Die prekäre Beziehung von Comics und Film und die dunkle Romantik des Neoliberalismus im neueren Comic-Kino
Erzählen in Bildern
Am 5. Mai 1895 erschien in der von Joseph Pulitzer herausgegebenen New Yorker Zeitung Sunday World ein Bildstreifen um einen rotzfrechen Straßenjungen, den der Zeichner Richard Felton Outcault nur mit einem Nachthemd bekleidet in der Stadt herumstreunen ließ. Nach dem Ort, an dem sein Held sich herumtrieb, nannte Outcault seine Bilderserie »Hogan’s Alley«.
Seinen Namen gewann der erste Comic-Held aus dem neuen Farbverfahren, das Pulitzer ausprobierte und das die Zeichnungen in einem hellem Gelb erstrahlen ließ: »The Yellow Kid«.
Am 10. Juni des Jahres 1895 führten die Brüder Auguste und Louis Lumière im Börsensaal zu Lyon eine Vorrichtung vor, mit der man fotografische Bilder in Bewegung aufnehmen und projizieren konnte. Sie nannten diesen Apparat »Cinématographe« und zeigten damit in den nächsten Monaten in Paris vor zahlendem Publikum Filme wie »Arbeiter verlassen die Fabrik Lumières« oder »Der begossene Rasensprenger«. Das Publikum wollte vermutlich so sehr die Wunder der Welt sehen wie Mademoiselle Bina und ihren weltberühmten Schleiertanz.
The Yellow Kid war die erste Kultfigur des Mediums Comic. Sie wurde eingesetzt zum Verkauf von Keksen und Zigaretten, vor allem benutzte Pulitzer den ebenso vulgären wie populären Proletarier für seine eigene Zeitung. The Yellow Kid bekam ein eigenes Brettspiel, und ein Musical wurde ihm gewidmet. Zugleich zeigten sich gute Bürger empört über den rüden Jargon und verlangten ein Verbot, nicht nur der Figur, sondern gleich der ganzen Erzählweise.
Zu diesem Zeitpunkt aber hatten Pulitzers Konkurrenten bereits die Idee aufgegriffen, neue Leser mit Bildgeschichten aus den Slums zu erschließen. Auf »Hogan’s Alley« folgte »McFadden’s Flats«, und mit »The Kalsomine Family« kam die erste afroamerikanische Comicfamilie. Ein Format hatte das amerikanische Publikum erobert, von den Ghettokids bis zu den Uptownbürgern, von den harten Metropolen bis in die verschlafenen Provinzen. Wie das Kino musste auch dieses Medium nun den Marsch aus den Ghettos der Einwanderer in die Mitte anständiger Bürgerlichkeit finden. Das ist die Linie von Yellow Kid über Mickey Mouse zu Superman.
In der Ideologiefalle
Im Zeitungskrieg zwischen Pulitzer und Randolph Hearst verlor das neue Medium seine politische Unschuld. So ließen sich etwa Yellow Kid und seine Kollegen für die Propaganda zum Amerikanisch-Spanischen Krieg einspannen. Dasselbe geschah zu dieser Zeit mit dem anderen neuen Medium. »Tearing Down the Spanish Flag« war 1898 einer der ersten amerikanischen Filme überhaupt betitelt, und er löste neben der Begeisterung für die bewegten Bilder einen patriotischen Rausch aus. Der Regisseur, James Stuart Blackton, stellte selbst darin einen heldenhaften Infanteristen dar, der die Fahne des Feindes herunterreißt, um an ihrer Stelle die Stars and Stripes zu hissen.
Kriegerische Aktion scheint die Phantasie schon der Filmpioniere beflügelt zu haben. Jedenfalls entwickelte der Engländer James Williamson in »Attack on a chinese Mission Station« (1901) eine erste rudimentäre Form der Montage verschiedener Einstellungen der Kamera, um das Geschehen dramatischer zu machen. Und in Deutschland konnte man bald darauf Kaiser Wilhelm als ersten heimischen Filmstar bewundern.
Comics und Film als neue Massenmedien entstanden aus einer verrückten Mischung von anarchischer Infantilität, sozialem Realismus und militaristisch-politischer Propaganda. Von dieser Mischung haben sich beide Medien nie vollständig verabschiedet. Wenn sie einander begegneten und sich vermischten, haben sie sich ihrer in besonderer Weise erinnert.
