Wieder einmal beleidigen Wahlplakate Auge und Verstand.
Als wäre unsere Welt nicht hässlich genug, wird sie derzeit wieder von Wahlplakaten beherrscht. An ihnen kann man schön beobachten, wie das geht: einen Begriff, ein Bild und eine Erzählung so zusammenzubringen, dass ein scheinbar bedeutendes Ensemble entsteht, das wahlweise überzeugend oder unausstehlich ist.
Das Wahlplakat ist ein merkwürdiges Hybrid der Macht. Einerseits ist es eine direkte Ableitung jenes Bildes des Herrschers und der Herrschaft, die wir als Denkmal und Stellvertretung kennen. Ein Hut war es beim Gessler, den der Tell nicht gebührend grüßte, das Abbild des Cäsars ist in unseren Römer-Phantasien, nicht ehrerbietig genug gegrüßt, Anlass für weidliches Foltern. Das Wahlplakat (jedenfalls im Grinsekopf-Genre) stellt also einerseits das Herrscherbild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit dar, andererseits ist es eine grammatische Umkehrung: Nicht wir müssen das Bild des Herrschers grüßen, vielmehr scheint der Herrscher vom Wahlplakat uns, den demokratischen Souverän, zu grüßen.
Nun stellt aber das Plakat den Herrscher nicht dar, es schlägt ihn vor. Es ist der mögliche, der Noch-Nicht-Herrscher, oder anders gesagt: ein Herrscher, der alles, was Konsens ist, in seinem Bild belässt, und alles heraushält, was auch in der Demokratie Gewalt sein muss. Daher erscheint auf dem Plakat der mögliche Herrscher in Gestalt eines netten Nachbarn aus dem Schrebergarten. Als einer von uns. Als schauten wir nicht auf ein Bild, sondern in einen Spiegel, als stünde kein Machtverhältnis zwischen uns.
Dieser mögliche Konsens-Herrscher muss nun in eine Erzählung eingeschrieben werden, welche den Schrebergarten in Weltgeschichte übersetzt. Eine Story aus dem Alltagsleben vielleicht. Viele Möglichkeiten gibt es nicht, es sind Allegorien der Arbeit, in denen die Notwendigkeit und das Glück des Lenkens die Macht menschlich macht. Und es sind die Familien und ihre Freizeitvergnügungen, auf denen wir sehen, wie wichtig intakte und ordentliche Beziehungen von Vater-Mutter-Kind sind. Das Bild des Herrschers, die Erzählung von Glück und Ordnung, das seine Herrschaft bedeuten wird. Und daraus also wird der Begriff: der Name des Herrschers, der Code seiner Partei, die Schlüsselbegriffe seines Programms. Worte.
Die aufwändigen Wahlplakate früherer Jahre wären uns heute zu kompliziert, sie müssen nicht mehr so sehr im Vorübergehen, sondern im Vorüberfahren »gelesen« werden. Daher ist das heutige Plakat nicht nur im Bild (weiblicher oder männlicher Grinsekopf / männlicher Ernste-Miene-Kopf), sondern auch in der Erzählung radikal vereinfacht. Parteicodes werden eher durch eine Konkurrenzschlacht verschiedener Farbtöne ersetzt. Wir sollen nicht mehr CDU wählen, sondern »eine Art blau«.
Das Reduzierte und Fragmentarische aber führt dazu, dass Plakate nicht mehr als einzelne Botschaft gelesen werden, sondern als serielle Wiederkehr. Man könnte sagen: Wahlplakate werden Bewegungsbilder, sie werden Film. Das Blaue und das Orange beim Vorbeifahren an Laternenmasten oder Alleebäumen gibt ein flackerndes Bild, das nicht Aussage, sonder pure Gegenwart signalisiert. Es herrscht sozusagen ein Potenzwettkampf; nicht um eine Botschaft geht es so sehr, als darum, wer mehr hat, wer nach Akten praktischer Kritik schneller für Nachschub sorgt, wer die größten Räume besetzt. Mit 35 Quadratmetern in Rostock etwa wollte die CDU ein »deutliches Zeichen im Wahlkampf« setzen. Es gilt auch hier: Das Medium ist die Botschaft. Der Sinn eines Wahlplakats liegt in seiner Wahlplakathaftigkeit, mit der es Bereiche des öffentlichen Raums besetzt.
