Achim Szepanski, der ehemaligen MILLE PLATEAUX-Chef und Deleuze-Fan hat in den letzten Jahren viel geschrieben. „Saal 6“ ist der erste Roman seiner Frankfurt-Trilogie.
Achim Szepanski : Saal 6
756 Seiten, Paperback, rzm 001/ Rhizomatique
24 Euro
ISBN978-3-98 13227-2-9
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Leseprobe: Saal 6
Dieter, der in der Nähe des Eingangs 4/5 einen kleinen Papierkorb aus Aluminium auf dem Kopf jongliert und gleichzeitig versucht, eine Art Stepptanz mit einem schwarzen Spazierstöckchen in der rechten Hand jonglierend auf das Handelsraum-Parkett hinzulegen (ungefähr 70 der derzeit 94 anwesenden Broker lieben ihren, wie sie sagen, kleinen homunkularen Vollidioten, was eher ein ironisches Apophthegma als etwa die ephemere Affirmation des Habitus ihres Brokerkollegen darstellt), Marcus, der aus dem quadratischen Schrank aus gebürstetem Stahl ein Pornoheft wühlt und mit fliehenden Augen zurück zu seinem 4qm großen Arbeitsplatz geht, eingekeilt zwischen Hartmut und Wolfgang, auf Höhe ihrer Gesichter jeweils neun Multiple-Choice-Monitore, wobei auf den Festplatten der Computer fast alle derzeitig offiziell verfügbaren intelligenten finanzmathematischen Programme zur Bewirtschaftung von Finanzmarkttransaktionen und Derivatstrukturierungen gespeichert sind (auf einem Bildschirm rechts in der dritten Reihe poppt gerade ein Mainframe-Computerfeld auf, auf dem Serien von schwarzen Zahlenkolonnen wie Heere flinker Heuschrecken von links nach rechts fließen, Sekunden später schon wie träge Echsen, während ein Bildschirmschoner auf Bildschirm 4 wohlproportionierte nackte Blondinen, die einander betatschen, zeigt); Denis, der lauthals die Betrachtung eines ihm von der Verlaufsform her äußerst lieb gewordenen Tages-Linien-Charts mit dem Slogan Nur der wie ich was richtig in der Hose hat, wird das gute Girl bis zum Schädelbasisbruch f… kommentiert, woraufhin Walter, ein echtes Ass im Aktien-Sales-Business, tief röhrend ausatmet und dann ein Stück Burger in den Papierkorb spuckt, Konrad, der ein schätzungsweise acht Meter langes Zimmer-Golfspiel in einem der sechs schmalen circa vierzig Meter langen Flure installiert hat und wegen der erbärmlichen Trefferquote von einer stets soigniert gekleideten Controllerin verquerer Akademikerkopf geschimpft wird, Marc, der gerade auf dem Betriebstelefon von Denis die letzten von diesem in Sekundenschnelle platzierten Market-Orders auf dem Handelsdesk in London abhört, Geld/Brief-Kurse für den Yen sowie ein Handelsgespräch über zwei Optionskontrakte und drei Futurekontrakte, einen Deal über das 80 Millionen Budget eines Fondsmanagers mit 80%iger Kapitalabsicherung und 20%igem freien Kapital bei 75%iger sicherer Verzinsung, bei der die Erhöhung des Zinsspreads in den nächsten beiden Jahren eine entscheidende Rolle spielen soll, Martin, der regelmäßig nach dem Morgenmeeting im 22. Stock des Esperanto-Buildings beim Lesen der Candlestick-Charts oder der Tickerdaten von Reuters eine signifikante Allergie gegen den parfürmierten Zwiebelgeruch seines Nachbarn, eigentlich gegen Suchtsymptomatiken jedweder Art entwickelt, alle Gedanken in seinem Hirn nur noch Begleitgeräusche in einem auf kodierte, diskrete und fließende Daten und Zahlen konzentrierten Gehirnkopf, alle Empfindungen nicht weniger Gehirn als die Begriffe, wobei die Empfindungen für Sekundenbruchteile die Schwingungen der visuellen Reizmittel kontrahieren und selber schwingen, bis sein Subjekt-Hirn den Schalter wieder umlegt und die Kraft aufbringt, den Top Market Maker rechts neben ihm zumindest visuell auszuspionieren, um vielleicht das Spiel der Positionen, wenn dieser beispielsweise eine Long Call Position mit einer Short-Future Situation absichert, noch irgendwie erfassen zu können, und …, der vierundzwanzigjährige Newcomer Mango, sein Körper oft eingetaucht in den Geruch von Angst, extrem anfällig für Fastfoodorgien mit an- und abschließenden horizontalen Orgien des Verdauens oder des Sodomisierens, anfällig für ADHS, anhaltende Chilloutberieselung und für schier eine Ewigkeit andauernde, jambusresistente Selbstgespräche, begleitet von den immensen unbewussten Anstrengungen, den eigenen instabilen sensomotorischen & psychosomatischen Apparat beim Geldverschieben per Mouseclick von der Übung des Konzentrierens und sekundengenauen Zuschlagens abzuspalten, Serge, der es echt nicht ab kann, wenn andere Händler ihn während des Hedgens mit Face-to-Face-Feedbacks versorgen, wo doch der Handelscomputer den menschlichen Akteur als Instanz der primordialen Beobachtung der Orderströme erfolgreich abgelöst hat, klaro – er studiert gerade aufmerksam die Form seines bernsteinfarbenen Iphones, das mit 60000 Applikationen ausgestattet ist; wichtig sind jene Applikationen komplementär denen der »Crowd Control«, die die Computersimulation von Massenpaniken modellieren und dies zumeist auf Basis von Programmierverfahren, welche sich an der Simulation biologischer Schwarmbewegungen orientieren, es handelt sich um die Generierung panikabsorbierender Architekturen, welche in einer Rückkopplungsschleife diskursiv überhöhte Befreiungspotenziale der Panik direkt wieder miteinberechnen, und dieses Modell wird auf die Erwartungslage der Marktteilnehmer und die Volatilitätslage der Finanzmärkte angewandt -, Serge mustert also das Maschinchen, wiegt es in der Hand und leckt mit der Zunge begierig über dessen Rückseite, und Pablo niest zweimal, Pablo, der ja gerne mal nicht nur krachend Plastik-, sondern auch Glasflaschen auf den Boden fallen und im allgemeinen den Dingen nicht gebührend Beachtung zukommen lässt, bis auf seine evolutionstheoretisch inspirierten Experimente (à la Darwins Modell von Variation und Selektion) im hochdesignten Apartment am Westhafen, wo er Biokampfstoffe herstellt, z.B. eine Ananas für eine paar Tage in einen Kunststoffbehälter gären lässt, um dann in kulleräugigen Tagträumen mit der abgesonderten Flüssigkeit, zweifelsohne eines der stärksten Gifte, die es auf der Welt gibt, die gesamte Prop-Trading Abteilung der Esperanto Bank, die den Eigenhandel betreibt, in Todesstarre zu versetzen, dieser Pablo vergeudet seine Zeit gerade mit einer Briefmarkenpinzette sowie einer Lupe, mit der er wahllos in ausgefransten Gay-Pornoheften die primären und sekundären Geschlechtsorgane der Kombattanten inspiziert, wobei er sporadisch mit einer in die rechte Augenhöhle geklemmten Minilupe Boolean-Daten des neu entwickelten genetischen Algorithmus CVS auf seinem Flachbildschirm