Jeder führt seinen eigenen Kampf, den der Gegner nicht versteht. Über einen Krieg, der aus der Geschichte herausgefallen ist.
Jede Art von Krieg, gleichgültig in welchem Stadium seiner Entwicklung, gleichgültig in welchem Kapitel der Kulturgeschichte (und wie wir wissen, kann diese seit geraumer Zeit – gewollt oder nicht gewollt – auch rückwärts geschrieben werden), ist immer ein blutiges Spiel mit dem Materiellen und dem Imaginären, ein Krieg gegen den Körper des Feindes und einer gegen seine Wahrnehmung.
Und umgekehrt stehen dabei immer auch der eigene Körper und die eigene Wahrnehmung zur Disposition. Es ist Utopie, aber keineswegs Realität eines jeden Krieges, einer jeden so oder so über den bedingten Reflex hinausgehenden aggressiven Handlung, dass man dem Gegner etwas antun könne, ohne dass es auch Folgen für die eigene Wahrnehmung und den eigenen Körper hätte.
Daher gibt es eine Art Wettlauf: Der einfache Soldat, das ist die Regel, die wir aus den Erzählungen einer gar nicht lange vergangenen Generation der Kriegsteilnehmer kennen, soll vor dem eigenen Offizier mehr Angst haben als vor dem Feind. Bevor der Feind mich durch Folter zur Herausgabe von Informationen zwingen kann, organisiere ich lieber meine eigene Folter (und besetze das ganze womöglich mit bizarrer Lust). Es ist besser, ein Ziel selbst zu zerstören, als es vom Feind zerstören zu lassen. Eine letzte Stufe dieser Wettlaufdramaturgie ist es wohl, die Angst vor dem Tod dadurch zu kompensieren, dass man ihn ganz bewusst sucht. Der Soldat, der von keinem Feind getötet werden kann, ist der Soldat, der sich in seiner Aktion selber tötet. Das mag sehr absurd erscheinen. Aber ist es absurder als ein Leben lang seinen Körper und seine Seele zu martern, nur um einer Bank die Zinsen für die Finanzierung eines Eigenheims zu zahlen, in dem die Familie sich nur hassen kann?
In einem »linearen« Kriegsgeschehen mag es zwei verschiedene Kriege gleichzeitig geben, den materiellen und den semiotischen, Bombardement und Propaganda, zum Beispiel. Das eine unterstützt und kommentiert das andere, möglicherweise gibt es bereits merkwürdige Zonen, in denen es auch durcheinander gerät, aber wenigstens als Modell der Selbstverständigung aller Beteiligten funktioniert noch die Trennung zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion des Krieges. Übrigens wäre wohl eine reine Form des einen oder des anderen, ein »kalter« Krieg, der nichts anderes als ein Krieg der bildhaften Möglichkeiten, der Projektionen wäre, oder ein Krieg, der sich ausschließlich auf sein materielles Interesse beschränkte und ansonsten unsichtbar bliebe, wie in gewissen Phasen der balkanischen und der afrikanischen Kriege, in denen es zwar Bilder der Zerstörung, aber keine Bilder der Differenz zwischen den Parteien gibt, ein wesentlicher Bestandteil der Psychotisierung der Geschichte, denn in beiden so unterschiedlichen Fällen verliert man zuerst die Fähigkeit, überhaupt zwischen dem Feind und dem Eigenen zu unterscheiden (am Ende sogar die Fähigkeit, zwischen sich selbst und dem Feind zu unterscheiden), und die Fähigkeit, zu irgendetwas Vertrauen zu haben.
Kultivierung des Schreckens
Vertrauen indes ist das, was uns an unsere Gesellschaften und nicht zuletzt an unsere Staaten bindet, von denen wir ansonsten nicht die geringste Ahnung haben, wozu sie eigentlich (noch) da sind. Sieht man einmal davon ab, dass sie irgendwie, wie jeder Mythos, schon immer da waren. Unsere Kultur, genauso wie die Kultur des Feindes, ist ein vernetztes System der Zeichen, das keinem anderen Zweck dient als dem, Vertrauen zu erzeugen. Durch Sprache, durch Militär, durch Quizshows im Fernsehen. Man kann alles kaputtmachen, und wir gewöhnen uns daran. Nur das Vertrauensnetz ist im Gegensatz zum Netz von Gewohnheit und Vergessen nicht unendlich belastbar. Das Vertrauen, das ist vielleicht das Wesen der Mediengesellschaft, kann nicht nur durch offene Inszenierung von Macht oder durch »den Glauben« erzeugt werden, sondern auch durch das Vertraut-machen. So leben wir in einer Kultivierung des Schreckens, das Furchtbarste noch verliert seinen Schrecken, weil es in unseren Bildern immer schon geschehen ist.
Wo also die materielle und die symbolische Form des Krieges zueinander finden, da ist der Krieg gegen das Vertrauen im Gang. Dieser Kreuzpunkt wird umso bedeutender, je weniger sich die Kriege territorial und linear entwickeln können. Die Dimension des Krieges kippt offenbar zunehmend vom Raum in die Zeit. Die Drohung der Amerikaner in Vietnam, den Feind »in die Steinzeit zurückzubomben« (die nur sehr dumme Menschen aussprechen können, ohne zu fürchten, sie müsse als Bumerang zurückkehren), schien zum ersten Mal als Kriegsziel zu formulieren, was in der Geschichte vordem eher als Kriegsbedingung galt, nämlich die Konstruktion eines fundamentalen Unterschiedes in der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung zwischen den Gegnern. Die eigene Kultur gegen die »Barbaren« – schon in dieser Gegenüberstellung ist klar: Angriff ist die beste Verteidigung. Nun also scheint das Barbarenhafte des Gegners zugleich erwünscht und befürchtet, sodass es, wie im Szenario der »Steinzeit«-Metapher, in die eigene Inszenierung des Krieges eingeschrieben werden muss. Das Barbarische wird erst durch unseren Blick und durch unsere Waffen erzeugt. Die »Lufthoheit« (was für ein Wort!) als erstes strategisches Ziel ist zugleich ein symbolisches Ziel. Der Gegner wird zum Erdbewohner zurückgestuft, in den Staub gedrückt. Dort freilich wird er nicht nur doppelt gefährlich, sondern auch unsichtbarer.
