Im Würgegriff der Diabolie

Vierter und letzter Teil einer Reise in die Welt der neuen deutschen Kindheits- und Jugendromane

Zwei mächtige Feinde

Heinz Strunk hat mit Heinz in Afrika längst ein neues und, wie man hört, warmherziges Werk vorgelegt, und auch Ortheil und Klein haben es wieder getan. Während Hanns-Josef Ortheil auf Moselreise geht („Wer Wein trinkt – betet“, sagt Theodor Heuss), spürt Georg Klein der Logik der Sülze, pardon: Süße nach. So heißt eine Sammlung von Prosaklumpen, in denen es laut „Süddeutscher Zeitung“ um „Schatzsuche, Satanismus, Phantasie, Science-fiction, Kulte und Mythen, Märchen und Geschichtsmüll“ geht. Also um den gleichen Glibber wie im Kikki-Mann-Roman, direkt aus dem Preßkopf auf den Tisch der Rezensenten. Die sich, wie zu erwarten, über die „gedrechselte, witzige, melodisch betörend sichere Sprache“ (Ina Hartwig) ein achtes Loch in den Kopf freuen: „eine Wohltat“ („Die Zeit“), „ein Glücksfall“ („FAZ“) usw.

Gedacht als „Danksagung“ und „Hommage“ an die Generation der Väter und „Kriegsteilnehmer“, wie der Verfasser auf seiner Webseite betont („Einigen von ihnen einen Schimmer Heldenhaftigkeit zu gönnen, war mir eine Herzenssache“), hat der Kikki-Mann-Roman schon bei der Niederschrift „zwei mächtige Feinde“ gehabt. „Zwei mächtige Versucher, in deren Bann er mir nicht geraten durfte: die populäre Zeitgeschichte und jenen Biographismus, der sich auf die Zeitgeschichte stützt wie auf eine Krücke.“

Da ist sie wieder, die Krücke, die aus Kleins theoretischen und praktischen Schriften nicht wegzudenken ist. Wo die Krücke ist, ist auch der Tod nicht weit, und neun Sätze später heißt es: „Letztlich trägt die Zeitgeschichte ihre Art von Tod als eine ungute erzählerische Sterbehilfe in den Roman hinein.“ Die böse Folge: „Unser kindliches Dasein definiert sich dann über Fernseh-Serien, die wir angeblich alle geguckt haben, über bestimmte Schokoriegel, die wir gegessen haben.“

Liebesseufzer

„Abends konnte man John Wayne und Hardy Krüger bei der Großwildjagd zusehen, aber das war auf die Dauer keine überzeugende Alternative zum Onanieren“, lesen wir in Gerhard Henschels Liebesroman, durch den der Tod in Form von Filmen wie „Die barfüßige Gräfin“ und „Hatari!“ geistert. Der unguten erzählerischen Sterbehilfe gelingt es sogar, ein paar Gremliza-Zitate in den Roman hineinzuschmuggeln, denn der 16jährige Martin Schlosser, Henschels Hauptdarsteller, interessiert sich außer für die Mitschülerin Michaela Vogt und das öffentlich-rechtliche Spätprogramm für populäre Zeitgeschichte und liest „konkret“.

„Es gibt so bange Zeiten, / Es gibt so trüben Mut, / Wo alles sich von weitem / Gespenstisch zeigen tut“, notiert Novalis über die Nöte der Pubertät. Und weiter: „Es schleichen wilde Schrecken / So ängstlich leise her, / Und tiefe Nächte decken / Die Seele zentnerschwer.“ In der emsländischen Kleinstadt Meppen hat Martin Schlosser zwei Jahrhunderte später vor allem mit der Langeweile und der kniffligen Frage zu kämpfen, wie das Herz der schönen Michaela zu knacken sei. „Mit dem Kassettenrekorder nahm ich abends in meinem Zimmer ein paar Liebesseufzer auf. Die hörten sich bei der Wiedergabe so entsetzlich bekloppt an, daß ich fast gekotzt hätte. Bloß weg damit, weg! Die Kassette rausholen und das Band zerfetzen! Überspielen reichte da nicht.“

Freuden der Pubertät: Cover der Musikkassette „Hey Wenzel“

Der Liebesroman ist der dritte der Martin-Schlosser-Reihe und wie seine Vorgänger rund 500 Seiten dick. Und wie beim Kindheits- und Jugendroman ist man auf der Mitte wieder geknickt, weil es dem Ende entgegengeht. Danach kann man nur noch warten – auf die Fortsetzung, die Abenteuerroman heißen wird und in der der mittlerweile 18jährige Held nach Brokdorf muß, zum demonstrieren.

