Pop-Legenden, oder Märchen für Menschen, die noch nicht genau wissen, ob sie jemals erwachsen werden wollen
Legenden sind nach allgemeiner Vorstellung Geschichten, die man über außergewöhnliche Menschen hören oder lesen kann: Helden und Heilige einerseits, Sünder und Banditen andererseits. Jemand, der zur Legende geworden ist, ist „größer als das Leben“. Das heißt auch, dass alles was er oder sie tut, ein bisschen real ist, aber hauptsächlich sehr, sehr symbolische Bedeutung hat. Weswegen ja auch ein grandioses Scheitern mindestens genau so Legenden-tauglich ist wie ein kolossaler Triumph. Und wenn es vor allem auf die symbolische Bedeutung ankommt, dann ist es auch klar, dass sich in einer Legende das Wirkliche und das Erfundene mischen. Es kommt aber auf das richtige Mischungsverhältnis an, damit Legenden nicht banal werden. Oder kindisch. Oder ideologisch. Wir brauchen dringend Legenden, aber wir haben auch vor nichts so viel Angst wie davor, auf die falschen Legenden hereinzufallen.
In den alten Zeiten bildeten Legenden sich immer da, wo die materielle Geschichte mit all ihrer Ungerechtigkeit und Enge das Fremde, Unerklärliche und Metaphysische berührte. Etwas zwischen einem unfassbar Großen im Jenseits und etwas fassbar Menschlichem im Diesseits. Legenden entstehen also einerseits da, wo außergewöhnliche Menschen entstehen oder sich besonders zeigen. Im Krieg. In der Revolution. Bei der Entdeckung neuer Länder. Bei der Suche nach Geheimnissen. Und andererseits entstehen sie dort, wo sie gebraucht werden, weil das Leben sonst nicht mehr auszuhalten wäre. Weil es zu langweilig, zu demütigend, zu aussichtslos oder zu peinigend ist. Eine Legende entsteht, wo ein außergewöhnlicher Mensch so lebt, dass man eine Geschichte, oder viele Geschichten dazu erzählen kann. Und wo jemand ist, der sie erzählt.
Nicht jede Legenden-Geschichte muss auch mit einem außergewöhnlichen Tod enden, es gibt durchaus „lebende Legenden“, und es gibt legendäre Wesen, die ganz friedlich und unspektakulär gestorben sind. Aber ein Tod, der seinerseits voller Bedeutung, voller Anklage und voller Tragik ist, ist ein ziemlich sicheres Mittel der Legendenbildung. Und oft genug ist es erst dieser Tod, der die Legende schreibt. Durch ihren Tod erst wurde Lady Diana von einer deprimierenden Rolle in einer erotischen Groteske erlöst. Und Sid Vicious bewahrte sich vor der Frage, wie man nach Punk und „No Future“ alt wird. Die Prinzessin und der Straßenjunge. Auch das gibt uns zu denken: Legenden entstehen an den sozialen Ecken und Enden.
Rudolph Valentino wäre nur noch einer kleinen Gruppe von Filmfans bekannt, wären nicht die überwältigenden Bilder von seiner Beerdigung, die hysterischen Zusammenbrüche, die tränenbenetzten Rosen. Jesse James wäre ein Gesetzloser wie viele andere geblieben, hätte ihm nicht dieser schmutzige kleine Feigling namens Bob Ford in den Rücken geschossen. Und James Dean musste in seinem roten Sportflitzer enden, um nie etwas von Haarausfall, Karriereknick und Anlagebetrug zu erfahren. Möglicherweise hat sich ja überhaupt in der bürgerlichen Gesellschaft die Legende vom Leben zum Sterben verschoben. Legenden sind Menschen, die sterben, damit wir um uns selber trauern können. Einerseits sterben sie, die Prinzessin der Herzen, der King of Rock’n’Roll, die blonde Filmgöttin, der Prinz des Pop. Aber andererseits stirbt immer etwas von uns mit. Eine Ära, ein Teil unseres Lebens, die Erinnerung an die Jugend.