mitzubeobachten versucht -; all diese Personen experimentierten gerade noch fleißigst in den Tag hinein, bis sie quasi auf ein externes Kommando, nachdem irgendjemand in den hinteren Reihen des Handelsraumes »Flugzeugentführung auf Reuters« geschrieen und ein weiterer Broker sofort »Short-Positionen im Dax-Future« gebrüllt hat, jetzt wieder wie auf einer Schnur festgezurrt, hochkonzentriert und synchronisiert vor ihren multiplen Bildschirmwänden sitzen, wobei sie noch vor dreißig Minuten gemeinsam ein finanzwissenschaftliches Tableau, Muster oder Raster auseinanderfalten oder eben die Katatonie pflegen mussten, möglicherweise laryngeale Distonie auf Abruf; manche Gesichter erstarren soeben wie in Trance, Schweißperlen auf der Stirn und am Kinn, während andere Brokergesichter mit der seelenruhigen Präzision eines Goldschmieds in Interaktion mit den Charts und Tickerdaten treten, dem elektronischen Geld als ausdehnungslosem Zeichen, monetäre Spuren, die immer von einem uneinholbar Vergangenen und Zukünftigen zeugen, den permutativen Zahlenflüssen einer beschleunigten Börsenzeit, während eine Vielzahl von Telefonen in der Salesabteilung, angekoppelt an Fondsmanager, Stiftungen, Versicherungsgesellschaften und andere institutionelle Großkunden permanent heißlaufen. Sam Kimberlay, die ritalinisiert oder cylertisiert oder wieder mal kurz vor dem Hyperventilieren ist, vielleicht am Rande einer maxillären Prognathie, baut entschlossen und systematisch ihre Short Positionen im Dax-Future auf, schickt unlimitierte Future Orders an die Londoner Börse und später an die US-NASDAQ (das zukünftige Börsengeschehen wird de facto von den Erwartungen an das zukünftige Börsensystem mitgeformt, womit diese potenzierte Zukunft nicht nur Gegenstand von Erwartung und Framing wird, sondern in die aktuelle Gegenwart hineinwirkt und aktuelle Virulenz erzeugt, auch weil Geld die Zeit zum Maßstab, aber diese selbst keinen Maßstab hat und damit nicht endgültig kalkuliert werden kann. Selbst jedes deterministische System hat einen Anteil an objektiven Unbstimmtheiten, deren Komplexitäten man nicht entkommen kann). Das gesamte Szenario im größten Handelsraum der Esperanto Bank im neunzehnten Stock ähnelt in dieser Phase einem Gruppentreffen von psychomotorisch hochgestörten und zugleich eiskalt konzentrierten Personen, die bereit scheinen, selbst den Kindesmissbrauch in Guatemala oder den Bandenkrieg in Gangaland oder den Gangbang zu handeln, Akteure, die ihre Köpfe quasi ekstatisiert und doch strukturiert zwischen den riesigen Fernsehbildschirmen an der Nordostfront und den eigenen multiplen Monitorsystemen pendeln lassen, um dann sofort wieder skulpturenhaft zu erstarren, eingetaucht in gerade Schnittfolgen und euklidische Raster in einer Art Koinzidenz mit der Dissemination oder der Kalkulation der differentiellen Effekte der Transformation von Schulden in Rendite, was sicherlich auch auf einer Vibrationsmassage der Gehirnmasse durch Zahlen beruht.
Während auf der Nordseite des Handelsraumes auf den überdimensionalen Bildschirmen die ersten Analysen der CNN-Reporter zur Flugzeugentführung über dem Atlantik zu hören sind, umkreist auf den in die Ostwand integrierten Fernsehbildschirmen eine Swiss Airlines Maschine unaufhörlich die beiden Tower der Deutschen Bank, der wolkenlose Himmel über Frankfurt in der formlosen Form eines außergewöhnlich weichen, weißblauen Tampons; die unwirkliche Szene im Luftraum über Frankfurt, wo es heute nur gelegentlich einen leichten warmen Windhauch gibt, ist von einer skopophilen Monotonie, die an experimentelle bzw. metakinematographische Kurzfilme von Er Selbst erinnert, gähnend lange und langweilige Einstellungen, quasi kristalline Zeitbilder, die jeden Hauch von erregten und erregenden Aktionsbildern gnadenlos subvertieren, antikathartische Parodien auf jene Art stinklangweiligem Kunstfilm, von deren Formeln man sich letztendlich doch wieder so gerne verführen lässt. Sam Kimberlay riecht förmlich den kerosingesättigten Stahl- und Fleischgeruch. Sam Kimberlays Gebiss plus ihre Zunge bedecken ein eisenhaltiger Belag, vielleicht eine Emission körpereigener neurochemischer Substanzen. Ihre Zungenspitze schnellt dreimal gegen den linken oberen Schneidezahn und zieht sich blitzschnell entlang der Gaumenwölbung wieder zurück, der rote Muskel ruht ungeduldig im kontaminierten Speichel, während ihr Kiefer sich wie im Zuge einer sexuellen Aktivität blitzschnell nach vorne schiebt, mehrmals, bis der hochkonzentrierte Nachbar abhold jeder emotionalen Regung wie nebenbei bemerkt, dass Sam Kimberlays Simulationen von Heidi Klum-Gesichtsgrimassen streckenweise wahrscheinlich nur dazu dienen, den Augenblick herbeizusehnen, an dem am EUREX-Markt Hunderte Millionen Euros unlimitiert auf den Markt geprügelt werden und der Dax-Future um mindestens 500 Punkte einbricht, der Ölpreis explodiert und der Goldpreis hochschnellt und so weiter, generell panikartige Verkäufe einsetzen, bis Madame Intelligent auf dem Peakpunkt, dem Gipfel des Schreckens nur noch mit Volatilität spekuliert, d. h. über den Handel mit Optionen Volatilität zu Höchstpreisen verkauft, um schon am nächsten Tag zu Dumpingpreisen Volatilität neu zu kaufen, weil eben die implizite Volatilität in Panikzeiten Punkt um Punkt am Markt steigt, wobei es wohl eher noch der Wahrheit entspricht, dass Sam Kimberlay sehr gerne das numerische Newton-Raphson-Verfahren in Paniklagen einsetzt, mit dem man iterativ das Maß für die aktuelle Schwankungsbreite eines Basiswerts über die Restlaufzeit der Optionen gewinnen kann, um dann riesige Volatilitätsgebirge zu riesigen Ungewissheiten aufzutürmen. Nichts Abgeschmackteres freilich als eine Brokerin, die in dieser Lage zu verzweifeln bereit ist oder der die Superperformance flöten geht, weil sie den Umgang mit dem ultracomputerisierten Handel einfach nicht drauf hat, womit ihre Eliminierung nur noch eine Frage der Zeit sein kann. »Du könntest kurz eine Coke trinken, wenn du Durst- und Trockenheitsgefühle im unteren Bereich hast«, sagt Denis, ein besonders geschmackloser, schwergewichtiger Banker, der meistens graue und knittrige Anzüge trägt, goldene oder silberne Ohrstecker im rechten Ohr und ein wirres Haargespinst auf dem quadratischen Kopf, und dessen sabberndes Null-Fehler-Toleranz-Gequatsche ihm im unmittelbaren Berufsumfeld den Titel eines fehlgeleiteten sekretierenden Incubus eingebracht hat, wobei seine Stimmlage im Moment tief aus dem Keller zu kommen und mächtig zu delirieren scheint.