Die scheinbare Steinzeithaftigkeit, in die ich den Gegner zurückgebombt habe, wird zu seiner gefährlichsten Waffe. Die lineare Konstruktion des Krieges ist, wenigstens auf dies kann man sich einigen, in den Ereignissen nach dem Attentat auf New York und Washington vollständig zusammengebrochen. Sie funktioniert im Grunde nicht einmal mehr im Sinne einer Überkreuzkonstruktion des klassischen Selbstmordattentäters, in der Opferung des eigenen Körpers für einen »symbolischen« Gewinn gegen den Feind. Was sich also entwickelt hat, ist ein Krieg, in dem keiner der Beteiligten die Kriegshandlungen des anderen überhaupt versteht. Selbst wenn wir die Attentäter auf unsere Mythen zurückführen (»Fanatismus«, »Verblendung«, »Hass«), gehen sie widerspruchsfrei darin nicht auf, geschweige denn, dass unsere Vorstellungen von »Verschwörung«, von »Organisation«, von »Strategie« darin aufgehen würden. Umgekehrt verstehen nicht nur die leidenden zivilen Menschen in Afghanistan nicht, warum sie mit Bomben beworfen werden, was dieser Feind eigentlich von ihnen will. Ihr Hass kann daher nur metaphysisch werden, die amerikanischen Bombenflugzeuge und Raketen können nur als etwas wahrhaft Dämonisches angesehen werden. Dabei ist ihr größter »Fehler«, dass sie gar nicht dem Feind gelten, sondern der eigenen Selbstvergewisserung.
Der Feind bleibt in Afghanistan virtuell. Kein Mensch »glaubt«, dass man auf diese Weise einen Anführer des Terrors namens bin Laden, der vielleicht sowieso nur eine Art Kagemusha, ein »Schattenbild« für ganz andere Zusammenhänge ist, dingfest machen kann, ja dass man überhaupt ein irgend geartetes strategisches Ziel erreichen könnte. Das Materielle dieses Krieges reduziert sich absurderweise auf die so genannten Kollateralschäden, während alles andere in einem symbolischen Nebel verschwindet. Das, unter anderem, ist ein entscheidender Punkt, an dem die moralische Hysterisierung einsetzt. Wer diesen Krieg rechtfertigen will, erklärt ihn in einem dubiosen moralischen Modell und neigt dazu, auch den Einwand so zu moralisieren und zu hysterisieren, dass eine andere Frage gar nicht mehr gestellt werden darf. Wir reden zwar davon, nein wir schreien davon, ob dieser »Krieg gegen den Terrorismus« gerechtfertigt ist, aber wir schweigen davon, ob dieser Krieg sinnvoll, ob er irgend »vernünftig« ist.
Wir ahnen allerdings, dass er nicht nur eine Reaktion auf eine terroristische Katatstrophe, sondern ihre Fortsetzung ist. Der Gegner, das ist ja schon Teil seiner Perfidie, befindet sich bereits auf einem »Steinzeitniveau«, sodass unsere Sprache des Krieges, auch was dies anbelangt, ins Leere geht. Die Demonstration der technischen Überlegenheit kommt als Demonstration der Schwäche an. Auf einen Angriff mit einfachsten Mitteln reagiert unsere Kultur mit einer noch größeren technischen Aufrüstung, die weder auf der materiellen Ebene des Krieges Erfolg verspricht, noch auf seiner symbolischen Ebene irgend Sinn erzeugt. Das lineare Modell des Krieges mit einer immerhin zweidimensionalen Zuordnung von materiellen und symbolischen Impulsen und Reflexen ist also durch zwei Entwicklungen entscheidend verändert, zum einen durch die Ungleichzeitigkeit der kulturellen Entwicklungen, bei der es sich eben nicht mehr wie in der Zeit der Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und dem sozialistischen Osten um einen »Wettlauf der Systeme« handelt, sondern um vollständig andere Ziele. Es geht offensichtlich nicht mehr um die Herrschaft in einer Welt, es geht um vollkommen verschiedene Welten.