Die Erschaffung der Legende und die Erzählung ihres Todes ist heute weitgehend eine Angelegenheit der Medien. Unter anderem gewiss deshalb, weil die Produktion von „echten“ Legenden immer schwieriger wurde, je mehr sich Verkehrs- und Kommunikationsmittel, sozialer und technischer Fortschritt, Bildung und Wissenschaft ausbreiteten. Die europäischen Gesellschaften des neunzehnten Jahrhunderts missbrauchten ihre Kolonien einerseits zur Ausbeutung von Rohstoffen und Menschen, und andererseits produzierten sie dort ungeniert Legenden. Und weil umgekehrt die Produktion der „künstlichen“ Legenden inflationäre Züge annahm. Zu den Kulten um Kriegshelden, Schauspieler, Künstler oder Magier (alles zwischen Wissenschaft und Illusion) gehört schon seit dem 18. Jahrhundert die Inszenierung und Selbstinszenierung im öffentlichen Raum. Die außergewöhnlichen Menschen für die Legende mussten sich zeigen, und zwar in einer Weise, die der Produktion von Theaterstücken, Romanen, Illustrationen und Zeitungsberichten entsprach. Nirgends kann man so genau die Verwandlung von Legenden in Showbusiness studieren wie im amerikanischen Westen. Da musste eine Legende wie Buffalo Bill zum Zirkuskönig werden, und ein Revolvermann wie Wyatt Earp sich selber im Film darstellen. Und mehr und mehr wurde klar, dass für eine bürgerliche Gesellschaft jene außergewöhnliche Person am Legenden-geeignetsten war, die ihrerseits schon mit der Herstellung von Legendenbildern beschäftig war. Der Künstler, die Schauspielerin, der Feldherr. Am Ende eben war ein Glamour-Cowboy wie Tom Mix der bessere Darsteller für Western-Legenden. In John Fords schönem Western „Der Mann der Liberty Valance erschoss“ erkennt der Zeitungsmann am Ende: When the Legend becomes fact, print the legend“. Das heißt beides zugleich: Dass sich die Menschen ihre Legenden so leicht nicht nehmen lassen. Und dass die Medien sie ihnen bereitwillig geben.
Aus der Politik musste sich das Legendäre freilich tunlichst verabschieden, soweit es sich um bürgerlich-kapitalistische Demokratien handelte. Es stünde einem aufrechten Demokraten wohl nicht so sehr gut an, wenn er an einem Wahltag nicht zwischen Programmen sondern zwischen Legenden wählen würde, und dem Politiker einer demokratischen Gesellschaft ist es öffentlich nicht gestattet, das Volk statt mit Informationen mit Legenden zu füttern. Legenden haben auch in der Wissenschaft nichts mehr zu suchen; mit einer Legende kann man keinen Teilchenbeschleuniger warten. Auch die Legende vom Kriegshelden ist weitgehend unpassabel geworden. In unserem Zeitalter werden zwar nicht wirklich wesentlich weniger Kriege als zuvor geführt, aber man soll es doch vernünftig und mit möglichst wenig offen zur Schau gestellter Begeisterung tun. Des weiteren sind die religiösen Legenden obsolet. Die meisten Heiligen unserer Tage sind eher seltsam denn außergewöhnlich. Den Seeräubern, Wilderern, Banditen und Meisterdieben begegnen wir lieber im Kino als in der Wirklichkeit; den neuen Piraten in Somalia gelingt so manches, nur nicht, zu Legenden zu werden.
Und es gibt zwar legendäre Banker, Dagobert Duck und George Soros, legendäre Karrieren, Bill Gates und Josef Ackermann, legendäre Marken, Persil und Winchester, und überhaupt soll ja Wirtschaft vor allem eine Sache der Psychologie sein. Aber trotzdem vertragen sich die Logik des Geldes und die der Legende nicht wirklich. Ökonomie gehört zu den Dingen, da steht die Legende drüber. Für einen alten Griechen waren Legenden noch mitten in seinem Leben möglich. Für uns Kleinbürger finden sie immer woanders statt.
Was also tun, wenn in der Wirklichkeit für Legenden kein Platz mehr ist, der Bedarf an Legenden aber ungebrochen scheint? Es wird ein Raum für künstliche Legenden geschaffen: Traumfabriken, Bildermaschinen, Tempel und Schlachtfelder der Pop-Kultur. Dort werden einerseits die alten Legenden neu gespielt, bekommen neue Namen und neue Masken: Tarzan, Wonder Woman, Tokio Hotel… Auf der anderen Seite werden die Spieler selber zu Legenden.