Schulden, sagt Sam Kimberlay, sind der neue Reichtum, bevor sie für exakt eine Minute wie eine enzephalitische Nutte stöhnt, hypomanisch oder irritiert in einer Art sexueller Verzweiflung, währenddessen selbst das Rouge stark am Verschwimmen ist und der Mascara aus ihr eine plempleme Gothic-Puppe macht, die schon im nächsten Augenblick an den Grenzbereich ihres Albtraumschreiens anklopft, worauf Sam Kimberlay offensichtlich hypernervös an einem weißen Polyestertuch zu kauen oder zu nagen beginnt und dabei überlegt, wen sie denn mit ihrem vielversprechenden Trading-Talent noch alles ruinieren könnte: Stiftungen, Volker Kornmeier oder beispielsweise den Fondsmanager einer kirchlichen und sozialen Hilfseinrichtung, ein wirklich besonders fantasieloses Exemplar von besonders fantasielosen Leuten in der Finanzbranche, die in letzter Zeit im Verlauf eines Meetings seltsamerweise oder kurioserweise immer häufiger auf mindestens 150 Seiten lange Kooperationsverträge mit dem Finger deuten, um zu sagen: »Das, das will ich haben.« Laut Dr. Dr. Hanselmann wissen die auf Sam Kimberlay angesetzten speziellen Controller nicht, dass die Vorgesetzten in den oberen Etagen der Esperanto Bank wissen, dass sie weiß, dass sie tageweise ohne Limit hedgen kann, auch wenn alles über ihr P- und L-Depot läuft.
Im Großen und Ganzen ist der Handelsraum im neunzehnten Stock der Esperanto Bank ein vergleichsweise asexueller Ort, was möglicherweise erstaunlich ist, angesichts des dauerhaften Konsums von Pornomagazinen von meistens männlichen Brokern im Kontext der pulsierenden und fibrillierenden Geldströme oder der intimen räumlichen Nachbarschaft der Arbeitsplätze oder der Geilheit, um mit Hilfe der Benchmark (eine Bewertungsmethode, um den Anlageerfolg eines Portfolios zu messen) im Highsein des Hedgens sich gegenseitig zu übertrumpfen, oder dem stoischen Ablassen von verbalen Anzüglichkeiten oder dem durchgeknallten und schnellmachersüchtigen Ausspucken von Funktionen, Formeln und Slogans, plus dem nahezu orgiastischen Sog, den eine Panikmeldung auf Bloomberg oder Reuters bei den Brokern erzielen kann. Es gibt vereinzelte Fälle von Quickies in den hochgestylten und designten Toiletten, meist ungeplant und emotionslos. Sam Kimberlays Befriedigung liegt streckenweise im Vollzug. Zu bestimmten Panik-Phasen des Börsengeschehens nimmt das expektor-aktive Brausen in ihrem Kopf eine Auszeit, so dass ihr Subjektgehirn eine wunderbare Klarheit gewinnt, durchströmt von einer Denkkraft, welche ähnlich funktional und vernetzwerkt wie das Laborgeld die Glasfaserkabel durchrauscht, eine Kraft, die möglicherweise in Ketten aus geschlossenen Schleifen organisiert ist, vielleicht so ähnlich, wie man sich aus Papierringen gebastelte Girlanden zu Brokergeburtstagen vorstellen mag, die immer wieder die Macht der Verweisung reibungslos fortsetzen, wobei Sam Kimberlay sicherlich in bestimmten Extremsituationen jede Scham vor dem eigenen Ego aufzugeben bereit ist, womit jeder Aspekt des Gamblings für sie selbst gleichermaßen zu einem Objekt der Faszination wie des Traumas werden kann, auch wenn Sam Kimberlay durch eine gewisse Dosis verlustreichen Handelns und Closens öfters als ihr eigentlich lieb ist in den Stand versetzt wird, zu erkennen, dass ihre Strukturierungen und Hedgings alles andere als einzigartig sind und noch nicht einmal die Mimikry an die Fehlerhäufigkeit anderer Brokerinnen unterlaufen, denn viel zu viele Fehleinschätzungen der Deltas, Vegas, Thetas und Gammas, der Gegenwertberechnungen, begleiten ihre Art des Hedgens, im Skalpen verdammt noch mal ab und zu in eine gigantische Tendenz zur Nervosität schlitternd. Jemand hat gerülpst, wahrscheinlich kommt das bohrend tiefe Geräusch aus der langen Reihe um den Broker Denis, was aber von den Brokern weitgehend ignoriert wird, denn man befindet sich ja unter hochkonzentrierten Leuten, zu deren Geschäft es gehört, in Panikzeiten ein Rülpsen wie eine kaum beachtenswerte Synkope zu behandeln, die man nicht einmal wie ein lästiges Insekt abzuschütteln braucht.