Comics und Filme haben einander seither immer wieder befruchtet. Nicht immer war dieser Dialog besonders glücklich. Comicfilme galten nicht ganz zu Unrecht als der kid stuff unter den Filmen (lausige Schauspieler in lausigen Kostümen reden lausiges Zeug), und die Übernahme von Filmstoffen beraubte das Medium Comic seiner Eigenständigkeit.
Hinzu kommt vielleicht, dass man beide Bildmedien immer als ausgesprochen anfällig für Manipulation und Propaganda angesehen hat. Denn beide haben eine verwandte Art, mit Zeit und mit Raum umzugehen, aber auch mit Körpern. Was uns als schreckliche Ansicht in Filmen von Leni Riefenstahl und in Skulpturen des faschistischen Bildhauers Arno Brekers begegnet, treffen wir auch in amerikanischen Comics wie »Flash Gordon« oder »Tarzan«.
Am Anfang des Jahrhunderts kehrten beide Medien noch einmal zu ihrer zivilen Gestalt zurück. Seit dem Jahr 1907 hatten die meisten amerikanischen Zeitungen tägliche Comics, und seit 1912 erschien kaum noch eine ohne eine tägliche ganze Comicseite. Neben den Reihen um die erfindungsreichen Kids wurden nun Tierserien beliebt.
Die Geschichte der Comics kann man auch schreiben als die der fabulösen Distanzierungen. Der Comic, der Cartoonfilm und der Realfilm jedenfalls bildeten einen Zusammenhang in der nach oben mehr oder weniger offenen Kinderkultur der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre. Vom »Schatz«, den man zuhause hortet, an geheimem Ort, wo niemand die Comicsammlung finden kann, über die mehr oder weniger schuldigen Versuchungen der Samstagsvorstellungen bis zu den großen Events, welche die zerfallene bürgerliche Familie vor der großen Leinwand noch einmal vereinten. Scheinbar glücklich. Aber längst in einer Schattenfalle der Ideologie.
Erzählzeichen
Dass die Erzählweisen von Comic und Film einander verwandt sind, ist immer wieder betont worden. In beiden Fällen handelt es sich um Bewegungsbilder, in beiden Fällen ist die Komposition von Syntagmen (Kapitel, Szene, Einstellung, Bild, Element) mit Paradigmen (Text, Farbe, Perspektive etc.) verknüpft, die ihren besonderen Wert aus den Wiederholungen und Variationen ziehen.
Spätere Comics wie »Asterix« oder »Sin City« machten die Wiederholungs- und Variationsmontage zum eigentlichen Inhalt: Die spiralförmige Erzählung spricht unter anderem davon, dass es keine Geschichte gibt, Erzählen ist kein Fortschreiten und Auflösen mehr, sondern ein Rumoren in fixen Systemen.
Zugleich ist der Comic dem Fotografischen verwandt und damit dem Filmischen geradezu entgegengesetzt. Das Panel eines Comics verhält sich wie der »eingefrorene Augenblick« einer Fotografie und wie die Bewegungsästhetik des Filmischen. Die Dauer des »Lesens« wird nicht wie im Film durch die Dauer bestimmt, die ein Subjekt dem Ding vor der Kamera verleihen will, sondern durch die Dauer der Aufmerksamkeit, die es erzählt. Ein »gutes« Comicbild ist daher eines, das eine Lesedauer erzeugt, die vorwärts treibt, ohne zu hetzen. Ein zu schnell lesbarer Comic macht ebenso unzufrieden wie einer, in dem es nicht recht weitergeht und die Schönheit des Einzelbildes den Fluss der Lektüre stört.
Die Komposition eines Panels (zumindest bevor mit splash panels und anderen Auflösungen experimentiert wurde) ist eine syntagmatische Einheit. Eine Bewegung ist nicht kleiner Teil einer Gesamtbewegung, sondern vielmehr Pose, die die Bewegungsenergie enthält, hierin der griechischen Plastik nicht unähnlich. Während der Film die Bewegung verflüssigt, zementiert der Comic sie und schafft dabei das Bewegungsbild als heroische Metapher.
Damit ist die Unschuld, die das Medium schon in der politischen Ökonomie verloren hat, im Übrigen auch ästhetisch beim Teufel. Das Comicbild schafft eine Ordnung, von der der Film erst erzählen muss, eine Ordnung der Geschlechter, Ordnung der Klassen, Ordnung der Technologie, Ordnung aber auch im eigenen Blick: Kontrolle versus Auslieferung. An einem Punkt der Hingabe aber verschwimmen hier wie dort Kontrolle und Auslieferung.