Das unverstandene Böse
Die Attentate auf die Twin Towers und das Pentagon bleiben der Kultur des Westens letztlich fremd (und dies nicht obwohl, sondern gerade weil ihr Bild bereits so sehr in ihr gespeichert ist, dass sie nur als eine Realisierung, eine Verhöhnung der »Kultivierung des Schreckens« empfunden werden können); nicht nur ein Böses, sondern ein vollkommen irrationales Böses. Daher öffnet sich in unserer Kultur eine bizarre Schere. Wir müssen diesen unerklärten und unerklärlichen Angriff in unsere Sprache übersetzen, ihn also in gewisser Weise symbolisch verstehen (auch wenn wir ahnen, dass wir ihn dabei notwendig »falsch« verstehen), aber genau dieses »Verständnis« macht uns unfähig, die materielle Dimension der Auseinandersetzung sinnvoll zu organisieren. Die Reaktionen auf diesen Angriff erscheinen also in erster Linie selbst als eine Art Krankheit, ein Fieberanfall der angegriffenen Gesellschaften. Das kann, wie wir wissen, ebenso eine heilsame Entwicklung nehmen wie eine tödliche. Die Frage ist zum Beispiel, ob diese Gesellschaften und Staaten, die nun ihre »Sicherheitsmaßnahmen« erhöhen, zugleich auch so etwas wie ein verlorenes Vertrauen zurückgewinnen können, oder ob sie nicht vielmehr diesen Verlust verstärken zur Absurdität. Damit ist nicht nur gemeint, wie es die Kabarettisten formulieren, dass man die Freiheit, die der Gegner angreift, lieber gleich selber abschafft (diese Freiheit ist sowieso sehr schwer zu greifen: sie ist Teil der Fremdheit, Teil der Kultivierung des Schreckens geworden), sondern wiederum ein neues Missverhältnis von symbolischer Präsenz und materieller Erscheinung. Jemand hat da, so scheint es, entweder unsere Kultivierung des Schreckens missverstanden, oder er hat sie nur allzu gut verstanden. Daher erkennen wir im Autor der Attentate ein sehr eigenartiges Monstrum, jenen »Schläfer«, der keineswegs vollständig der anderen Kultur angehört, sondern vielmehr in der unseren »zu Hause« ist. Er hat sich nicht nur perfekt maskiert, wie es die Unterwanderungs- und Verschwörungsphantasie will. Er ist wirklich in ihr.
Es darf ja keineswegs verwundern, dass unsere Kultur in ihren verschiedenen Segmenten mit den jeweiligen Modellen als Erklärung antwortet, die schon so weit auseinander gebrochen sind, die einander kaum mit Mühen verstehen. Der Mainstream sieht den Katastrophenfilm und die Fernsehfolge mit bin Laden als dem »man you love to hate«. Der eine sieht darin ein gewaltiges Kunstwerk, eine plötzliche Erfahrung der verlorenen »Erhabenheit« auch. Das empört die Moral, und doch kann sich niemand der furchtbaren Gleichung von Gewalt und Ästhetik entziehen. So wenig wie der Gleichung von Terror und Sexualität. Klaus Theweleit entdeckt einen Angriff auf den Superphallus der westlichen Welt (einen »Tritt in die Eier, der auch auf den Kopf zielt«). Viola Roggenkamp sieht es als Ausdruck von »männlichem Fanatismus, männlichem Frauenhass, männlicher Destruktivität und männlichem Größenwahn« im »islamistischen Faschismus«.
Das Attentat wird unbarmherzig missbraucht, um einmal mehr die unklaren Beziehungen zu den USA zu klären (Michael Rutschky etwa hält den »Antiamerikanisten« in einem Artikel, der selber auch nicht gerade vor Weisheit glänzt, ein »Kindisch-Sein« vor), kurzum: Die Tat, die materiell genug war, alle Empfindungen zu besetzen (ich hoffe: einschließlich des ehrlichen Mitleids mit den konkreten Opfern), ist symbolisch so leer oder so vieldeutig, dass sie vor allem die in dieser Gesellschaft flottierenden Obsessionen, paranoiden Impulse und partikularen Interessen weckt. Man erklärt nicht die Tat, man erklärt vielmehr sich selbst, allerdings jenseits eines aufklärerischen und selbstaufklärerischen Projekts, nämlich nicht gegen die, sondern in der »Kultivierung des Schreckens«. Und exakt dies wiederholt sich in der folgenden Inszenierung eines Krieges, der mindestens so irrational ist wie der Angriff selber. Dem Gegner wird keineswegs der Krieg erklärt, im Gegenteil: Er inszeniert ein narzisstisches Bild. Die Menschen in Afghanistan müssen sterben, weil die Gesellschaften im Westen Selbst-Vertrauen (re-)produzieren müssen. Freilich, mit jedem Tag, den dieser Krieg und auf diese Weise dauert, verschwindet mehr das Bild des Feindes, verschwindet der rauschhafte Konsens in der moralischen Rechtfertigung, verschwindet die gelegentlich obszöne Erklärungs- und Bildersucht. Stattdessen produzieren diese Gesellschaften unentwegt weiter ihre eigenen Katastrophen, die ebenfalls so wahrscheinlich wie unberechenbar sind: die allfälligen Amokläufer, die sogar in der ruhigen Schweiz an einem schönen Tag ein knappes Dutzend Menschen umbringen; die höchst symbolträchtigen Explosionen von Chemieanlagen, deren profitsüchtige Manager die grundlegendsten Sicherheitsvorkehrungen missachten (die nächste Atomkatastrophe, das »wissen« wir, kommt bestimmt); falsche Wissenschaft weckt weiterhin »böse Natur«, die ihrerseits sich katastrophisch als »Gegner« äußert. So wie der Hunger in die armen Gesellschaften eingeschrieben ist, so ist die Katastrophe in die reichen Gesellschaften eingeschrieben. Auch deswegen produzieren wir so unentwegt Katastrophenbilder in fast religiöser Inbrunst.
Es ist eine Kultur der Angst, in der wir leben, und wenn es einen Gegner gibt, der uns »durchschaut«, dann muss er nur Kettenreaktionen der Angst zwischen materiellen und symbolischen Handlungen, zwischen Wirklichkeit und Medium in Gang setzen. (Deshalb ist auch diese Diskussion im Grunde anachronistisch, ob das Attentat vollständig »von außen« kommt, oder ob man wie etwa wiederum der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter von einer »Mitverschuldung« der betroffenen Gesellschaft spricht oder in einer traditionellen linken Argumentation darin eine – wenn vielleicht auch unentschuldbar grausame – Reaktion gegen einen kolonialistischen oder ausbeuterischen Staat sieht.) Vermutlich aber ist der »Antiamerikanismus« der »islamistischen« Kulturen genauso virtuell wie unser eigenes Bild des Gegners.
