Die Professoren Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat aus dem Umfeld der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ und der attac-Arbeitsgruppe „ArbeitFairTeilen“ haben im Mai 2011 unter dem Titel „Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!“ ein „Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit“ vorgelegt, dessen Inhalt sich so zusammenfassen lässt:
Seit Jahrzehnten bleibt in der Bundesrepublik das Wirtschaftswachstum hinter der Produktivitätsentwicklung zurück. Daraus folgt ein Sinken des Arbeitsvolumens. Durch Kürzung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden in den sechziger Jahren konnten zunächst negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt vermieden werden, es gab sogar Vollbeschäftigung. Als in der Folgezeit solche Anpassungen unterlassen wurden, entstand seit Mitte der siebziger Jahre Massenarbeitslosigkeit. Das Arbeitszeitvolumen entwickelte sich auf folgende Weise: es „reduzierte sich die durchschnittliche Arbeitszeit aller 36,1 Millionen abhängig Beschäftigter (davon 23,5 Millionen Vollzeitbeschäftigte und 12,6 Millionen Teilzeitbeschäftigte) auf inzwischen nur noch 30,1 Stunden pro Woche. Insgesamt hat also schon eine massive Arbeitszeitverkürzung stattgefunden und zwar in doppelter Weise: Erstens durch eine starke Zunahme der Teilzeitbeschäftigung mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 14,70 Stunden. Und zweitens durch eine Senkung der Arbeitszeit auf Null für die 3,244 Millionen registrierten Arbeitslosen.“ Gemeint ist offenbar: Rechnet man letztere mit ein, sinkt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf sogar unter 30,1 Stunden.
Beseitigung der Massenerwerbslosigkeit sei zu erreichen durch „die Kürzung der wöchentlichen Arbeitszeit der heute Vollbeschäftigten auf 30 Stunden. Dies kann in Form einer Viertageswoche umgesetzt werden, aber auch viele andere Formen fester oder flexibler Verteilungen der Arbeitszeit über die Woche, den Monat, das Jahr sind ebenso denkbar.“
Die Verfasser unterstellen für die Jahre 2011 bis 2015 ein Wirtschaftswachstum von 1,5 und eine Zunahme der Produktivität von 1,8 Prozent. Der dadurch bedingte Rückgang des Arbeitsvolumens um 0,3 werde „durch einen negativen demografischen Effekt auf das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot kompensiert, so dass der finale Effekt aufs Arbeitsvolumen konstant bleibt.“ Das ist es wohl, was Berufsoptimisten meinen, wenn sie behaupten, es werde bald ohne weitere Maßnahmen Vollbeschäftigung geben. Bontrup und Massarat sehen das anders, denn die bisherige hohe (gewiss konjunkturbedingt schwankende) Arbeitslosigkeit bestehe ja weiter, sie werde bestenfalls nur nicht wachsen. Um sie abzubauen, solle zunächst „die Arbeitszeit über fünf Jahre jährlich um fünf Prozent bei den heute Vollzeitbeschäftigten reduziert“ werden. Ergebnis: „Die heute 23,5 Millionen Vollzeit-Beschäftigten kämen so in fünf Jahren auf eine 30-Stunden-Woche“. Dann könnten 4,7 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden. In diese Zahl geht die Aufstockung von bisherigen Teilzeitjobs ein. Die Verfasser nehmen an, dass von 12,5 Millionen bisher auf diese Weise Beschäftigten „rund zwei Millionen gerne Vollzeit arbeiten würden.“ Allerdings kommen sie auch zu dem Ergebnis, „dass die hier unterstellte Arbeitszeitverkürzung von fünf Prozent pro Jahr bis 2015 nicht einmal voll ausreicht, um alle heute Arbeitslosen in Arbeit zu bringen.“ Dann bestehe „immer noch eine rechnerische Unterdeckung von 800.000 Arbeitsplätzen.“ Sie seien bei Bund, Ländern und Gemeinden zu schaffen. „Hierdurch würde es gleichzeitig zu einer besseren Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Altenpflege, Umwelt, Sportvereine usw. kommen“.
Es stellt sich die Frage der Finanzierung. Die Arbeitszeitverkürzung soll bei vollem Lohnausgleich erfolgen. Beträgt sie jährlich fünf Prozent, überschreitet dies die prognostizierte Steigerung der Produktivität. Aufgrund der „gigantischen Umverteilung in den letzten Jahren zur Gewinnquote“ gebe es hierfür eine „hinreichende Finanzierungsmasse“ durch Heranziehung von „Gewinnen, Zinsen, Mieten und Pachten“ – also wieder eine Umverteilung, jetzt aber von oben nach unten. Das sei nicht nur grundsätzlich möglich, sondern sogar gesellschaftspolitisch geboten, „um eine der Hauptquellen der Finanzspekulationen und Finanzkrisen auszutrocknen, zu der die Kapitalseite in den letzten dreißig Jahren auf Grund sinkender Lohnquoten gelangen konnte.“
Bei der Finanzierung der veranschlagten zusätzlichen 800.000 Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst geben Bontrup und Massarrat zu bedenken, dass bereits heute „Milliarden für Hartz-IV-Empfänger und für Arbeitslose verausgabt“ werden. Ihre Umwidmung für feste und gut bezahlte 30-Stunden-Jobs reicht allerdings nicht aus. Deshalb seien „Steuererhöhungen bei hohen Einkommen und Vermögensbeständen“ nötig.