Der Raum für Legendenbildung in der post-bürgerlichen Mediengesellschaft ist allerdings ausgesprochen begrenzt. Es ist die Pop-Kultur, der Film, die Musik, der Sport, die Mode und das Entertainment. Und einen der alten Griechen hätte vielleicht dies vor allem gewundert: In den bunten Magazinen, in den Bildkästen, auf den Leinwänden und in den Stadien: Immer das Gleiche. Legenden, das einzige, was uns noch aus der endlosen Abfolge von Katastrophen und Langeweile herausführen könnte, drohen in ihrer industriellen und seriellen Produktion, selber katastrophal langweilig zu werden. Als in so kurzer Zeit Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison starben, und in Altamont das dunkle Gegenbild zur Legende Woodstock mit einem Mord gezeichnet wurde, da waren das noch wahrhaftige Tragödien, der öffentliche Drogenruin von Amy Winehouse oder Pete Doherty erscheinen dagegen eher peinlich. Als Serge Gainsbourgh und Jane Birkin ihr „Je t’aime“ hauchten, brach eine erotische Weltordnung zusammen, Ms Jacksons kleine Busenschau im Sportstadion erregt allenfalls die amerikanischen Puritaner. Und als Elvis starb, da konnte man tiefe Verzweiflung spüren, und die Pop-Insutrie war für einen Augenblick ratlos und still, bei Michael Jackson überholt die Vermarktungsmaschine jede Trauer.
Eine Pop-Legende wird man nicht allein dadurch, dass man gut schauspielern, gut musizieren, gut balltreten oder gut vor einer Fernsehkamera reden kann, eine Pop-Legende wird man durch einen Zusammenhang zwischen dem, was man „spielt“ und dem, was man lebt. Ein legendärer Künstler zum Beispiel sollte gehungert haben, verkannt worden sein, einem Mächtigen in den Hintern getreten und mit der Frau seines Gönners geschlafen haben. Ein Bluesman sollte herumgekommen sein, und verdammt noch mal nicht mit einer Luxuslimousine. Ein Boxer sollte ein paar harte Schläge eingesteckt haben, eine Rock’n’Roll-Legende wird man nicht wenn man mit Sex & Drogen & Selbstzerstörung maßvollen Umgang pflegt, Schauspieler-Legenden sollten ein paar Scham- und Schmerzgrenzen überschreiten und sich mit ihren Regisseuren prügeln, und der berühmteste Bergsteiger der Welt wird man nicht nur durch das, was man alles bezwungen hat, sondern auch durch das, was man verloren hat, am Berg. Kurzum: Zu einer Pop-Legende wird man zum einen dadurch, dass man ein Teil dessen, was man darstellt auch wirklich ist. Schon deshalb ist die Gefahr des frühen Todes darin enthalten. Einerseits, weil man dazu gefährlich leben muss, so oder so, und andererseits, weil Rentenversicherungen, Schrebergärten und Fernsehsessel nie und nimmer zu Legenden passen.
Die Pop-Legende ist ein Mythos des Übergangs. Es ist ein Wesen, das nicht ganz Kind bleiben kann aber auch nicht ganz so etwas Langweiliges und Korruptes wie ein Erwachsener werden will. Mehr oder weniger steckt in jeder Pop-Legende ein Peter Pan-Syndrom, nicht nur bei denen, wo es so rein und kitsch- und psychoseverdächtig nach außen drängt wie bei Michael Jackson.
Aber wie macht man das, nicht Erwachsen werden? Möglichkeit eins: Die Aura des ewigen Kindes. Und wenn man alt und fett ist, dann spielt man eben einen alten, fetten Kindskopf wie Ozzy Osbourne oder geht noch im Rentenalter mit einer Schuluniform auf die Bühne. Möglichkeit zwei: Sich immer wieder neu erfinden (früher war das eine Sache der Kostüme, heute hilft plastische Chirurgie). Den zehnten Frühling erleben wie Cher oder Tina Turner, sich in ein Kunstwesen verwandeln wie David Bowie, Madonna oder Michael Jackson. Möglichkeit drei (die paradoxe Methode): In Würde altern im Rock’n’Roll, aus Trotz. Und wenn sie uns eines Tages auf Rollstühlen auf die Bühne schieben, wir machen weiter, sagen die Rolling Stones, und Keith Richards grinst wie einer, der es selber kaum fassen kann, dass er immer noch am Leben ist und eine Gitarre in der Hand halten kann. Möglichkeit vier: der große Tod. Nicht dass wir ihm einen „Sinn“ unterstellen. Kurt Cobain hätte lieber noch ein paar Platten machen sollen als sich den Kopf wegzupusten, und wenn Jimi Hendrix nicht gestorben wäre, wäre die Rock-Geschichte vielleicht anders verlaufen. Aber es gehört zu einer Legende, dass auch der Tod ganz und gar erfüllt ist mit symbolischer Bedeutung. Er wird zu einem Stellvertreter-Tod. Etwas stirbt dann in der Pop-Legende, damit wir weiter leben können. Marilyn, Elvis, Jimi, Janis, Diana, Michael und die anderen starben wirklich für unsere Sünden. Für unsere Sünde des Älterwerdens.
Autor: Georg Seeßlen
Text geschrieben August 2009
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