Es ist wohl fatal, der eigenen Kultur mehr Intelligenz zuzugestehen als dem Gegner (das ist, historisch gesehen, die beste Voraussetzung dafür, einen Krieg zu verlieren), nicht weniger fatal aber ist es, ihm mehr Rationalität, ja sogar mehr »Sinn« zu unterstellen als sich selbst. Die »skandalöse« Behauptung, Bush und bin Laden könnten nach derselben »Logik« funktionieren, ist eigentlich noch sehr harmlos gegenüber dem Umstand, dass sich in diesem nicht erklärten Krieg zwei gleichermaßen kranke Systeme gegenüberstehen, deren jeweilige Krankheiten überdies nur in Teilbereichen, sozusagen aneinander entstanden sind.
Einen »Kampf der Kulturen« gibt es daher mitnichten, vielmehr so etwas wie einen Kampf verschiedener Formen der kulturellen Zersetzung. Da jeder seinen eigenen Krieg führt, den der Gegner nicht versteht, entwickelt sich aus diesen Kriegsfragmenten auch keine innere Stabilität mehr. Wir sind, hélas pour nous, indes weder in »Dr. Mabuse« noch in einem James Bond-Film; die Frage nach einem Subjekt, das diese Verwirrung »will«, ist weder aus der Selbstidentifikation (einschließlich möglicher Selbstkritik) noch aus dem hier toleranten dort manichäischen Identifizieren des »Anderen« zu beantworten. Das Bombardement geht von dem Phantasma eines subjekthaften Feindes, aber noch mehr von der Existenz irgendwelcher »Zentralen«, wie wir sie aus dem Kino kennen, aus. Es will den verschwundenen Ort rekonstruieren und virtualisiert sich dabei nur noch weiter.
Der Feind aber, wer immer das sei, beherrscht ganz offensichtlich eine Kunst perfekt: Er verschwindet nicht nur aus dem materiellen, sondern immer sogleich auch aus dem symbolischen Wahrnehmungsfeld. Was würde man wohl tun, wenn man bin Laden »hätte«? Längst sind die Verhältnisse weiter aufgelöst. Die Briefe, die mit Milzbrand verseucht in den USA herumgeschickt werden und gegen die es offensichtlich keinen vollständigen Abwehrmechanismus gibt, scheinen die Entlinearisierung des Geschehens zu vollenden. Sie sind nicht einmal mehr als terroristischer Akt zu identifizieren. Sie verlängern zwar den Fieberanfall gleichsam ins Unendliche (höchst »rational« scheint daher ihre Dosierung), aber sie haben weder einen Absender noch ein distinktes Ziel. Der innere Feind ist so wahrscheinlich wie der äußere als Urheber. Es ist also einmal mehr das Vertrauen selbst, das angegriffen wird. Das Vertrauen indes konnte überhaupt nur wieder hergestellt werden, jenseits aller patriotischen, sentimentalen und aggressiven Inszenierungen, indem man sich in eine Gesellschaft verwandelte, die »etwas tut«.
Talibanisierung des Selbst
In dieser Situation ist das Milzbrandattentat als Serientat doppelt fatal. Es erhält die Bedrohung aufrecht, zwingt uns also zu einer kollektiven Wachsamkeit, lässt aber auf der anderen Seite keine symbolische Tat als Reaktion zu. So passt es, dass die Regierung ihre Bevölkerung »warnt«, ohne ihnen konkrete Hinweise auf das Objekt der Warnung zu geben. Irgendetwas kann geschehen. Das wäre einerseits eine Grenze, die die Fürsorge des Staates für uns erreicht hat. Es ist andererseits eine Lähmung, die jeder, auch der demokratischen Herrschaft durchaus gelegen kommt. Die Situation von unendlicher innerer Bedrohung und unerklärtem Krieg nach außen ist zwar »gespannt«, aber seien wir ehrlich: Seit langem nicht mehr war »regieren« in den westlichen Staaten so einfach wie jetzt, seit langem nicht ist der Wille der Machtzentren so leicht an alle Peripherien durchzusetzen wie jetzt, nie war es so einfach, aus »Maßnahmen« für die Sicherheit neue Strukturen von Macht zu erstellen. Das geht in der Regel immer tiefer, als dass, wie zu erwarten, ganze widersetzliche Diskurse ganz einfach zum Verschwinden gebracht werden. Gewisse Politiker, die gerade noch drauf und dran waren, in ihrem eigenen Wahn öffentlich begraben zu werden, konnten sich rekonstruieren – und dementsprechend unappetitlich begeistert zeigten sie sich vom Schulterschluss und drängten auf materiellen mehr denn nur symbolischen oder gar ökonomischen Einsatz.
