Eine ästhetische Ökonomie der Medien im Kapitalismus ließe sich in fünf Kapiteln erzählen
Die Herausbildung der industriell gefertigten popular culture aus Teilen der bürgerlichen Kultur (Melodrama, Roman, Oper, Tafelbild) und Teilen der Volkskultur (Improvisation, Tanz, Volksheldenlegende, Ehrencode); aus Teilen von religiöser Propaganda und aufklärerischer Impulse, aus Diskursen von Macht und Gegen-Macht.
Popular culture hebt die Klassen nicht auf, auch wenn sich »Unterhaltung« gerne klassenlos gibt, sondern internalisiert den Klassenkampf und zentriert die Werte auf ein mehr oder weniger imaginäres Kleinbürgertum. Umgekehrt ist die Konstruktion des jeweils neuen Kleinbürgertums nicht ohne popular culture zu denken. Wenn die Medien träumen, träumen sie ein flottes, träges, hysterisches, universales Kleinbürgertum, das auf ewig mit der Synchronisation von politischer und sexueller Ökonomie beschäftigt ist.
2.
Die Konkurrenz und wechselseitige Ausbeutung von bürgerlicher Kultur und popular culture, der Widerspruch zwischen medialer Marktentwicklung und dem Kampf gegen »Kolportage«, »Schmutz und Schund« bis zur Kapitulation des so genannten Bildungsbürgertums vor dem medialen Mainstream, verbunden mit der Hysterisierung der Peripherien.
3.
Ausbreitung der popular culture als nationale und später internationale Konsens-Fabrikation. Vertikale Strukturen der Medienmacht und Konkurrenz der Medien untereinander. Die großen Studios etwa beherrschten den Filmmarkt durch die Kontrolle von der Produktion über Verleih bis zum Endverbrauch des Films in den Kinos. Sie kontrollierten über eigene Agenten und Zeitschriften aber auch Echo und Begleitung ihrer Ware in den Printmedien. Jedes Medium der popular culture profilierte sein Angebot aber gerade dadurch, dass es sich anpries als das, was das jeweils andere Medium nicht konnte. In der Konkurrenz mit der Zeitung wurde das Radio schneller; in der Konkurrenz mit dem Radio wurde das Kino luxuriöser; in der Konkurrenz mit dem Fernsehen wurde es größer, breiter, lauter.
Comic Strips wiederum zeigten »unmögliche« Dinge, die mit den Mitteln des traditionellen Realfilms nicht oder nur auf unbefriedigende Weise nachgeahmt werden konnten. »Superhelden« sind nicht nur die Reaktion auf gesellschaftliche Zensur, eine freiwillige Selbstkontrolle gegen »Sex & Crime« und gegen »die Verführung der Unschuldigen«, wie das berühmt-berüchtigte Buch von Fredric Wertham hieß, auf das die damalige Gesellschaft so gewartet zu haben schien wie später auf Neil Postmans »Wir amüsieren uns zu Tode«. Sie sind auch Reaktion auf eine mediale Konkurrenz.
4.
Die Auflösung der vertikalen Strukturen und die Strategien der »medialen Multiplikationen«, die mit der Renaissance der amerikanischen Blockbuster-Filme einen ersten Höhepunkt erreicht. Ein Film, der nicht mehr in Konkurrenz mit anderen Medien entsteht, sondern im Gegenteil so viel als möglich von ihnen ansaugt und so viel als möglich in ihnen fortsetzt, während er zugleich in erbitterter (um nicht zu sagen: tödlicher) Konkurrenz mit anderen Filmprojekten ähnlicher Größenordnung steht.
Ein erfolgreicher Blockbuster nutzt den Printmedien, dem Fernsehen, den Computerspielen und der Spielzeugindustrie, und er killt andere Filme, vor allem auch solche, die zu einer erfolgreichen Medienmultiplikation nicht taugen. (Im klassischen Hollywood-Modell verhielt es sich genau umgekehrt, und das, weiß der Himmel, verändert auch die Form des metaphysischen Schattens der Ware.)