Die Vorschläge von Bontrup/Massarrat sind menschenfreundlich, vernünftig und in einem Anhang überzeugend durchgerechnet. Jetzt werden Unterschriften unter ihr Manifest gesammelt, und eine Beteiligung daran kann gern angeraten werden.
Dennoch mag es Leserinnen und Leser dieses Dokumentes geben, die ein leises Gähnen kaum unterdrücken können. Die hier dargebotenen Zahlen sind zwar neu, die Grundsatz-Argumentation ist es nicht. Das spricht allerdings nicht gegen sie.
Als Mitte der siebziger Jahre die Massenarbeitslosigkeit begann, eröffneten einige Gewerkschaften –insbesondere die IG Metall und die damalige IG Druck und Papier – eine Offensive für Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich. Der letzte große Streik in diesem Zyklus fand 1984 statt, und es wurden sogar Erfolge erzielt: je nach Branche 35 oder 38,5 Stunden. Das war die Zeit, als das Buch „Wege ins Paradies“ (1983) von André Gorz großen Anklang fand. Er verwies auf eine nahe Zukunft, in der aufgrund hoher Produktivität Erwerbsarbeit nur noch einen kleinen Teil des Lebens ausmachen werde.
Anfang der neunziger Jahre lief diese Bewegung allmählich aus. In dem Maße, in dem Kapital sich aus der Produktion in die Finanzindustrie zurückgezogen hatte, waren die Kampfbedingungen für die Gewerkschaften schlechter geworden. Einige arrangierten sich. Die IG Metall und insbesondere die IG Bergbau, Chemie, Energie erwecken mittlerweile den Eindruck, als sei die Förderung der Exportfähigkeit der Unternehmen ihrer Branchen auch durch niedrige Steuern und Abgaben ihnen wichtiger als der Kampf ihrer Schwestergewerkschaft ver.di um eine bessere finanzielle Ausstattung des Öffentlichen Dienstes. Inzwischen hat sich der seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts anhaltende Trend zur Verkürzung der regulären Wochenarbeitszeit umgekehrt: da und dort wird wieder vierzig Stunden und mehr gearbeitet. Die gesunkene Kampfstärke und -bereitschaft der Gewerkschaften ist nicht die Ursache einer solchen Entwicklung, sondern sie geht ebenso wie diese auf die ständig wachsende Überlegenheit des Kapitals zurück: dessen Mobilitätsvorsprung vor der Arbeit (sei es beim Ausweichen in die Finanzsphäre, sei es durch die Verlagerung von Produktionsstätten) ist immer größer geworden. Der Unternehmer-Igel ruft dem Gewerkschafts-Hasen nicht etwa zu: „Ick bin all dor!“, sondern: Ich bin mal weg.
Dennoch ist die Lage nicht völlig hoffnungslos. Wenn der Arbeiterbewegung keine neue Beschäftigungspolitik gelingt, schafft dies vielleicht das Kapital.
Ja doch, das Kapital. Solange es sich ungehindert ausbreiten und durchsetzen kann, ist es nicht lernfähig. Anders könnte es aber werden, sobald die Gefahr sich abzeichnet, dass es sich totsiegt. So war es am Ende der Industriellen Revolution, als es die Arbeitskraft so weit zu ruinieren drohte, dass vorstellbar wurde, diese werde ihm nicht mehr in genügendem Umfang zur Verfügung stehen. Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die ihm damals entgegen traten, gewannen deshalb an Stärke, weil ihr Kampf auch einem systemimmanenten Bedarf an Regulierung entsprach. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, erfüllt die Ökologie-Bewegung dieselbe Funktion für die notwendige, auch kapitaldienliche Neuorganisation des Stoff- und Energiehaushaltes. Aber dieser Green New Deal ist nur eines der beiden großen Reformprojekte. Das zweite ist die Regulierung der Finanzmärkte. Selbst Spekulationsweltmeistern wie George Soros ist längst angst und bange angesichts der Gefahr, dass große Vermögen auf demselben windigen Weg, auf dem sie gewonnen wurden, wieder verloren gehen werden. Kapitalismus braucht einigermaßen kalkulierbare (auch: Finanz-)Märkte. Die Flucht großer Geldmassen in die Zirkulation könnte absehbar dysfunktional werden. Müssen sie in die Produktion zurück, wächst die Nachfrage nach Arbeitskraft, damit vielleicht auch die Stärke der Gewerkschaften. Die werden es allerdings zunächst mit dem Versuch zu tun haben, Sinken der Rendite in der Spekulation durch weiteren Druck auf die Löhne und Ausschlachtung des Staates aufzufangen. Aber dieses Abenteuer könnte ebenfalls an Grenzen stoßen: Sinken der Nachfrage ist auf Dauer auch schlecht für den Profit.
Es sind also künftige Situationen vorstellbar, in denen das „Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit“ gar nicht mehr so wirklichkeitsfern klingt wie heute. Lesen Sie es also rechtzeitig. Klicken Sie unter Manifest
© Georg Fülberth
In: konkret 7/2011. S. 26 f.
Bild: Demonstration gegen die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern (Leipzig, 6. April 1991, © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
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