Die Produktion der Bilder und die Produktion der Nachrichten steht nun unter einem anderen Zeichen. Wieder, wie schon beim Balkan-Krieg, wurden auch vordem noch kritischere Zeitgenossen vom Fieber ergriffen und wählten es, lieber gegen Verbündete von einst zu eifern, als Beiträge wenigstens zu Inseln des aufklärerischen Denkens zu liefern. So verkünden wiederum die einen das »Ende der Spaßgesellschaft«, aber vielleicht tun das doch eher die, die nie Mitglieder in dieser virtuellen Gemeinschaft waren, keineswegs aber das Ende der Arbeits- oder der Konkurrenzgesellschaft. Mit anderen Worten: Diese Katastrophe als fundamentales Bild der äußeren Bildung wird vor allem dazu benutzt, nach innen zu wirken. Aber dieser Schub von Disziplinierung, von, durchaus, Unfreiheit (der Bewegung wie der Diskurse) ist, so scheint es, nur deswegen so widerstandslos durchzusetzen, weil er in gewisser Weise ersehnt ist.
Es ist eine Art der Selbst-Talibanisierung im Gang, und tatsächlich scheint es über alles Verständigung zu geben, nur gerade eines nicht, nämlich darüber, welche Werte es denn nun eigentlich sind, die es zu verteidigen gilt. Denn wenn es sie überhaupt gibt, dann sind diese Werte paradox. Im Namen der Freiheit leisten wir uns ja ein faschistisches Terrorpotenzial im eigenen Land, ohne sonderlich beherzt einzugreifen. Wir können nicht mehr »oppositionell denken«, wir können nicht einmal mehr denken, was »oppositionelles Denken« jenseits der moralischen Geste überhaupt sein könnte. Der terroristische Anschlag ist daher unter anderem die böse Parodie auf »oppositionelles Denken« als Bild und als Handlung.
Die Form der Katastrophe entspricht der Krise (vor allem der des Marktes, die in Wirklichkeit eine durchaus radikale Umgestaltung in der Gesellschaft ist), den Krisen der Globalisierung – ist nicht der Terrorist eine Art globalisierte Form des Amokläufers?
Mir scheint, es gibt geradezu seltsame Übereinstimmungen: Dass »Familienväter, eifrige Studenten, sanftmütige Gläubige« sich in Terroristen verwandeln, verwundert sich Julia Kristeva, und sieht sie so unberechenbar wie Serienmörder und Kinderschänder. Ist bin Laden nicht eine Abart des schurkischen Kapitalisten, der nicht nur in Springfield bedenkenlos Atomkraftwerke in die Luft gehen lässt, wenn es entweder seiner Geldgier oder aber seiner Paranoia dient? Er ist ein Milliardär, der sich Armeen, der sich vielleicht ein ganzes Land, der sich einen grauenvollen Platz in der Welt »kauft«. Vielleicht ist es ja nur der »verrückte Reiche«, den wir aus unserer Mythologie nur allzu gut kennen, als finsteres Gespenst des entgrenzten Kapitalismus, der sich die Maske des »islamistischen Terroristen« aufgesetzt hat. In ihm also, so scheint es, sind Goldfinger und seine terroristischen Handlanger verschmolzen – und sie kommen unvernünftig und subjektlos über uns.
Milzbrand als Metapher
Das Milzbrandsyndrom wird daher zu jener Metapher, der gegenüber das Attentat auf das World Trade Center schon wieder »altmodisch« (oder umgekehrt: immer noch nicht barbarisch genug) erscheint. Es hat nicht einmal die Authentizität einer Untat mehr in sich. Dieser Anschlag ist vollkommen kalt und hat daher nichts mit den Erklärungsmodellen zu tun: »Fanatismus«, Selbstmord. Das Subjekt verschwindet nicht mehr in der Tat wie im Selbstmordattentat, es wird gar nicht erst generiert, nicht einmal in der phantomhaften Form des unseligen Briefbombenversenders in Österreich. Ob sich auf der Ebene der Wirklichkeit am Ende der »arabische Terrorismus« oder die terroristische Rechte in der eigenen Mitte verantwortlich zeigen, kann als »Erklärung« schon nicht mehr viel ausrichten. Denn auch in diesem Verbrechen gibt es so oder so keine verständliche Sprache mehr.
So ergibt sich keine Erzählung mehr, wenn ihr Inhalt nur noch lauten kann: Irgendwer ermordet irgendwen. Oder: Die symbolische Untat interessiert sich nicht mehr für das Wesen, sondern nur noch für die Quantität ihrer Materialität. Oder auch: Irgendwo wird aus jedem Traum Ideologie. Irgendwo wird aus jeder Ideologie Fanatismus. Irgendwo wird aus jedem Fanatismus die terroristische Untat. Oder noch: Jede Religion organisiert das Irrationale und zwar immer zugleich zum Guten und zum Bösen. Diese Katastrophe aber ist kein – wenn auch auf furchtbare Weise – »gestaltender« Teil der Geschichte mehr.
Der historische Prozess, in dem wir uns befinden, bleibt von den noch so großen Katastrophen unberührt. Sie erhöhen freilich den Grad an Fremdheit: Dieser Prozess der Globalisierung, der Verschmelzung von Markt, Macht und Moral zu einem Klumpen, der sich der Aufklärung gegenüber ebenso resistent macht wie gegenüber der »Revolte« (und mittlerweile, nachdem wir ganz öffentlich Menschen zusehen durften, die ihre Ideen oder wenigstens ihre Seelen für einen Anteil der Macht verkaufen, ahnen wir sogar eine Resistenz gegenüber Reform), ist immer mehr einer, der außerhalb von uns, als endlos gebrochener Spiegel erscheint, in dem ich, was immer ich an Sinn suche, immer nur meine eigenen Bedürfnisse und meine eigenen Ängste reflektiert sehen kann. Deshalb ist bin Laden, und wenn es ihn gibt, ist das seine größte Täuschung, nicht nur Ausdruck unseres Schreckens, sondern auch Ausdruck unseres heimlichen Begehrens, ein »ganzes«, »authentisches«, ein böses, aber funktionierendes System der Selbstvergewisserung. Diese rückwärts gewandte Sehnsucht gruppiert sich hier um den Begriff der »Identität«, gar »nationale Identität«, was nichts anderes heißt, als dass wir uns danach sehnen, ein relativ geschlossenes System an die Stelle des relativ offenen Systems der aufgeklärten demokratischen Gesellschaft zu setzen. Nach der Steinzeit, in die wir ursprünglich den Gegner zurückbomben wollten und in der wir ihn nun finden, sehnen wir uns mit einem Teil unserer Wünsche auch.