»Mach dir nichts draus«, meint Denis, als der schätzungsweise vierzigjährige Vice President of Articulation, der die große Rating-Agentur Murphys in New York leitet, die vor zwei Wochen die Kreditwürdigkeit Portugals von AAA auf AA herabgestuft hat, und der perfekt Schlagzeug und Poker spielen kann, in Begleitung von Dr. Dr. Hanselmann den Saal betritt, während Sam Kimberlay auf dem Computerbildschirm in der Mitte der unteren Reihe ihres Monitor-Systems den Chart des IT Unternehmens Mindface Inc. untersucht bzw. beglotzt und dabei einer Praktikantin beiläufig erklärt, dass man hier Milliarden von Euros handele bzw. transferiere, aber niemals ganz genau wisse, in welchen Kanälen denn nun die Summen im Augenblick stecken würden. Man könne es in diesen Sekundenbruchteilen wieder einmal konkret mit den eigenen Augen sehen, sorry nicht wirklich sehen, aber irgendwie doch in Echtzeit genießen. Beim Highsein auf Kokain ist es manchmal ausgerechnet Sam Kimberlays Wenigkeit, die den Vice President of Articulation nahezu abgöttisch zu verehren vermag, vor allem wenn dieser, wie augenblicklich mit seiner weißen Handschuhfaust hart und konsequent gegen die Wand hämmert und dabei erklärt, Meine Güte, es wird da draußen doch noch Experten geben, die den Leuten glaubhaft verklickern können, dass die öffentlichen Schulden, mit denen die Finanzministerien das Big Business gepäppelt haben, irgendwie von Banken und Finanzinstitutionen ganz legal erworben worden sind, um den ökonomischen Zyklus nach der Krise erneut in Gang zu setzen, und wenn schon die europäischen Staaten ihre Verschuldung qua EZB finanzieren, indem die EZB die (virtuellen) Druckmaschinen anwirft und Staatsanleihen kauft, um damit vielleicht die langfristigen Marktzinsen zu senken, die wiederum Investitionen und den Konsum anschieben, und wenn zugleich die Geschenke an die Banken in den Kauf von Staatsanleihen durch die Banken zurückfließen, und wenn schon, und was denn, er schwöre ja bei Gott, dass der Staat nicht, wie es im Feuilleton allzu häufig ausgeschlachtet wird, in die Zange geraten ist, zwischen mächtigen und polizistischen Wirtschaftslobbys auf der einen Seite, die dafür sorgen, dass die staatlichen Geschenke nicht versiegen, und privaten Finanzhäusern als Gläubigern auf der anderen Seite, nein nein und nochmals nein. Weder staatliche Konjunkturpolitik noch Subventionspolitik hätten die Freifahrkarte für die phänomenale Renditeexpansion auch nur ein bisschen vage geliefert. Auf staatliche Deregulierung und überreife staatliche Geldspritzen wolle er jetzt gar nicht anspielen, oder dass die eigene Rating Agentur, welche in extenso Firmen berät, deren Produkte sie schließlich bewertet, hervorragend ihre Finanzierungsinstrumente im Kontext kybernetischer Rückkopplungen zur Systemoptimierung nutzt. Dr. Dr. Hanselmann, der für die neuesten Bankenzusammenbrüche in den USA ökonomische Transmitterprobleme verantwortlich macht, widerspricht und dementiert zugleich. Er dementiert, dass Aktieneinkäufe der Esperanto Bank in Milliardendimensionen für die gewaltige Kursrallye/den starken Aktienaufschwung an der Wall Street (mit einer neuen Aktienmarktkapitalisierung von rund acht Billionen Dollar) mitverantwortlich gemacht werden könnten, weil das berühmte Plunge Protection Team, eine informelle Übereinkunft zwischen Banken, Börse und FED auf ihren Einsatz zwar warten würden, aber vor lauter Wald die Bäume nicht sähen (?), dafür aber die FED im Alleingang mit ihren nachbörslichen Termingeschäften den Markt gestützt und infiltriert hätte. Er behauptet, dass dank den hipsten Neuromarketing-Strukturen, funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT), Magnetoenzephalographie (MEG) und Steady-State-Topography (SST) die Werbeabteilung der Esperanto Bank in den kommenden Jahren immer genauer werde prognostizieren können, warum welche Werbeansätze wo und wann genau funktionieren würden oder eben nicht. Er unterstellt bzw. verdächtigt Sam Kimberlay, dass sie in seinem kleinen Ferienhaus im Tessin, ausgestattet mit Black Care Experience Solarium zur Hyperspektralsterilisierung, in einem purpurroten Kimono und goldenen Slippern mit zierlichen Riemen auf der Terrasse von italienischen Paparazzi gesichtet bzw. fotografiert worden sei (genau wie Dr. Dr. Hanselmanns Edelprostituierte Novella, eine hochgewachsene schlanke Mädchenpuppe mit langen schwarzen Haaren bis zu den Hüften und of course Silikonbrüsten, die natürlich aus Moskau nach Deutschland infiltriert wurde und nahezu allen mythischen und klito-vaginalen Klischees entspricht, die man sich in bilateralen Bankerkreisen von den systematischen Zuwanderungsströmen weiblichen Geschlechts aus Osteuropa zusammenindoktriniert, wobei natürlich der gegenwärtige Vektoralismus bzw. die unbewusste blinde Dogmatisierung der Evolutionsdynamik der Informationskanäle und -speicher im E-Empire featuring der mit der größten Fitness ausgestatteten Individuen, ja die unbewusste Axiomatik des Kapitalismus selbst hier in der Beurteilung der segregierten und hart ausschließenden Migrationswanderungen eine nicht unerhebliche Rolle in den herrschenden Ideologien & Hegemonien spielt, ganz im Sinne des Überlebens von dem, was am besten passt, wie eben angeblich jedes individuelle Mitglied unserer Spezies in jeder Sekunde seiner Existenz den genetischen Code abliest und aus diesem überindividuellen Wissen und der Einspeicherung von kulturellen Informationen die Mittel und Zielvorgaben für seine eigene Existenz herauszupicken vermag).
Auf den Bloomberg- und Reuters Tickern erscheint inzwischen zweiminütig die Nachricht, dass die Maschine XDFR auf dem Flug New York-Dubai in der Breitengradposition -40.76566055638575 & der Längengradposition -73.95223081111908, also schon kurz nach dem Abflug von jemenitischen Terroristen gekapert worden ist, wobei aber bis jetzt die Flugrichtung unverändert gehalten, d.h. das Flugziel Dubai nach wir vor durch den unverletzten Flugkapitän angeteuert wird. Die feuchte Stirn fast auf den Monitor geklebt, bekommt Denis beim Kaugummikauen – der Kurs des Dax ist binnen Minuten um weitere 110 Punkte abgesackt –, wie er selbst glaubt, so etwas wie einen spitalen Anflug der totalen Berechnungskapazität und Entschlussfreudigkeit, dass er es selbst kaum fassen kann, während er auf dem unbequemen Drehstuhl ungeduldig hin und her zu rutschen beginnt und etwas von Schweinen und Geldmachtschweinen brabbelt. Die seltsame Stille des Handelsraumes involuiert im Moment den Klang einer leise vor sich hin tickenden Zeitbombe. Den Ausnahmebroker namens Denis muss man möglicherweise als eine Art Allegorie der archetypischen Gestalt des homo economicus begreifen, die es versteht, stundenlang fast reglos auf die flirrenden Bildschirmpanoramen virtueller Partikel und Kurvenverläufe zu starren, was er seit ungefähr zwanzig Minuten wieder bis in die letzte Faser der Körperlichkeit sowie bis ins Mark und Hirn mönchisch und kalkulativ zugleich praktiziert, und dennoch kann es vorkommen, dass Denis phasenweise zu einer Art postarchaischem Typus mutiert, um im eigenen Selbstverständnis als ein attraktiver Krieger oder Raubritter mit exakt durchkonstruierten Plänen von Abenteuer zu Abenteuer zu hecheln oder als ein virtuoser Guru-Schamane in religionstechnischen Spielchen und mythischen Spielsachen Wundertätiges zu bewirken, als ein Heiland geradezu masturbativ in größter Todesnot zu intervenieren oder als ein Zauberer die Quintessenzen der Lebens-Kosmologien als exploitable Ready-mades der gegenwärtigen formvollendeten Kunstszene bereitzuhalten und damit erstaunlich kompossibel zu funktionieren, während sein durch und durch hochrationalisiertes Glamour-Tableau des Hedgens im Hintergrund immer als special effect mitläuft.
