Die „Karte des Möglichen” muss neu gezeichnet werden
„Le Monde Diplomatique” nennt ihn den derzeit bedeutendsten Theoretiker Frankreichs. Wer ist Jacques Rancière, der erst als pensionierter Professor richtig bekannt wurde?
„Der unwissende Lehrmeister” ist vielleicht das eingängigste und sicher das ausgefallenste Buch des französischen Denkers Jacques Rancière. Es handelt von einem einfachen französischen Schullehrer, Joseph Jacotot, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine flämischsprachige Klasse dazu brachte, Französisch zu lernen, obwohl er selber kein Wort Flämisch verstand und seine Schüler kein Französisch. Sein Trick: Er trieb ein zweisprachig gedrucktes flämisch-französisches Buch auf, mit dem sich seine Schulklasse die französische Sprache quasi selber beibrachte. Getrieben war Jacotot von einem heiligen Eifer für eine intellektuelle Emanzipation und Revolution der Pädagogik. Seine drei Grundsätze waren: Alle Menschen sind gleich intelligent; jeder Mensch hat die Fähigkeit, sich selbst etwas beizubringen; alles ist in allem enthalten.
Im Verlauf seines Buches lässt Rancière die Grenzen zwischen sich und Jacotot immer mehr verschwimmen, bis man oft kaum noch weiß, wer von beiden spricht, und die beiden über die Jahrhunderte hinweg eins werden. Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn schrieb 2007, nachdem er „Der unwissende Lehrmeister” gelesen hatte: „Dieses Buch verwickelt mich ganz direkt in die gleissende Zeit, in der ich hier und heute lebe.” Und: „Jacques Rancière bringt alles wieder ins Spiel… er verteilt die Karten neu”, er „gibt mir die Kraft, meine ewige Flamme weiterhin für die Kunst brennen zu lassen”.
Radikales Gleichheitsgebot
Im Hintergrund dieser Aussage brannten damals erneut die französischen Vorstädte. Hirschhorn deutete diese Wut der Jugendlichen, ebenfalls mit Rancière als Zeichen dafür, dass das Feuer der Egalité, die von der Französischen Revolution herrührende Forderung nach bedingungsloser Gleichheit also, an den Rändern der französischen Gesellschaft neu am Auflodern sei. Alles ist in allem enthalten.
Wer ist dieser Rancière, der mit einem Buch über einen exzentrischen Pädagogen aus dem 19. Jahrhundert nicht nur Hirschhorn, sondern die halbe zeitgenössische Kunstwelt elektrisierte? Der darüber hinaus die politische Theorie, aber auch die Geschichtswissenschaft mit verwegenen neuen Gedanken fütterte? Geboren wurde er 1940 in Algerien. Seine intellektuelle und akademische Laufbahn begann er in Paris als Schüler von Louis Althusser, ab 1969 lehrte er an der Universität Paris VIII Philosophie und Kunsttheorie, seit 2000 ist er emeritiert. Er publiziert viel und wird seit ein paar Jahren auch im deutsch- und englischsprachigen Raum vermehrt wahrgenommen. „Der emanzipierte Zuschauer”, „Ist Kunst widerständig?”, „Das Unvernehmen”, „Die Politik der Bilder”, „Der Philosoph und seine Armen” und neu die Artikelsammlung „Moments politiques” sind nur eine kleine Auswahl seiner auf Deutsch erschienenen Titel.
Niemand ist dumm
Was sich durch alle von Rancières Texte zieht, ist ein folgenreiches Einstürzenlassen von Hierarchien aller Art: zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Arbeitern und Dichtern oder Philosophen, zwischen Kunstwerken und ihren Betrachtern. Gleichheit soll nicht Ziel, sondern Voraussetzung jeder echten Auseinandersetzung sein. Dazu kommt eine grundlegende Skepsis gegenüber jeder Art von Konsens und anderen vermeintlichen Gewissheiten. Sei dies nun die mittlerweile bis in breite linke Kreise „anerkannte Tatsache”, dass Einwanderung ein Problem sei, dass die breiten Massen dumpf und träge seien, dass unsere westlichen Demokratien das bestmögliche politische System darstellten oder dass Arbeiter keine intellektuellen Ambitionen hätten.