So zeigt uns die Katastrophe im Inneren, dass wir keineswegs ein perfektes System bewohnen, und der globale Terrorist zeigt uns, dass wir keineswegs ein geschlossenes, ja auch nur ein schließbares System bewohnen. Wo aber sind wir dann zu Hause? Und ist nicht etwa der hungernde Kämpfer in der Wüste mit dem Koran und der Kalaschnikow in den Händen etwa »glücklicher« und identischer als wir es sind? Was das anbelangt, müssen wir uns womöglich gegenseitig hassen, nicht weil wir uns zu wenig, sondern weil wir uns zu gut verstehen. Das geschlossene System der Grausamkeit und das offene System der Gleichgültigkeit neiden sich gegenseitig das, was sie an Vertrauen zwischen System und Einzelnem erzeugen. Vielleicht macht uns das erst klar, warum es etwa in Irland oder in Palästina eine terroristische und gegenterroristische Gewalt gibt, die offenkundig vom Erreichen strategischer Ziele, von einem danach, also vom »Sinn« eines Krieges (nämlich einem vorteilhaften Frieden für sich selbst) vollkommen losgelöst ist. Die Schaffung von Identität ist an einem Ort nicht mehr wirklich zu erhalten (wenn man sie braucht, schon erst recht nicht), sie ergibt sich nur noch als Bewegung.
Die alles entscheidende Frage ist also, ob wir uns überhaupt »in Bewegung« setzen können. Paradoxerweise also setzt das Milzbrandattentat die visuelle Kriegserklärung in New York und Washington nicht nur fort, sondern nimmt auch etwas davon wieder zurück. Auf den Augenblick der negativen Erhabenheit im Anschlag auf die Twin Towers folgt der zähe Beweis der Lähmung. Dabei hebt von der finsteren Faszination des Feindes Erhebliches sich wieder auf. Merkwürdigerweise ist man ja bei der Schuldzuschreibung dieser neuen Attacke sehr vorsichtig, diese Bedrohung bleibt offen. Sie möchte, wenn man so will, offen bleiben. Der Feind ist nun vollständig verschwunden und scheint sich analog zum gefürchteten Virus in den Cybernetzen als sich selbst fortzeugende destruktive Macht in den Kommunikationsnetzen. Er ist nun in den eigenen Körper gelangt. So sehen wir auf der Titelseite der Bild unangenehme Würstchen unter dem Mikroskop und Menschen in weißen Schutzkleidern, die Eimer in ekelhaften Farben herumtragen (und diese futuristischen Gestalten kennen wir aus unseren kollektiven Träumen nicht weniger als das brennende Hochhaus). Ist das der neue Feind? Der Angriff auf die Twin Towers war auch ein Angriff auf das Auge durch das Medium Fernsehen, auf doppelte Weise sozusagen für es »geschaffen«.
Der Angriff durch Milzbrand – oder Anthrax, was weniger unappetitlich klingt – ist ein Angriff noch tiefer in der Kultur, im Brief, in der Sprache, in einer ebenso altmodischen wie sicheren Form der Kommunikation, die in gewisser Weise schon liebenswerte Vergangenheit geworden ist. Nicht der Computervirus schlägt zu, der unser Stadium der Modernisierung verhöhnen könnte, sondern ein echtes Bakterium, das uns in gewisser Weise den Rückzug der »Vermenschlichung« verstellt.
Im Attentat auf die Twin Towers wurde unser Vertrauen in den öffentlichen Platz erschüttert; das Ziel ist der symbolische Ort, der Mensch wird als Opfer gern in Kauf genommen; im Milzbrandattentat dagegen ist dieser Mensch das eigentliche Ziel. Er kann nicht einmal in seiner Privatsphäre sicher sein, er kann nicht einmal zum Bild des Opfers werden. Die Symbolsprache des Konflikts selber also wird aufgelöst. Das Vertrauen ist daher um eine weitere Station gebrochen. Der Staat kann mich nicht schützen, und es gibt auch keinen Ort mehr, an dem ich mich selber schützen könnte. Der Terrorist ist zwar hinterhältig getarnt, ein »Schläfer« ist nicht so leicht zu erkennen, weshalb wir eben nicht nur eine »Rasterfahndung« initiieren, sondern sozusagen ein neues Menschenbild entwerfen. Es geht nicht von Vertrauen, sondern von Misstrauen aus. Und da haben wir den lähmenden Effekt dieser Katastrophen: Das Vertrauen des Menschen in seine Gesellschaft und in seinen Staat ist zwar tief erschüttert, so tief, dass wir uns keinen neuen Gesellschaftsvertrag vorstellen können, der nicht Freiheit durch Schutz ersetzen müsste, aber zur gleichen Zeit ist das Misstrauen gegen jeden anderen, gegen jedes Zeichen noch viel größer geworden. Statt der Rekonstruktion des Vertrauens geht es also um die Neuorganisation des Misstrauens. So wie der Milzbrandbrief da tatsächlich ein Brief zwischen der äußeren Gefahr des »Feindes« und der inneren Gefahr ist, so ist der allseits beliebte »Trittbrettfahrer« ein anderes, höchst denkwürdiges Echo zwischen dem Terroristen und dem Amokläufer. Zu dem einen fehlt ihm das Ziel, zu dem anderen der Todesmut. Die Lust an der Auflösung des Vertrauens in seiner Gesellschaft aber teilt er vollkommen. So ergibt sich so etwas wie ein bizarres Dreieck des Vertrauens: Der Einzelne muss sich entscheiden zwischen dem Vertrauen in seine Gesellschaft, in seine Werte oder in seinen Nächsten.