(Wie auch Dr. Dr. Hanselmann fühlt sich Denis nicht unbedingt als master of universe wie manch abgedrehter Broker in London oder an der Wall Street, er hat lange ganz bewusst an keinem neuen Geldschein mehr gerochen, geschweige denn mit ihm gesnifft, oder sich Zahlen oder Kontenbewegungen zu lange auf seinem Konto angeschaut, oder eine Privatstatistik über das Konnekten von Frauen bzw. die Korrelation von Sexobjekt, Kaufkraft & Zahl und Qualität der Sexualritualistik geführt, stattdessen präferiert er ein weitaus höheres Ziel, nämlich aus den neonröhrenerhellten Bürokomplexen der Esperanto Bank so schnell wie möglich quasi ins plutokratische OFF zu wechseln oder ab und zu den Nächten im Club Bohemian beizuwohnen, im Pendulum zwischen Ultra High Net Worth Individuals, kurz UHNWIs genannt, und deren Geldverwertungmaschinerien zu schlawänzeln, letztendlich diese als gestanzt in fiktives, zu Machtdispositiven geronnenes Geld zu erleben und zu genießen (Geld ist Inbegriff der virtuellen Realität). Des Öfteren in den Büroräumen Dr. Dr. Hanselmanns herumlungernd, lauscht Denis, besonders nach schlecht bewältigter Alkoholnacht mit partiellem Amnesieren sowie angeblich abgelöster Augenhornhaut, ganz gerne dessen Schilderungen über bewachte Wohnkomplexe entlang der Côte d’Azur, Terre Blanche, Domaine Le Grand Duc in Mandelieu oder über das mit Maschendrahtzaun abgesicherte Domaine du Loup in Villeneuve-Loubet bei Nizza, er Denis, der dann die schlechte Angewohnheit besitzt, hektisch den Kopf nach rechts oder links zu drehen, bevor er meistens parallel mit etwas total Stumpfsinnigem antwortet, Denis der sagenumwobene Broker, der sich selbst schon mal eines der Apartmenthäuser im Parc Bruyère in Cannes angesehen hat, um sich dort von einer bildhübschen Maklerin beim Nachmittagstee brühwarm die Story erzählen zu lassen, wie die Familie Ramirez aus der mexikanischen Stadt Santa Teresa durch das einträgliche Geschäft mit dem Verkauf von industriell gefertigten Toilettenhandtüchern sowie mit Kokain- und Menschenhandel (Prostituierte, die über den Luft- und Seeweg nach Portugal oder Spanien und von dort in die Rotlichtzentren Amsterdam, Frankfurt und Hamburg geschleust werden) zu beträchtlichem Wohlstand gekommen sei und binnen dreieinhalb Stunden in der Gated Community Domaine Le Blanc Blanc in der Nähe von Marseille einen Kaufvertrag für ein 8456 Quadratmeter großes Territorium abgeschlossen hätte, dessen heutiger Verkehrswert bei knapp 35,2 Millionen Euro läge, und dass alles, obwohl selbst eingefleischte Insidercliquen der Prominenzindustrien inzwischen bezweifeln würden, dass an dem Projekt tatsächlich bis zu fünfundsechzig Subunternehmer mitwirken würden; es gäbe da acht Schlafzimmer auf drei Ebenen plus zwei ultramoderne Pools mit multimedial gestützter Ganzkörperbenassung sowie jede Menge postbarocker Rundbögen plus einem zweiten Ferienhaus mit Bar und Wintergarten, für dessen Dachkonstruktion man ausschließlich alte Eichenbalken verwendet hätte, während die an den Rändern eisenbeschlagenen Fensterläden aus nahezu astlochfreiem Holz in jenem Lindgrün lackiert worden wären, welches Olivenblätter an ihrer Unterseite aufweisen würden, umwuchert von Edelrosensträuchern und Chrysanthemum yoshinaganthum. Die Hochdrückspülungen der Toiletten seien sicherlich der letzte Schrei.
Quasi im fast unhörbarem Grundrauschen des Schädels überfliegen in Denis Hirn tief im Inneren synaptische Spalten und Membrane durchquerende Potenziale mit unendlicher Geschwindigkeit eine einzige Ebene, wenn er sich fragt – und das bestimmt nicht zum ersten Mal –, ob die Rückkehr zur tyche, seiner typischen Launenhaftigkeit, die womöglich mit der systematischen Verarbeitungsweise des Zufalls korreliert oder eben dem Risiko, dem italienischen risco, das, was aufreißt, die Klippe, an der man auch scheitern kann, tatsächlich so zufällig daher kommt. Wie Shakespeares Kaufmann sich stets auf versicherten Wegen bewegt, so versteht Denis im Großen und Ganzen ähnlich wie Dr. Dr. Hanselmann die Erfassung seines sich verwertenden Selbst bzw. der Verwertung des eigenen Lebens als fortlaufende Buchführung in der Zeit, welche seine ureigensten Ereignisse, die inneren und äußeren Immobilien sowie die Kontenbewegungen wie nebenbei zu inventarisieren und alles Geschehen auf den Nenner von Zahlungen zu bringen vermag, wobei Denis der schriftlichen Verzeichnung der kontinuierlichen Selbstüberprüfung etwas mehr Aufmerksamkeit als Dr. Dr. Hanselmann schenkt (jeder Tag ist gemäß Denis` P- und L-Account gewissermaßen Bilanz- und Gerichtstag und wird bewertet nach seinem Ertrag); Dinge und Personen werden hier unter dem Aspekt ihres Verkehrs, der Zirkulation, des Austauschs und der Interdependenz notiert. Debitierung und Kreditierung. Während der Kaufmann von Venedig seine Reisen noch auf dem Papier dokumentierte und bewertete, führen die beiden Banker ihre relevanten Unternehmungen quasi lexikalisch in den elektronischen Netzwerken durch, wobei die beiden Lebensläufe der Form nach numerisch programmierten und gesteuerten Karriereschritten gleichen, bei denen Erfolgsereignis zu Erfolgsereignis in diversen Geschäftsfeldern addiert wird, um möglicherweise gemeinsam in die Dimension von Satellitenumlaufbahnen hinein zu stoßen, wobei sich die Lebenszeiten am Leitfaden des Ertrages kapitalisieren, während die Köpfe durch den Raum fliegen und ihre Sinnesorgane anschwellen. Das Subjekt wird zum Welt-Objekt.)