Dem hält Rancière sein radikales Gleichheitsgebot entgegen, das verhindern will, dass jemand behauptet, über „der Masse” zu stehen, und sich das Recht herausnimmt, diese für dumm zu verkaufen. In die Praxis übersetzt, könnte das durchaus heissen, dass die Medien nicht mehr länger einem von ihnen selbst konstruierten Durchschnittsleser oder -zuschauer zudienen und für ihn möglichst simpel gestrickte Texte und TV-Sendungen produzieren, über die sie sich selbst lustig machen. Mit Rancière im Hinterkopf müssten sie bei ihrer Arbeit stattdessen davon ausgehen, dass die Medienkonsumenten genauso schlau (oder dumm) sind wie sie selbst. „Unwissende Lehrmeister” treffen auf „emanzipierte Zuschauer”.
DieVerwalterin von Unsicherheiten
Was die Ausländer- und andere politischen Fragen angeht, registriert Rancière einen bereits in den 70er-Jahren einsetzenden Rechtstrend in Europa, eine Reaktion auf 1968, der sich nicht nur im Erstarken eindeutig rechtsnationaler Parteien wie Front National, Freiheitspartei und SVP niederschlägt, sondern den parlamentarischen Betrieb und die Gesellschaft als Ganzes prägt. Rancières Fazit ist eindeutig: Die Politik ist quer durch alle Parteien zur Verwalterin von Unsicherheiten geworden, zur Polizistin, die eine herrschende Ordnung verteidigt und mit viel Aufwand verhindert, dass die bestehende Eintracht herausgefordert wird, sei das nun von innen oder von den Rändern der Gesellschaft her. Dabei wird bewusst verdrängt, dass es nach wie vor die massiven und globalen Unterschiede zwischen Arm und Reich sind, die uns tatsächlich verunsichern sollten.
Auf schweizerische Verhältnisse übertragen würde dies bedeuten, dass die SVP eben gerade nicht ein besonders offenes Ohr für die Alltagssorgen der Menschen hat, sondern dass sie den Fremdenhass, die Verunsicherung und die Angst, mit der sie Politik macht, in jahrelanger Arbeit selbst hergestellt hat. Die „islamistische Bedrohung” zum Beispiel wurde mit viel Aufwand konstruiert, um daraufhin mit vorgefertigten „Lösungen” wie dem Minarettverbot Stimmen zu machen und so die selbst geschürte Unsicherheit gewinnbringend weiter zu verwalten.
Von der Kunst lernen
Gibt es einen Ausweg aus diesem Kreislauf? Für Rancière ist es die Weigerung, in herkömmlichen Identitätskategorien „Intellektuelle”, „Arbeiter”, „Ausländer”, „Künstler”, „Schweizer” zu denken. Dem hält er in „Moments politiques” entgegen: „Es gibt Politik in dem Augenblick, in dem man ein Beliebiger ist.” Auch soll echte Politik wieder radikal als „Bühne des Dissens” begriffen werden, die den neoliberalen Konsens und seine Dogmen aufbricht und auf der Widersprüche und „Unvernehmen” regieren, kein ständiges Einstimmen in Kompromisse und Einigkeit.
Genau hier verortet Rancière auch eine intime Verwandtschaft zwischen Kunst und Politik. Beide haben die Fähigkeit, „die Karte des Möglichen neu zu zeichnen” und uns zu ermöglichen, „ein anderer” zu sein. Nicht nur lassen sich mit einem Schlag die Diskussionen über politische und unpolitische Kunst erledigen, da so gesehen jede Kunst politisch ist, sondern man könnte sich im Gegenzug vorstellen, über eine Politik nachzudenken, die, anstatt Polizei zu spielen, die Möglichkeiten der Kunst nutzt. Keine der bestehenden Parteien könnte überzeugen. Rancière würde das vermutlich gefallen.
Daniela Janser
Erschienen in Tages-Anzeiger (27.07.2011)
Bild: CC BY-SA (Jacques Rancière at a conference held in the Universidad Internacional de Andalucía, in Seville, Spain in 2006. By Saibo)
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