Ineinander stürzende Feindbilder
Wenn uns die Geschichte der populären Mythologie etwas lehrt, dann das Atmen zwischen diesen beiden Zuständen, die in sich wiederum nicht mehr linear sein können: Wenn uns das Vertrauen in die Welt und in die Gesellschaft verloren geht, die wir als ein System von Wahn und Korruption begreifen lernen, dann verlegen wir das Vertrauen in den Innenraum, in die Familie, in die Freundschaft, in das Paar. Aber dieser Raum wird sehr schnell in sich unheimlich, wenn man ihn nur wirklich einmal belastet; dann drängt unser Traum wieder nach draußen, die Welt als Raum der Suggestionen muss den Schrecken der Familien- und Beziehungsfallen auffangen. So bilden also die Drohung des nächsten Selbstmordanschlages auf eine öffentliche Anlage und die gleichzeitige Bedrohung durch Anthrax-Briefe (oder was danach an die Stelle treten wird) eine Zwickmühle: der öffentliche Raum ist genauso bedroht wie der Innenraum.
»Objektiv« dient das nicht allein der lustvollen narzisstischen Selbstidentifikation des Terroristen, sondern auch der jeweiligen Macht. Was immer nun geschieht, sogar gleichgültig, ob in unseren Gesellschaften selbst die Militanten oder die Gemäßigten die Hauptakzente bilden, der Prozess der Überwachungen, sagen wir es fundamentaler: der Prozess der Abschaffung des Einzelnen wird weitergehen. Der Einzelne war nun aber nicht nur die einzige Hoffnung dessen, was einst als demokratisches Projekt galt (und was längst als populistische Mediokratie ein kleines atavistisches Anhängsel der freien Marktwirtschaft geworden ist), der Einzelne war auch die einzige Legitimation dieses Systems. Der Einzelne kann frei und glücklich leben, wenn er ein paar Regeln einhält und wenn er seine Einwirkung auf das Kollektiv zurücknimmt. Was im Gegensatz aber zu den alten Kriegen, zu Revolutionen und Bürgerkriegen noch in Gaza etwa stattfindet, nämlich auf beiden Seiten (wenn auch auf verschiedene Weise) die Auflösung des Einzelnen im Kollektiv, das findet im Terroristen, im Amokläufer, im Profitgangster und im Fehlleister, diesen vier apokalyptischen Reitern des Globalisierungskapitalismus, keineswegs mehr statt. Ihr Kollektiv bleibt rein virtuell, vielleicht sogar imaginär. Es hat keine manifeste Form und es hat keinen Text. Es ist der bis in die Absurdität vorangetriebene Einzelne, der zur Gefahr für die ganze Welt wird.
Und so entsteht das Prinzip der zweiten Absurdität des allseits unverstandenen Krieges der Kulturen: Die eine, die so genannte islamistische Kultur (dass auch dieser Begriff nichts weiter als ein Mythos ist, kann an anderer Stelle dargelegt werden), die gleichsam sich selber nur als strenges, gewalttätiges Kollektiv verstehen kann, sendet den Einzelnen aus, um eine andere Kultur zu (zer)stören, die ihrerseits sich nur als offenen Zusammenschluss von Einzelnen verstehen kann, und diese Kultur wiederum antwortet auf die Provokation mit einer doppelten, nämlich sowohl symbolischen (medialen) als auch materiellen (militärischen) Kollektivierung. Got it? Ihr jeweiliges verdrängtes Gegenteil kann jede der Kulturen nur gegen den jeweils Anderen mobilisieren. Und zwar, indem sie ihn umstandslos moralisiert und metaphorisiert.
Geht es also um die Berufstätigkeit der Frau, um rechtsstaatliche Verhandlungen, um den Fernsehapparat für den Einzelnen? Ganz klar: Sehen wir hinter die religiöse Leinwand (die keineswegs nur Fassade ist und bei weitem nicht so harmlos, wie wir es gerne hätten, um uns keine Intoleranz vorwerfen zu müssen), so scheint es also bei diesem »Krieg der Kulturen« um die Auseinandersetzung einer bewusstlos gut gelaunt sich modernisierenden und einer bewusst sich der Modernisierung widersetzenden Kultur zu gehen. Und ganz sicher kennen wir diese Mischung aus technischer Akzeptanz und moralischer Ablehnung der Moderne in unserer eigenen Geschichte als Faschismus. Womit hinreichend für alle der Krieg gegen diese falsche Kultur des Fanatismus gerechtfertigt wäre, auch wenn er Opfer unter den Unschuldigen kostete. Dass Kulturen wie die der Taliban tatsächlich aus dem Prozess der Geschichte aussteigen möchten, so wie sich andernorts etwa bei uns gewisse Sekten ausklinken, indem sie eine nahe Apokalypse phantasieren und in bescheidenem Maßstab wie in Japan oder Amerika auch selber herbeiführen, scheint also wenigstens ein in sich stimmiges Bild.