»Ach Hansi, wie wärs nach dem geilen Hedge jetzt mit nem Drink?«, sagt Sam Kimberlay mit zartrotrosa angelaufenem Gesicht zu Dr. Dr. Hanselmann, der, wie sie ja weiß, die ungewöhnliche Angewohnheit besitzt, während seiner Vorträge bei Konferenzen, Meetings und Brainstormings aller Art ungefähr alle zehn Minuten kurz und abrupt zu nicken, bevor er zum nächsten Satz ansetzt, als müssten die ausgesprochenen Worte diverse Übersetzungs- oder Interferenzschaltkreise lautlos durchlaufen, bevor der Banker erneut damit beginnt, Implikationen, Bedeutungen, Bezeichnungen und Sinn in Hinsicht auf neue Serien von Sätzen zu verketten, deren Subjekt er nicht unbedingt ist. Wahrscheinlich beabsichtigt Dr. Dr. Hanselmann durch das Nicken aber nur, sich für einen zukünftigen Satz Mut zuzusprechen oder er will den letzten Satz bestätigt wissen oder aus dem letzten Satz den umfassenden Sinn mittels einer Geste extrahieren. »Danke Jungs. Ihr seid tolle Seelen«, brüllt der Vice President neckisch in die Weiten des Handelsraumes hinein. Es klingt im Handelsraum jetzt nur unwesentlich lauter bzw. stimmungsvoller als im Wartezimmer beispielsweise eines Neurologen, wo die Patienten ihre Gesichter tief in die Illustrierten oder Hochglanzmagazine vergraben, als wollten sie das Hochglanzpapier küssen oder sie befänden sich kurz davor, stochastisch tiefe Seufzer von sich zu geben. Erst das Aufplatschgeräusch eines massigen Fußes auf das Parkett sowie der plötzliche Einsatz der gluckernden Stimme der NTV- Redakteurin auf dem großen Fernsehbildschirm an der Ostwand machen jedem der anwesenden Broker klar, dass man sich hier nicht in einem Wartezimmer oder Leichenhaus, sondern im Handelsraum im 19. Stock der Esperanto Bank befindet, in dem täglich mindestens ein Volumen von bis zu 400000 Millionen Euro per Computerhandel auf elektronische, automatische Weise gehandelt wird – der ganze Raum ein rechnendes Gehirn. Zwischen den Spasmen seiner Indisposition oder Exposition murmelt Dr. Dr. Hanselmann ein paar Kraftausdrücke und belanglose Sophismen, als Sam Kimberlay erneut spontan aufsteht, um sich zur Damentoilette zu begeben, während sie sich mit der rechten Hand an der Tischkante abstützt und Sekunden später im Flur abrupt stehenbleibt, so dass ihr Seitenprofil aus der Sehperspektive des unter seinem Desk kauernden Händlers Harry direkt auf den Bildschirm mit dem Bloomberg Ticker gerichtet erscheint und einen grauenerregend hochfrequenten Schrei bei Denis auslöst, weil ihm die Sicht auf den für ihn nahezu undenkbare Volatilitätssprünge abbildenden Chart der Biotechnologieaktie O.K.H.M. kurzfristig genommen wird, welcher sich bisher selbst bei (spontaner) Anwendung stochastischer Modelle wie Hull oder Crank-Nicholson seiner Kalibrierung zuletzt immer wieder entzogen hatte, zumindest glaubt er das. Denis stützt sich mit beiden Händen auf der Tischkante ab, beugt sich über die Batterie von Flachbildmonitoren und erleidet etwas, das seine beiden Nachbarn links und rechts für einen mittelmäßigen Hustenanfall halten. »Wegen deines chthonischen Stampfens und des sich hebenden Hinterns kann einem richtig übel werden«, sagt Sam Kimberlay, die gerade ihre Trader- bzw. Lesebrille abgesetzt hat und immerzu so tut, als wäre sie blind, in Richtung Denis…
Leseprobe 2:
Alonso erinnert sich sichtlich ungern, aber irgendwie bleibt ihm keine andere Wahl als sich zu entsinnen, wie er vor ungefähr zwölf Jahren eine Brotzeit mit Radi und Weißbier pünktlich um 10:15 Uhr hinter sich gebracht, während er teilnahmslos die Bildzeitung durchgeblättert hatte, gerade als die dritte Lieferung Luxuslebensmittel der Firma Foodluxury aus München angeliefert wurde, die große Schiebetür am Nordausgang des Fünf Sterne Restaurants Fühlen Sie sich wohlin Bayreuth aufging und der Fahrer sagte, die heutige Lieferung mit Meeresfrüchten und sehr edlen Hochseefischen, gefangen vor der Küste der Bretagne sei ein kleines Schätzchen, extrem hochwertige Ware und vor allem die Austern seien, nonkonformistische Geschmacksurteile geistig behinderter Wunderkinder hin oder her, schon rein vom Optischen ein schwerer Scharfmacher und ganz gewiss nicht nur für Leute ohne Reizdarmsyndrom eine Delikatesse vom Feinsten. Alonso war an diesem Tag schon sehr früh aufgestanden, trug hinter der blaugetönten Carrera Brille noch die fürchterlichen dunkelbraunen Augenringe der letzten schweren Alkoholnacht und hatte auch noch nicht das geschmacklose Tages-Make-up aufgetragen, das sein Gesicht im grellen Licht der großen Hightech-Restaurantküche immer leicht joghurtgelb tönte. Er faltete schnell die Zeitung, stand auf und ging durch den Flur zum Annahmeraum, in dem zwei Lagerarbeiter, seine beiden Assistenzköche und drei Mitarbeiter des Vorbereitungspersonals für Geflügel/Fisch sowie der Chefkoch für Meeresfrüchte und asiatische Speisen heftigst darüber diskutierten bzw. schnabulierten, was es denn mit dem Kochmythos, der besagt, dass Mayonnaise immer in die gleiche Richtung gerührt werden muss, was fälschlicherweise voraussetzt, dass beim Rühren die Richtung und nicht die Vermischung der Bestandteile zu einer Emulsion ausschlaggebend für große Mayonnaise ist, in genealogischer Hinsicht mal so auf sich haben könnte.
