm lassen, wenn er sich nicht wenigstens grundlegend mit dem Judentum vertraut gemacht hat. Der Taxifahrer Sam Goldberg, mit dem Mahmud gerade noch erheblichen Zoff gehabt hat, wird sein Mentor (nachdem er ihm in voller Verzweiflung erklärt hat, warum er gar nicht in der Lage ist, antisemitisch zu sein: „I’m a fucking jew!“), Mahmud lernt Jüdisch-Sein vor dem Spiegel, mit „Fiddler on the Roof“ und Philip Roth (und mit einem Buch über die tollsten Krankheiten dieser Welt), und dann tritt er sogar noch als komischer Geschichtenerzähler bei einer Bar-Mizvah auf. Aber zur gleichen Zeit wo er ein bisschen Jude wird, muss er auch ein „echter“ Muslim werden, weil sein Sohn die Ziehtochter des fundamentalistischen Klerikers Arshad Al-Masri heiraten will, dessen Mahnung „der wahre Muslim vermeide jeden Kontakt mit Ungläubigen“ noch das Harmloseste ist, was er so von sich gibt. Man kann Mahmud dabei zusehen, wie er sich buchstäblich verrenken muss.

Omid Djalili, der Comedian mit den iranischen „Wurzeln“, der im Kino gern als der zweite (der komischere) von den „arabischen Bösewichten“ eingesetzt wird, spielt diese doppelten Aneignungen von Zeichen der Zugehörigkeit zumeist sehr genau, und es ist schon genial, wie er muslimische und jüdische Zeichen, Kleider, Gesten, Worte, Kappen übereinander stülpt, wie Häutungen eines Menschen mit den unterschiedlichsten „Identitäten“. Und immer wieder ahnt man: Die gleiche Geschichte hätte man ebenso auch als furchtbare Tragödie erzählen können.

Aber Komödie ist immer besser, denn Komödie heißt: die kleinen Dinge sehen. Was nun eine Rolle spielen wird: eine Palästina-Demonstration, jüdische und arabische Kopfbedeckungen, „sexuelle Identität“ (und wie man diesbezüglich den Koran auslegen kann), „islamistische“ Internetseiten, neue Freundschaft und alte Traditionen, Bollywood-Hochzeitsträume, Gary Page und das alte Lied von den geschlossenen Augen, noch ein Identitätswechsel, und so weiter. Aber eigentlich ist das Interessante das Zusammenspiel dieser vielen kleinen Bilder, Zeichen und Riten, mit denen „Identität“ konstruiert und bestätigt wird, und die so komisch werden, wenn auch nur ein Element dabei irgendwie widerborstig wird. Das ist schon manchmal ziemlich hintersinnig, etwa wenn Mahmud endlos und vergeblich versucht, richtig jiddisch „oi“ zu sagen, und es erst schafft, als er vollkommen erschöpft ist, und eben die jüdische Erschöpfung mit dem Cockney-Wort  „oi“ für „I“ zusammenfällt. Ich ist ein anderer kann man komischer kaum sagen, und „Weh mir“ auch nicht.

Ein Film mit so einem Plot könnte zweierlei sein: Ein „herrlich inkorrekter“ Schenkelklopfer, der damit punktet, dass „beide Seiten“ (und noch ein paar Seiten mehr, wie man es nimmt) „ihr Fett weg bekommen“, oder er könnte eine „multiethnische Feelgood-Komödie“ sein, die „für Toleranz plädiert“ und „das Menschliche siegen“ lässt. Beides ist in aller Regel gleich eklig, und ich will nicht behaupten, dass „ The Infidel“ von beidem vollkommen frei ist. Aber das ist eben nicht der Punkt in diesem Film. Dazu ist er dann doch immer wieder zu genau und zu achtsam. Er dekonstruiert „Identität“ nicht auf komische Weise, sondern, in seinen Details, seinen Beobachtungen am Rande und zwischendurch, zeigt er, dass Identität etwas unglaublich Komisches ist. Weil Identität nämlich etwas ist, was es gar nicht gibt (außer eben: man „macht“ sie), wonach aber Menschen der unterschiedlichsten Art so gierig sind, dass sie dabei verrückt werden können. Und böse. Das, wie gesagt, ist im Alltag ausgesprochen komisch, auch wenn es, was die Liebe, die Freundschaft oder die hohe Kunst, einen angenehmen Abend zu verbringen, empfindlich stören kann. Diese Mischung aus Komischem und Melancholischem aber hat ein Ende, wo diese verrückte Sehnsucht nach Identität zur Politik wird. Dort, bei den Thilo Sarrazins und Masris dieser Welt, hört das Lachen auf. Und bei der Entlarvung des Hasspredigers wird der Film auch seinem Vorsatz, kein message movie zu werden, ein bisschen untreu.

Im Gegensatz zu einer guten Comedy Show nämlich muss ein Spielfilm „im großen Bogen“ zu Ende geführt werden, und aus einem Schlamassel wie dem, in das Bardiell seinen Helden geführt hat, kommt keine Kino-Figur dieser Welt ohne eine Portion Drehbuch-Papier-Konstruktion, Pathos und Sentimentalität wieder heraus. Aber was soll’s? Die letzten Einstellungen gehören dann wieder ganz der Detail-Komik, mit der uns „The Infidel“ so reich beschert hat. Amen und Inschallah.

© Georg Seeßlen

erschienen in spex # 333

Bilder: Senator