Wenn der Comic seine ideale Lesegeschwindigkeit erreicht hat, ist er in der Tat einem Film verwandter als einem Bilderroman. Auch jenseits von ökonomischen Strategien und technischen Verknüpfungen bewegen sich Erzählweisen aufeinander zu. Die ästhetische Ökonomie verknüpft die politische mit der sexuellen Ökonomie.
Auf dem Weg zum Metamedium
Das totale Medium spukt in unseren medialen Alpträumen, in der Science Fiction. »Big Brother«, bei dem der manipulierende Bildschirm zugleich Kontrollkamera war, erschien nur als besonders drastisches Bild. Menschen, die in einem kapitalistischen Terrorstaat vollständig von einem entgrenzten Medium beherrscht werden, sind als Alptraum des totalen Konsenses verrückterweise Konsens-Bild in der Konsensmaschine (als käme selbst das Medium nicht ohne Drohgebärden aus: »Wir können auch anders!«)
Das Bild indes ist so verbraucht, dass es sich selber in einer merkwürdigen Idee von Ironie verdoppeln muss; es wird Metapher der Metapher. Und was »Kult« ist, »cool« und »stylish« meinethalben, positioniert sich viel weniger gegenüber »dem wirklichen Leben« als gegenüber dem Medienrest.
Die Konkurrenz der Medien untereinander war nicht zuletzt ein Ordnungsfaktor in der Wahrnehmung. Zudem war es eine Hoffnung darauf, dass eine in einem Medium unterdrückte »Wahrheit« (die Korruption der Politiker vielleicht oder die Planung eines Krieges, die Verseuchung der Welt oder die traurige Lächerlichkeit einer bürgerlichen Kleinfamilie) in einem anderen wieder auftauchen würde. Oder dass eine als »Diskurs« zensurierte Aussage als »Metapher« wieder auftauchte (wie dass der Zynismus des Neoliberalismus in »Sin City« zu sich käme).
Tatsächlich wird mit der Verschmelzung der Medien die Auflösung der Unterscheidung zwischen Abbild und Metapher, zwischen Dokument und Fiktion, zwischen Spiegel und Maske, zwischen Erzählung und Modell vorangetrieben. Eine Artikelfolge in der Bild-Zeitung funktioniert nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie eine Soap Opera, die nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie eine Comicsaga funktioniert. Auf der anderen Seite funktioniert eine Artikelserie im Spiegel oder in der FAZ zunehmend nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie die in Bild. Übrigens glauben wir nicht mehr recht an den Distinktionsgewinn. Meine Zeitung macht schon lange keinen Mann von Welt mehr aus mir, geschweige denn einen klugen Kopf, weshalb ich auch mehr über die Welt aus einem 40 Jahre alten Micky-Maus-Heft als aus dem neuen Spiegel erfahre.
Jede größere Katastrophe erzeugt ohnehin längst eine jener Meta-Bildererzählungen, in denen sich die einzelnen Medien untereinander nur noch als Verstärkungen und Verspiegelungen, keineswegs aber als diskursive Korrekturen oder gar als Kritik verstehen können. Die Demokratie sieht aus wie Sabine Christiansen, die Geschichte wie eine Autobombe und das Schicksal wie eine Flutwelle. Aber Batman sieht aus wie Batman. Der Gezeichnete ist die Metapher der Identität. Der Schatten überlebt nicht nur die Ware, sondern auch den Warenproduzenten.
Die Verschmelzung von Comic, Film und Computerspiel hat demnach neben dem markstrategischen und dem technologisch-avantgardistischen auch einen symbolischen Wert. Die Verknappung der Ressourcen freilich entwickelt sich zu einer absurden Falle zwischen den Gewinnern und den Losern, und mehr noch: den Leuten, die in dem System gar nicht mehr antreten.
Peter Jackson ist Regisseur zugleich des Super-Recyclings von King Kong und des pünktlich zum Start herausgebrachten Computerspiels, während das Story Board Vorlage für die Comicversion ist. Die Bildwelten haben kein Zentrum und keine Architektur mehr, sie bewegen sich vielmehr auf einen neuen Zustand des rasenden Stillstands zu: Raserei des Filmischen, Stillstand-Pose des Comic.