Der Clan der Bethel-Brüder

Auch Christian Y. Schmidt hatte, wie er uns wissen läßt, eine Kindheit. Und zwar eine schöne, denn er war Mitglied einer evangelischen Sekte, die im Ostwestfälischen ihr mildtätiges Wesen trieb (und wohl heute noch treibt, wenn auch zeittypisch auf den Hund gekommen). In Zum ersten Mal tot, einem Brevier voller Denkwürdigkeiten, in dem er seine Sektenkarriere und vieles andere Revue passieren läßt, erzählt Schmidt von frohen Kindertagen bei der Bethel-Bruderschaft – einem Clan mit eigenem Hoheitsgebiet, eigenen Bergen und Tälern, eigenen Bauernhöfen und Hochmooren, eigenen Postämtern und eigenem Geld. Ein Paradies, irgendwo am Stadtrand von Bielefeld, bevölkert von Brüdern und Schwestern, Eiferern und Epileptikern.

Schmidts schwärmerische Schilderung läßt Zweifel in mir aufkommen, ob ich als kommuniertes und gefirmeltes Kind wirklich auf der besseren Seite der Barrikade stand. Und als solches ulkigerweise Briefmarken für Bethel sammelte, jedenfalls eine Zeit lang und auf Geheiß meiner Eltern, die wohl vergaßen, daß die berühmte „Betheler Briefmarkenstelle“ den Grundsätzen der Diabolie gehorcht. Wie jeder weiß, steht der Caritas auf evangelischer Seite das Diabolische Werk mit seinen vielarmigen Zweigstellen gegenüber.

Nächstenhilfe auf evangelisch: Im Würgegriff der Diabolie

Als Katholik, selbst als gewesener, hält man sich ja – nicht ganz zu unrecht – für was Besseres. Und dieser Dünkel – das wird jeder Gerechte zugeben – hat die besten Gründe. Nur ein Beispiel: Götter gibt es wie Sand am Meer, aber wer hat schon solche Gottesmütter? „Es ist so, als ob eine blaue Schwertlilie Mutter sein könnte, einem Blumenschoß ist das Kind entsprossen“, freut sich Franz Werfel in Der veruntreute Himmel, einem der dollsten Ranschmeißerromane, die mir je untergekommen sind. Kurz vor Toresschluß erleidet die  Heldin im Schatten des Petersdoms eine Thrombose, und den Heiligen Vater machen seine goldenen Stützstrümpfe schier kirre.

Franz Werfel war nicht der einzige Heterodoxe, der vom Katholizismus verhext war. Als Kronzeugen für die Schönheit des Römisch-Katholischen dürfen Joseph Roth, Alfred Döblin und der alte Feuchtwanger gelten. „Alles, was schön war in der Welt, und das war, Gott sei Dank!, sehr vieles, Messen und Kirchen und Wein und Kunstwerke und Staatsstreiche“, läßt Feuchtwanger den Gewalt- und Genußmenschen Friedrich Karl von Schönborn in Jud Süß spintisieren, „alles, was hell und heiter war in der Welt, war römisch und katholisch. Aber was dumpf war und verquollen und nebelig und spinnwebfarben, das war evangelisch …“

Thomas Mann, eigentlich ein Anhänger dieser verquollenen, neblig-spinnwebfarbenen Religion, drückt sich in seinem Roman Der Erwählte – der allein schon deshalb lesenswert ist, weil es darin ein Igel zum Papst bringt – etwas rustikaler aus. Dort preist er die himmlische Mutter als „des Heiligen Geists erkorenes Faß“.

Man könnte die Sache weiter ausführen, schließlich haben wir Katholiken nicht nur Maria, sondern die noch viel tollere Maria Magdalena – eine Art „Schnuckepuppe“ (Danny Wilde), die alles mögliche, bloß kein Kind von Traurigkeit war. Doch ich will zum Ende kommen, denn mich zieht`s – so schön dieser Ausflug in die neuere Literatur auch war – zurück in die Vergangenheit. Ins goldene Gestern, als die Bücher noch Bunte Herzen und Bunte Steine hießen, und sich die Figuren noch mit Frau von Schnurrbart, Schnuck-Muckelig-Pimpel oder Brktzwisl begrüßten*.

(*  Frau von Schnurrbart stammt aus Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeiten, das Geschlecht derer von Schuck-Muckelig tritt in Immermanns Münchhausen auf, das Faktotum Brktzwsil in Hauffs Mann im Mond.)

Autor: Wenzel Storch

Text: veröffentlicht in konkret 7/2011