Alonso beugte sich gemächlich oder gemütlich über einen der drei blauen runden Plastikbassins, in dem zig Austern, deren hellbraun gescheckter Kalk mit kräftigen radialen Rippen auf beiden Klappen ihn sofort faszinierte, aufeinander geschichtet lagen, aber deren ihnen vom Volksmund zugeschriebene aphrodisierende oder libidinöse Wirkung seiner werten Meinung nach – etwas übertrieben vielleicht – schon immer eine Scheiße-Chimäre oder bloße Ideologie der zu dieser Zeit aufblühenden Lebensmittelindustrie war, obwohl vielleicht doch der nussige und feinherbe bzw. der subaquamarine Geschmack nach Meer, der selbst von subsidären bzw. biochemisch indifferenten Geschmacksbanausen kaum bestritten werden konnte, möglicherweise für die legendäre emotionale Heißhungrigkeit, die dem Konsum bzw. dem Effekt des Konsums der Austern anhaftete, mitverantwortlich war; schlussendlich bleibt der vergleichsweise hohe Preis dieses hochgesexten Lebensmittels bis heute das alleinige und entscheidende Kriterium für den Erfolg dieses Nahrungsmittels auf der sogenannten Market-Sexappeal-Matrix. Allerdings das Kriterium menschlicher Arbeit, der Zuchtanlagen oder gar der Transport- bzw. Zubereitungskosten für die Preisfindung ins Lampenlicht zu rücken, führt die Problematik um die Richtigkeit der Arbeitswerttheorie bzw. Produktionskostentheorie nur weiter ad absurdum, wodurch das absurd Ephemere aufscheint, nämlich, dass der Preis damals schon nur eine Information bewertete und sich von der Bewertung einer Funktion oder der Arbeit zu einem reinen Maß der Zahlungswilligkeit von Mister Alonsos süffisanter Celebrity-Kundschaft gewandelt hatte, die hier in deprimierender Regelmäßigkeit bis heute experimentelle Fünf-Gänge-Menüs oder irre bunte Designer-Cocktailabende mit öffentlichem Interesse, beispielsweise als Spendenkampagnen für die Opfer von Schusswaffen, ADHS und Dauerfernsehkonsum veranstalten. So damals die beinahe schon mit ökonomiekritischen Theorieansätzen bzw. Thesen unterlegten bzw. fundierten Bedenken Alonsos. Alonso beugte sich erneut mit dem Oberkörper über den Bassin, drückte mit den Handballen auf ein Schalentier, worauf der kleine Lagerarbeiter mit dem kahlgeschorenen franziskanerartigen Hinterkopf Alonso ein WMF-Austernmesser mit Edelstahlgriff reichte, einen Schritt zurück ging und mit aller Kraft seine beiden Hände in die engen Taschen seiner Arbeitshosen aus moosgrünem Gummi grub.
Alonso zählte in den 1990er Jahren zu Deutschlands einflussreichsten Spitzenköchen – seine beiden TV Kochshows plus die von ihm gecoachte Castingkochshow Manche mögen`s heiß auf dem privaten Fernsehkanal 6Live erzielten damals für das Produktmanagement vielversprechende Einschaltquoten im einstelligen Millionenbereich, und darüber hinaus stand ein Mulitmedia-Kochbuch mit DVD, das unter anderem die kalorienärmsten, aber leckersten Süssspeisen der deutschen Konfiserie-Branche anpries, weil Alfons sozusagen den chemischen Durchblick besaß, um damit den Siegeszug der Molekular- und Biomolekularküche als mehr als nur erfolglose und milde belächelte Schattenprodukte der Gastronomie quasi hellseherisch vorwegzunehmen, auf der Bestsellerliste des Spiegel zweieinhalb Monate auf Platz 3, wobei der unverschämt geile Trick, in diesem Buch auch Rezepte mit Ingredienzien wie Sojamilchextrakten, Zuckersurrogaten, raffinierten Kohlenhydraten, Transfettsäuren und High-Density-Lipoproteinen als Junkfood auf höchstem Niveau zu featuren, zu dieser Zeit vom in seinen eigenen Körperzementierungen festgesessenen und fettgefressenen Qualitätsjournalismus, der bis heute mit den Grundregeln der Dialektik und den Grundzügen des vertikalen Denkens bestens vertraut ist, unglaublich abgefeiert wurde, und Alonso selbst war ein gerngesehener und heißbegehrter Studiogast in unzähligen Celebrity-Talkshows mit menschlichen Pappnasen oder Pappfiguren, wie er heute sagt, keuchte manchmal hochsexuell vor laufender Kamera und flatterte mit den Ohren, und wenn man ihm allzu unbequeme Fragen hinsichtlich seiner Kochanweisungen stellte, wies er auf die sensorisch-materielle Vergleichbarkeit von 1000 DM-Nusskipferln mit extrem zuckerhaltigen Produkten am kulinarischen Nullpunkt hin, stand auf und schwang dabei immer mit der linken Hand im Überschwang die weiße Kochmütze. Als er mit Mitte 30 auf dem absoluten Höhepunkt der Karriere eines zumindest national bekannten Designerchefkochs stand, brach zu seinem eigenen Erstaunen sowie dem seines Psychotherapeuten die Anzahl seiner cholerischen Wutausbrüche von circa fünfundzwanzig am Tag drastisch auf zwölf bis dreizehn zugegebenermaßen komischen ouvertürenhaften Eruptionen oder unartikulierten Gesten ein, als ob er sein Nervensystem und dessen Artikulation an eine psychiatrische Klinik vermietet hätte, auf jeden Fall bekam er von seinem Bullshit-Seelenklempner, wie er ihn selbst damals schon bezeichnete, den guten Rat, seine innovativen & schizoaffektiven Phasen weiterhin hartnäckigst zu konsolidieren.
Alonsos rechte Gesichtshälfte fühlte sich plötzlich wie etwas Herausforderndes an, dieses Monstrum von Chefkoch arbeitete tatsächlich entschieden an der Aufforderung irgendetwas Binäres in Bezug auf kommende Übergangswahrscheinlichkeiten zu unternehmen, wenn es sich auch nur um bewegungsarme oder deduktive Tätigkeiten handelte, nur um die stehengebliebene Interaktivität unter den Teilnehmern wieder in ihr Recht zu setzen. Alonsos Schnorcheln, das klang, als ob ein Wildschwein durch einen Synthesizer gefiltert nach Trüffeln schnüffelte, hatte schon immer etwas Abstoßendes, was den gerade vom Zubereitungsraum 4/6 kommenden medizinisch hochinteressierten Chefkoch für Geflügel & Wild, ein Intimfeind von Alonso, gleich zu der Aussage bewegen konnte, ob denn nun bei Alonso endgültig Hypokapnie im Zuge der respiratorischen Kompensation einer metabolischen Azidose die Regel seines ehedem unwürdigen Verhaltens geworden, das letztendlich wahrscheinlich durch die Multiplikation seiner Selbsthassanteile ausgelöst worden sei, und was von nun an, wie zu vernehmen, ganz explizit zur drastischen Zurückstufung seines Bewusstseins bzw. des psychischen Apparats sowie zum Verlust der empathischen Teilnahme am Anderen führen könnte. Alonso war sich nicht hundertpro sicher, auf was und wen sich diese ungeheuerliche Aussage denn überhaupt bezog. Als er daraufhin völlig unerwartet eine überdimensionierte, dysplastische Auster in einem der Plastikbassins bemerkte, die ihm, soweit er noch weiß, explizit viel zu künstlich und nicht nur von der Farbgebung monstermäßig aufgeblasen vorkam, ganz und gar nicht isopisch, obwohl ihm auf den ersten Blick ja nichts umwerfend Besonderes an der Lieferung aufgefallen war, gefror sein müdes und zerknittertes Gesicht zur Kälte, und als er die besagte Auster in die Hand nahm, sie direkt vor sein Gesicht hielt und sie minutenlang von oben und von unten mit rotierenden Augäpfeln periodisch inspizierte, begann er den dekadenten Lieblingssüffelkram seiner Wochenendgäste aus der Celebrityhochburg München-Schwabing kognitiv oder intuitiv zu hassen, Gäste, die beim Konsum aller Trendprodukte ja nichts anderes zu tun hatten als beständig ignorant rumzunerven, so dass er es sich auch im Nachhinein noch wünscht, dass man die Celebrities schleunigst kollektiv in einen Hochsicherheitstrakt wie »Guantanamo« ausfliegt, wenn das etwas helfen würde, denn diese Cliquen seien ohnehin brainwashed und/oder psychisch dekompostiert, ohne dass selbst ein Heer erstklassiger Psychologen in der Lage wäre, deren verhängnisvoll flexible Akkommodation der Ziele an die Gegebenheiten oder der Adaption der Gegebenheiten an die erwünschten Ziele im Sinne einer komplett antistoischen Grundhaltung komplett unterbinden zu können, was ja nichts anderes hieße als sie eben gerechterweise mundtot zu machen.