Natürlich steht dem wieder etwas entgegen, das wir als »Fetischcharakter der Comicbilder« bezeichnen können. Es ist da etwas, das sich ganz buchstäblich der »Auflösung« widersetzt. Die Metapher der Identität (die Metapher der ewigen Jugend) widersetzt sich der filmischen Auflösung und fordert so etwas wie eine neue ästhetische Strategie. Drei Filme der jüngsten Produktion mögen diesen Prozess beschreiben, in dem die neue entgrenzte Erzählweise so nahe scheint, wie sich ein ästhetischer Eigensinn der Medien abzeichnet.
Zeichenrausch
Comicfilme sind teurer Kinderkram für die globalisierte Fast-Food-Kultur; auf den ersten Blick Technologiestürme im Kinderzimmer. Auf den zweiten Blick aber ist die Beziehung der beiden visuellen Medien kreativer und widersprüchlicher. Neben dem Belanglosen und Korrupten entsteht da immer wieder etwas, das einen Blick in die Zukunft der Bilderkultur erlaubt: Die metaphysischen Schatten der Waren scheinen in die Wirklichkeit zurückzukehren, in eine Welt des absurden Verfalls in »Batman Begins«, wo das Kapital buchstäblich das Leben zerfressen hat, in einen faschistischen Kapitalismus in »Immortal«, in eine barbarische Korruptions- und Gewaltwelt von »Sin City«.
Drei Filme, die sich über die profunde Rettungslosigkeit der wirklichen Welt einig sind, aber vollkommen unterschiedliche Reaktionen darauf zeigen. Batman will seine Stadt erneuern, zurück zu alten Werten gelangen, aber vorher muss er dem Impuls widerstehen, den ganzen Scheiß zum Teufel gehen zu lassen.
Alexander Nikopol will als einzelner in der Welt überleben, die nicht die seine ist, sich als moralisches Subjekt bewahren und als freies, und vielleicht sucht er ja auch die Liebe. Die Helden von Sin City dagegen suchen den Abschluss. Sie töten und wollen getötet werden. Schmerz, Schmutz und Blut sind nicht mehr Krisensymptome, sondern Elemente des Lebens selbst.
Alle drei Filme nutzen das neue Idiom, nicht mehr verfilmter Comic, sondern Comic/Film, um dem Neoliberalismus eine letzte, dunkle Romantik zu verpassen. Im Kino muss man an Comics glauben, wenn man noch an das Subjekt glauben möchte. Und woran sollte man sonst glauben?
»Sin City« entstand nach der düsteren Saga von Frank Miller, der neben Robert Rodriguez auch als Regisseur fungiert (mit Beistand von Quentin Tarantino), und überschreitet alle Grenzen von Kinorealismus und -simulation. Das Filmische passt sich dem Comic ein, und das mit mehr als einem trickreichen Nebeneffekt: Sadismus und Gewalt mögen sich im Switch von einer Sprache in die andere neuen Raum erobern; es ist Roger Rabbit für seelenkranke Erwachsene und geschundene Straßenkinder. Man empfindet den größten Rausch der Identität, wenn man sich selber vorkommt wie eine Comicfigur.
Christopher Nolan hat in »Batman Begins« den umgekehrten Weg gewählt. Er unterwirft den Comicmythos in all seinen Verzweigungen einer sozusagen radikalen Verfilmung. Zwar beschleunigt auch er die großen Syntagmen, springt in den Zeitebenen und vor allem: lässt Trauma und Erinnerung das Gegenwärtige überfluten, aber er erklärt die heroische Pose, die statuarische Maskerade, auf die man in »Sin City« geradezu hinauswill, aus dem filmischen Fluss der Bilder. Er zeigt sogar die heroische Pose als Maskerade der Angst. In »Immortal« schließlich hat der französische Comic-Künstler Enki Bilal seine ganz persönlichen Visionen vom Ende der Welt in einen Film übersetzt, der sich nicht minder von den Bilder- und Erzählgewohnheiten verabschiedet. Als wolle er beweisen, dass sich Comics eins zu eins in Film übersetzen lassen.
Alle drei Strategien auf der Suche nach der neuen Comic/Film-Sprache haben einiges für sich und anderes gegen sich. Im Kino kann man derzeit das Entstehen eines neuen Bilder-Codes beobachten. Was man darin über den inneren Zustand unserer Wirklichkeit erfährt, ist höchst beunruhigend. Der metaphysische Schatten der Ware kehrt in die Welt zurück, von Schuld, Angst, Scham und Zorn getrieben, sieht, was er angerichtet hat: Sauve qui peut (la vie). Oder das Bild, wie man es nimmt.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 29, 07/2005
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