Die Ägypter sind auf das Mitleidstheater des Ex-Diktators nicht hereingefallen. Für die kollektive Psyche des Landes ist das ein riesiger Schritt

Herr al-Khamissi, am Donnerstag begann der Prozess gegen Husni Mubarak. Der Exdiktator wurde liegend in den Gerichtssaal der Kairoer Polizeiakademie geschoben. Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt?

Khaled al-Khamissi: Zu Hause vor dem Fernseher, wie die meisten Ägypter.

Hatten Sie damit gerechnet, dass Mubarak bei dem Prozess gegen ihn anwesend sein würde?

Ja, da war ich mir ganz sicher.

Warum? Die meisten fürchteten bis zu seinem Auftritt, dass er zu krank wäre, um zu erscheinen.

Seit dem Fall von Mubarak am 12. Februar hat der Oberste Rats der Streitkräfte eine sehr klare Politik verfolgt. Um mit „der Straße“ in Kontakt zu bleiben, hat er sich selbst stets zum Vertreter der Revolution erklärt. Dabei wollen die Militärs alles andere als ein demokratisches politisches System. Doch um ihre Legitimität nicht zu verlieren, verhaften sie seit Monaten Mitglieder des alten Regimes und wagen sich sukzessive an immer mächtigere Leute ran. Diese Steigerungslogik musste damit enden, dass der ehemals mächtigste Mann von Ägypten vor Gericht gestellt wird.

Hatten Sie auch damit gerechnet, dass Mubarak in der Horizontale, als schwacher, gedemütigter Mann erscheinen würde?

Ja. Das ist absolut logisch. Er spielt Theater, um das Mitleid der Massen zu erregen.

Wer hat entschieden, dass er auf diese Weise vorgeführt würde?

Er und seine Ärzte.

Mubarak ist also nicht so krank?

Ach was, Mubarak hätte genauso gut in den Gerichtssaal laufen können.

Auffällig waren seine frischgefärbten schwarzen Haare.

Genau! Auf Facebook wurde schon seit Tagen spekuliert, ob er vielleicht grau erscheinen würde, um seine Gebrechlichkeit zu unterstreichen. Das war ihm offensichtlich zu viel des Guten. Egal, das Wichtigste ist, dass die Mitleidstour nicht funktioniert hat.

Was war das vorherrschende Gefühl?

Dass es ein historischer Moment ist. Für mich persönlich ist es ein fantastischer Moment! Er wird die kollektive Psyche in unserem Land und damit auch das politische System der Zukunft umkrempeln.

Inwiefern?

Mubarak und alle Menschen mit Macht und Geld waren für die meisten Ägypter fast wie Heilige. Sie waren unangreifbar, egal was sie machten. Sie durften einfach alles, auch morden; für 70 Prozent der Ägypter war das normal. Das ist vorbei. Jetzt wissen alle, dass jeder angreifbar ist. Auch wenn der Prozess rein politisch gesehen gar nicht so viel bringen wird, psychologisch ist er ungeheuer wichtig, damit ein neues Ägypten entstehen kann.

Sie sind optimistisch, dass die Demokratisierung vorangehen wird?

Sagen wir so: Ich überzeugt davon, dass die Ägypter weiter für die Demokratie auf die Straße gehen werden. Das müssen wir auch, denn der Militärrat verabschiedet ein Gesetz nach dem anderen und keines davon ist im Sinne der Revolution. Es fehlt jede Transparenz. Wer macht diese Gesetze überhaupt, mit welchem Recht? Das weiß hier keiner. Deswegen haben wir seit dem 8. Juli eine zweite riesige Welle des Protests.

Was muss passieren, damit der Militärrat nicht das alte System fortsetzt – nur eben ohne Mubarak und Söhne?

Die große Gefahr jetzt ist, dass viele glauben, mit der Verurteilung Mubaraks bräche die Demokratie an. Das ist genau falsch, denn im Moment nutzt seine Verurteilung vor allem der Nomenklatura des Militärs.

Will die Mehrheit der Ägypter die Todesstrafe für Mubarak?

Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, solange Mubarak nicht freigesprochen wird, wird die Mehrheit der Ägypter das Urteil akzeptieren, unabhängig davon, wie die Strafe ausfällt. Anders als ich trauen die Leute diesem Gericht.

Und Sie, wollen Sie die Todesstrafe für den Exdiktator?

Mir ist das Urteil total egal. Ich will, dass wir ein demokratisches Wahlsystem kriegen, dass Gewerkschaften zugelassen werden und noch vieles mehr. Nur darum geht es. Prinzipiell lehne ich die Todesstrafe ab. Aber politisch gesehen ist es nur wichtig, dass Mubarak verurteilt wird. Wozu auch immer.

Während der Verhandlung gab es ziemlich viel Geschrei und Chaos. Macht Sie das besorgt?

Nein, das erstaunt nur Ausländer. Bei uns ist so ein Durcheinander vor Gericht normal.

Trotzdem trauen Sie dem Gericht nicht. Wäre es besser, es gäbe internationale Beteiligung bei der Urteilssprechung?

Auf keinen Fall. Während der dreißigjährigen Amtszeit von Mubarak war Ägypten de facto eine Kolonie der Amerikaner. Dass jetzt Ägypter über Mubarak richten, bedeutet das Ende der Kolonisierung. Und das ist wichtig, auch wenn ich es für fatal halte, dass das Militär – das immer noch von den Amerikanern kontrolliert wird – durch die Verurteilung Mubaraks seine Macht weiter ausbauen wird. Aber aus dem Widerspruch kommen wir im Moment nicht raus.

Sind die kommenden Wahlen eine Möglichkeit, das Militär zu schwächen?

Man weiß ja noch nicht, wann diese genau stattfinden werden. Bislang werden keine Termine bekannt gegeben. Entscheidend ist einfach, dass die Demonstrationen weitergehen, dass die Leute nicht vergessen, dass a) die meisten ihrer Forderungen noch nicht auf den Weg gebracht wurden und dass wir b) sicher noch vier oder sechs Jahre brauchen werden, damit ein neues Ägypten wirklich entstehen kann. Wir hatten bislang eine Revolution ohne Führer, ohne politisches Programm, ohne Parteien. Die Frage ist nun, ob sich die soziale Revolution in eine politische Revolution übersetzen kann. Dafür brauchen wir eine politische Intelligenzia – und die fehlt in Ägypten noch. Aber sie wird sich in den nächsten drei, vier, fünf Jahren entwickeln. So viel ist sicher.

Interview: Ines Kappert

Khaled al-Khamissi, geb. 1962, ist Schriftsteller und lebt in Kairo. International berühmt wurde er mit seinem Roman Im Taxi. Unterwegs in Kairo (Lenos 2011). Immer wieder thematisiert er die Belange der Armen.