Doch wieder scheint die Zuordnung keineswegs so klar und ist schon gar nicht territorial zu rekonstruieren. Die postmoderne Mediengesellschaft hat in sich antimoderne Impulse auf sehr heftige Weise eingeschrieben, möglicherweise ist dies sogar der heiße Kern der »Kultivierung des Schreckens« als Nachfolger des apokalyptischen christlichen Weltbildes, und umgekehrt ist der unterdrückte Modernismus in den anderen Kulturen keineswegs verschwunden. Diesen zu fördern oder wenigstens nicht an seiner Unterdrückung teilzuhaben, gelingt dem Westen allerdings vor allem deswegen nicht, weil er selbst den Prozess der inneren Modernisierung, der Demokratisierung, des Humanismus, der Aufklärung aufgegeben hat.
Aus unserer Kultur ist das »Rückschrittliche« nur zu erkennen, wenn es gegen die eigenen Interessen gerichtet ist – es ist ansonsten angenehmer Teil touristischer Inszenierung, liebenswerte Exotik, ein Reservoir »unverdorbener« Kultur und wenigstens in organisierter Fürsorglichkeit ein wenig zu sentimentalisieren – und auch das »Fortschrittliche« sieht man nur, wo es in den Mainstream leicht einzuschreiben ist wie, sagen wir, der Alltagsmythos des hoch begabten und hoch motivierten indischen Computerspezialisten, es ist ansonsten von vorneherein bedrohlich. Wenn wir, begleitet von einer etwas unangebrachten Häme, sagen hören, bin Laden sei wie eigentlich auch der Rest des internationalen und nationalen Terrorismus ein »Geschöpf« verfehlter und korrumpierender westlicher, vor allem amerikanischer Politik (was sich natürlich fortsetzt, wenn die reichlich kriminelle Nordallianz zu einem fragwürdigen Sieg gebombt und hochgerüstet wird), so vergessen wir wohl, dass es sich auf der anderen Seite nicht viel anders verhält. Die korrupte und korrumpierende Politik Amerikas ist nicht weniger ein »Geschöpf« der Raubherrschaften und Bereicherungsdiktaturen. Die Blindheit einer jeden Kultur und ihre gleichzeitig offenkundig grenzenlose Fähigkeit, sich die Welt ganz und gar nach den eigenen Bedürfnissen zurechtzubilden, mit ein bisschen »Dialog« zu entschärfen – noch ein Institut oder noch ein Leitartikel ändern daran gar nichts. Denn es geht nicht um eine Ignoranz in der Kultur, es geht um die Ignoranz einer Kultur selber. Wir müssten uns ändern, um etwas zu verstehen, aber natürlich ist die andere Kultur ebenso wenig daran interessiert, verstanden zu werden wie unsere. Sehen wir eine junge Frau mit einem Plakat, das sagt: »Guck doch mal genau hin: bin Laden ist ein total sanftmütiger, argloser Kerl« (gefolgt von Anklagen gegen unser »Scheißsystem« und »die reichen Amis«, so können wir dabei allerlei denken: Eine der mittlerweile gewohnten Produktionen von Medienirrwitz, noch jemand, der nichts anderes kann, als seine eigenen Obsessionen zu verfolgen, (ein ganzes System der Paranoia tut sich da auf), oder aber umgekehrt, ein provokatives Fake. Wie auch immer: Sinn ergibt so etwas nicht mehr, die Gesellschaft zerfällt noch mehr im Abklingen des Konsensrausches. Der kulturelle Dialog ist auf diese Weise zersprungen: zwischen einer leeren Toleranz und einer leeren Aggression.
Und der Krieg selber, im fernen Afghanistan, ist zum unsichtbaren Krieg geworden, der den CNN-Reporter Peter Arnett an den »Krieg im Laos der sechziger Jahre« erinnert, »der auch der geheime Krieg genannt wurde. Der wurde auch von US-Spezialeinheiten geführt mit vielen Bombardements. Das haben wir jetzt wieder: der geheime Krieg in Afghanistan«. So sind also definitiv die Diskurse auseinander gebrochen, um die Moral und um die Vernunft dieses Krieges kümmern sich zwei so unterschiedliche Fraktionen unserer Gesellschaft, dass zwischen beiden keine Kommunikation herrscht. Jede von beiden glaubt wohl fest daran, den anderen doch wenigstens in diskursiver Weise »kontrollieren« zu können. Tatsächlich aber liegt darin nicht weniger als der Samen für einen semiotischen Bürgerkrieg, der weit über das hinausgeht, was wir an sozialem und kulturellem Bruch in den Zeiten des Vietnamkrieges erlebten. Da wollten zwei Fraktionen einer Gesellschaft definitiv etwas anderes, und die einen mobilisierten die Kontrolle, die anderen die Körper dafür. Nun haben die zwei Fraktionen nicht einmal mehr die Möglichkeit, miteinander zu streiten (zumal ja auch wiederum jede der beiden Fraktionen in sich gespalten und heftig damit beschäftigt ist, die eigenen Widersprüche zu bearbeiten).
Die Milzbrandattacke nun bringt dieses vollständige Auseinanderbrechen von Vernunft und Moral in ein so schlüssiges wie unlesbares Bild. Krankheit und Geschichte sind endgültig eins geworden. Gibt es also überhaupt so etwas wie eine Lösung in einem Konflikt, der offenkundig weder in den Kategorien der Krankheit noch in den Kategorien der Geschichte zu verstehen ist? Vielleicht wäre ja schon einiges geholfen, wenn man sich dazu entschließen könnte, das liegen gebliebene Projekt der Aufklärung wieder aufzunehmen.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 46, 11/2001
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