Natürlich gibt es Alternativen. Denken wir an Gerhard Seyfrieds Plakat für Christian Ströbele, das zu dessen Sieg beigetragen haben soll. Es hat eine klare Aussage insofern, als es zugleich reine Erzählung und Parodie ist. Es verlangt, dass man wenigstens kurz stehen bleibt. Es geht zurück zum Bild. Und man konnte es für fünf Euro kaufen. So wäre dem Geldkreislauf durch Wahlkampf wenigstens etwas Offenheit abzugewinnen.
Wahlplakate nämlich, so scheint es zunächst, lösen ihre ikonographische Genesis, die Transformationen von Herrscherbild, Stammeserzählung und politischem ID-Code, einfach in der Form der Werbung auf. Ein Wahlplakat ist ein Werbebild, auf dem das zu verkaufende Produkt das Image eines Politikers und die Herrschaftsabsichten einer Partei sind. Damit wäre die Verbindung von Politik und Wirtschaft wieder einmal in ein überzeugendes Bild gebracht: Die Wahlplakate erklären als Hypertext den Zusammenhang von politischer Macht und ökonomischem Interesse.
Ihr strategischer Wert dürfte jedoch auch in Parteizentralen umstritten sein. Diese Art von ästhetischer Umweltverschmutzung zerstört mindestens so viel Konsens, wie sie schafft. Ein Seniorenprojekt in Bremen hat sich im vorigen Jahr die Plakate zur Europawahl vorgenommen und die analytischen Ergebnisse in eine Frage gepackt: »Halten uns die Politiker wirklich für so dumm?« Die erste Antwort auf diese rhetorische Frage lautet: Ja.
Für die zweite Antwort muss man ein wenig die Verbindung von politischer und ästhetischer Ökonomie betrachten. Wahlplakate sind eine gewaltige Geldvernichtungsmaschine. Denn mit ihnen verhält es sich schlimmer noch als etwa mit dem täglichen Fernsehterror, dem man sich mit etwas Charakterstärke entziehen kann. Wenn man darüber nachdenkt, wie ein Wahlkampf finanziert wird, würde man jedenfalls Kugelschreiber und Luftballons nicht mehr als Geschenke und vor allem Wahlplakate nicht mehr als »Informationen« missverstehen. Jedes Wahlplakat ist das Zwischenprodukt eines finanziellen Transfers. Das freilich wäre halbwegs okay, wenn es sich tatsächlich um demokratische Elemente einer ästhetischen und diskursiven Kommunikation von Herrschaft und Volk handelte. Weder »die Wahrheit« noch guter Geschmack wäre verlangt, nur das Projekt einer Einsicht, dass es einen Unterschied zwischen unserer Zukunft und Zahnpasta gibt.
Der Reihung von Begriffen wie Freiheit, Frieden und Wohlstand, die in den achtziger Jahren so austauschbar waren, dass es sogar den Urhebern selber auffiel, folgen nun scheinbar markige Parolen, die freilich, sobald man sie nur einmal wirklich liest, den Tatbestand des puren Nonsens erfüllen. Sie sind immer noch leer, widersinnig oder idiotisch, aber im Gegensatz zu früher kommen sie mit einem rotzigen Trashappeal daher. Als wäre nun endlich auch im Wahlkampf das Zeitalter des Privatfernsehens angebrochen.
Zum Bildnis des Herrschers als freundlicher Schrebergärtner und nach der Glückserzählung kommt etwas Drittes hinzu. Etwas, das wir aus Kriegen und religiösen Auseinandersetzungen kennen: die Schmähung des Gegners. Was nützt ein Herrscher, wenn es keine Feinde gibt? Früher führten die Wege der anderen zum Beispiel ins Maul des lüsternen Bolschewiken. Heute gibt es für die Darstellung des Feindes nicht einmal mehr die passenden Farben. Im Gegensatz zu früheren Epochen gibt es für das Böse, vor dem uns Angela, Gerd und die anderen beschützen wollen, keine Bilder mehr. Es sei denn, der jeweils gegenüber hängende Grinsekopf wäre schon genug des Bösen.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in jungle world Nr. 34, 08/2005
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