Ein Signal dafür war das öffentliche Schlachten eines so »reinen« Films wie Michael Ciminos »Heaven’s Gate«. Dagegen waren Filme, die sich in Comics fortsetzen (»Star Wars«, »Robocop«), und Filme, die nach populären Comic-Serien entstanden wie »Superman«, »Batman« oder »Spiderman«, nicht nur erfolgreich, sondern bekamen auch das mehr oder weniger ironische Wohlwollen der Kritik. Schließlich ging es um etwas »Neues«.
Die Strategien der Medienmultiplikation hatten freilich auch fatale Folgen. Konzentration auf wenige Produkte, zyklische Verarbeitung von ganzen Bildwelten, eine Erosion vor allem der mittleren Genreproduktion und eine Spaltung zwischen Blockbuster und Independentfilm, die schließlich zu einer Spaltung der Film-»Sprachen« führen musste. Die Produktion der popular culture ist mit dem Blockbuster-, Merchandising- und Crossover-Projekt also von einem System der Bewegungen in ein ausschließlich bewegtes System gewandelt. Der Flop eines avisierten Blockbusters reißt nicht nur einzelne Produktionssegmente, sondern ganze Vermarktungsketten in den Ruin, macht aber auch Platz für den nächsten Versuch. Die Kehrseite ist eine Strategie, nur sichere Elemente zu verwenden und eine Medienware nicht nur auf dem Markt zu verkaufen, sondern vorher gleich den ganzen Markt zu kaufen, wie Groucho Marx das Schlachtfeld für seinen Krieg zu mieten pflegte.
Zum ernsthaften Problem wird der rasende Stillstand. Im Comic-Kino unserer Tage entgeht man ihm durch einen simplen Trick: Man lässt eigensinnige, jüngere Regisseure auf Megaproduktionen los, die die Herausforderung annehmen, zugleich einen Touch zu bewahren, ihrer Generation eine Stimme zu geben und der Verantwortung gegenüber dem ökonomischen Mammutunternehmen gerecht zu werden, wie Sam Raimi (»Spiderman«), Ang Lee (»Hulk«) oder Chris Nolan (»Batman Begins«), die es ja in der Tat verstanden, das eine oder andere Element humanistischer Intelligenz in ihre Stoffe zu bringen.
5.
Das letzte Kapitel der ästhetischen Ökonomie der Medien greift vor auf die Zeiten des Post-Neoliberalismus, jene Art des Terrorkapitalismus vielleicht, die wir in Enki Bilals »Immortal« sehen. An die Stelle der Multiplikation von Begriffen, Bildern und Erzählungen in den unterschiedlichen Medien tritt die allfällige Arbeit an der Kreation eines grenzenlosen, polyvalenten Megamediums. Die Warenschatten suchen nach einer göttlichen Vereinigung, wie die mechanischen Mordwesen sich zum Maschinengott in »Matrix« formen.
Die Schaffung neuer Erzählweisen durch eine Verbindung der Medien ist ein Prozess, der sich über Versprechen der Innovation auf ein Megamedium zubewegt, in dem es am Ende mit jeder Hardware möglich ist, in die angebotene Software zu gelangen. Nur so ist es möglich, aus einem Markt des scheinbaren Überflusses wieder einen Markt des Mangels, aus einem Nachfragemarkt wieder einen Anbietermarkt (einen Konzernmarkt par excellence) zu machen. Wie wir aus immer größeren Fenstern auf immer weniger Welt schauen, sollen wir nun mit immer »höherwertigen« Apparaten auf immer weniger Bilder der popular culture sehen.
Das eine Projekt ist dabei die Verschmelzung von Computerspiel und Film, das andere die Verschmelzung von Comic und Film und eine dritte die Verschmelzung von Fernsehen und Film (auch hier ist die DVD geeignet, das amphibische zu unterstützen). In den USA gibt es nicht nur Serien, die in ihren Produktionskosten an die großen Filme herankommen und teilweise von denselben Special-Effects-Firmen betreut werden, es gibt nicht nur Projekte, wie Mike Nichols‘ »Angels in America«, die renommierte Regisseure und Stars anziehen, sondern es verschwindet auch das Gefälle der sophistication. Die erste Ordnung der Bilder löst sich in der zweiten auf. Die Bilder ordnen die Welt, ohne noch eine Ordnung in die soziale Praxis zu bringen.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in jungle world Nr.29, 07/2005
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