Heiner Geißler hatte einen Plan. „Frieden in Stuttgart“ nannte er ihn. Ein halber Kopfbahnhof, ein halber Tiefbahnhof, von jedem ein bisschen, so sehen Kompromisse aus. Geißler wollte nicht nur der totale Schlichter sein, sondern als großer Friedensbringer von Stuttgart in die Geschichtsbücher eingehen. Als er am Ende der Debatte um den Stresstest die Gegner und Befürworter des neuen Bahnhofs fragte, ob sie den „totalen Krieg“ wollten oder aber eine Einigung, arbeitete er bereits auf seinen Friedensplan hin: Je totaler zuvor der Krieg, umso gewaltiger wäre dann der Frieden, und umso verdienstvoller er selbst, der totale Heiner. Das ging schief. Der Plan hat noch nicht einmal ein bisschen Frieden bewirkt. Und er ist ja vor allem eins: totaler Quatsch, weil zwei Bahnhöfe bestimmt nicht besser sind als einer.
Wer mit einem Satz von Joseph Goebbels aus der berüchtigten Sportpalastrede von 1943 zu provozieren versucht, muss sich auch nicht wundern, wenn es ihm nun entgegenschallt, er relativiere damit auf ungehörige Weise die Naziverbrechen. So hohl derartige Reflexe auch sind, so überflüssig eine moralisch aufgepumpte Nazidebatte zum Bahnhofsstreit wäre, falsch ist es nicht, gegen Geißlers geschichtsvergessenes Zitat Einspruch zu erheben. Der runde Tisch in Stuttgart ist ja so etwas wie ein Experiment in Sachen direkter Demokratie, zu deren Wesen es gehört, dass Neinsager und Jasager einander unversöhnlich gegenübersitzen. Vielleicht ist Demokratie ja nichts anders als eine Dauerkonfrontation unüberzeugbarer Rechthaber.
Mit Goebbels Propagandaauftritt hat das entsprechend wenig zu tun. Das Volk hat im Sportpalast keine gute Figur gemacht, als es die rhetorische Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ mit allergrößter Einmütigkeit beantwortete und mit einem besinnungslosen Schrei dem eigenen Untergang zustimmte. Die, die anders geantwortet hätten, saßen in Konzentrationslagern oder waren längst ermordet worden. So gesehen sind die verzwickten demokratischen Verhältnisse mit ihrer Tendenz zum „Nein“ dann vielleicht doch ein historischer Fortschritt. Jedenfalls sind sie so ziemlich das Gegenteil zur propagandistischen Geschlossenheit einer Diktatur.
Mit diesem Gedanken könnte man sich fast über die Ausweglosigkeit der Debatte am Runden Tisch in Stuttgart trösten. Wenn das schöne demokratische Experiment nicht einen großen Haken hätte: Es krankt nämlich daran, dass die wesentlichen Entscheidungen längst getroffen sind und die Bahn mit weiteren Bauaufträgen Fakten schafft, die sich von keiner wie auch immer endenden Debatte mehr einholen lassen. Das lässt befürchten, Demokratie wäre nichts als ein Theaterstück im Vordergrund, während hinter den Kulissen wirtschaftliche Einigkeit herrscht. Egal, was das Volk zum Bahnhof sagt, gebaut wird er sowieso. Totale Ökonomie – das ist das Problem der Gegenwart.
© Jörg Magenau
Bild: Heiner Geißler, deutscher Politiker. Er war von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und von 1977 bis 1989 Generalsekretär der CDU. Released into the public domain (by the author.)
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