Alonso nahm komplett unaufgeregt das Austernmesser, musterte zuvor noch einmal recht auffällig das elliptische Kalkgehäuse der ostrea edulis, wobei er befand, dass die rechte Klappe wesentlich stärker gewölbt als die linke war, von der Farbe her weniger hellgrau, sondern eher grünlich mit rosafarbenen und rostroten Flecken. Wobei der Inhalt der Auster eine winzige spiralförmig gewundene Drahtschlange mit Sprungfeder war. Am neuralgischen Punkt, der zur Entscheidung drängte, versuchte Alonso direkt auf Höhe seiner Augen die Spitze des Austernmessers zwischen die beiden flachen Klappen zu stechen, um an das Ligament in der dreieckigen Ligamentgrube zu kommen. Es machte kurz Knack und eine Drahtschlange sprang heraus, vier der acht anwesenden Personen kreischten sofort oder fassten sich tief entsetzt an den Kopf, während der sichtlich betroffene Alonso nahtlos in einen eher asthmatischen als cholerischen Anfall hinein glitt und der Chefkoch für Geflügelgerichte & Wild namens Laarmann johlend durch den Raum klonkte und dann mit der Faust so fest gegen eine 20-Inch-Box mit lebenden Lobstern drosch, dass die Tiere schnell unter dem bitteren Freudengeheul eines stupurösen Scherzartikelfanatikers auf dem gefliesten Boden herumkrochen – auch so eine visuelle Wahrnehmungsphobie heute von Alonso, gruselig und hoch kontextualisiert –, um für gemäßigte Panikattacken und zugleich solmonentes oder apathisches Mienenspiel des flugs herbeigeeilten Küchenpersonals im zweistelligen Bereich zu sorgen. Die Drahtschlange beendete ihren Parabelflug schließlich an der Gasleitung an der Decke und blieb mit nacheruptiv schwingender Sprungfeder hängen, während Alonso intuitiv oder gekünstelt gemächlich, was jetzt irgendwie nicht den geringsten Unterschied machte, nach dem Griff seines Kai Shun-Tranchiermessers griff, dessen Klinge in der an seinem schwarzen Ledergürtel befestigten Schatulle hing, während das tiefenbrustemphatische Lachen Laarmanns nur langsam erstarb, obwohl die Augen und/oder der Gesichtsausdruck der meisten Anwesenden längst etwas Paradigmatisches und Quälendes angenommen hatte oder auf unergründliche Weise hart geworden war, was von einem stroboskop-artigen Verwünschungstableau zeugte, das weniger die Kurzschlussassoziationen des Starkochs Alonso beziehungsweise den giftinjektorischen Ausbruch eines halbverrückten Cholerikers lahmlegen, sondern vielmehr die mit geradezu fotorealistischem Detailreichtum vorgetragenen Lachkrämpfe von Laarmann stoppen sollte, die schließlich in einen sekkierenden Tonus gerieten und irgendwann vollends dem Dissens vor allem gegenüber Alonso huldigten; Alonsos Hand bekam etwas Krallenhaftes und umschlung den Griff des Messers, dessen Klinge nur so aus der Schatulle raste, wobei Alonso für einen winzigen Augenblick zögerte, um dann das Messer aus der Hüfte konsequent und in hohem Bogen in Richtung des Chefkochs für Geflügelgerichte & Wild zu werfen, der wie nach einem tödlichen Schuss nach Steuerbord getroffen in sich zusammensackte, eine absolut filmreife Ausweichbewegung, so dass das Messer durch dessen Mephistokochmütze mit poppigem Flammenmuster flitzte und mit der aufgespießten Mütze zwischen den in grau auf blau und handgezeichneten Graphen eines Originalwerbeplakates des deutschen Verbraucherschutzes e.V. stecken blieb, das den Massenboykott von kalorienhaltigen Süßspeisen, von das Diätetische konsequent ignorierenden Pasteten sowie von toxinhaltigen Biofruchtjoghurts auf die Dauer eines Jahres propagierte, also den Gesundheitsterror quasi einforderte. Der Griff des Messers schwang mehrmals nach, während ein Bong Bong Bong durch die Luft klackte, als Alonso mit seinen für einen Koch ganz und gar ungewöhnlichen Undercover-Springerstiefeln seine Halbkreise um die Tische zog/klonkte und sich dabei mit schauderhaft langen Kunstfingernägeln systematisch die rechte Wange und den rechten Arm aufkratzte, bis er wie ein BSDM-Opfer zweiter Kategorie aussah.
Das Wort Bestrafung verfolgte Alonso noch sehr lange, kein unbedingt unchristliches Wort, dass ihn von nun an den Rest seines Lebens immunologisch perforieren sollte; in Foxtrottkadenzen folgte Alonso seinen eigenen Paraphrasierungen & Dissoziationen über den Staat, Gott und die Welt und explizit über den Chefkoch Laarmann, der ihm ab sofort für die miesesten Geflügelgerichte aller Zeiten verantwortlich schien. Alonso verfluchte den nach wie vor ganz passabel oder passager auftretenden Intimfeind Laarmann unter anderem auch mit Hilfe von berstend lauten Schnellfeuerflatulenzen, die nach Hackbraten und Backfisch stanken, und unternahm im Augenblick keinerlei Versuche, das Tranchiermesser aus der Wand zu ziehen oder Laarmann vielleicht sogar an die Wäsche zu gehen, stattdessen riss Alonso eine Kühlbox auf, die mit Steaks von japanischen Kobe-Rindern gefüllt war, Luxusviecher, die mit Bier, Sake und einer speziellen Kraftfuttermischung gefüttert werden, und wirbelte einen 500 Gramm schweren Fleischlappen mehrmals durch die Luft, fing ihn wieder auf und biss mehrmals in das zarte Fleisch, das Gesicht wutverzerrt und vom selben kräftigen Tiefrotton wie der des Steaks; Alonso presste die beiden Zahnreihen fest auf den Fleischfetzen und riss hemmungslos/stürmisch mit beiden Händen am andere Ende des Rindersteaks, drehte den Kopf unentwegt wie von Sinnen im Uhrzeigersinn, zerrte den klebrigen Fleischlappen hin und her, kniff die Augen zu, schob den Unterkiefer von links nach rechts und zurück, und bildete sich dabei auf seine ihm eigene affektierte Art ein, den sackförmigen Grinskopf Laarmann mit malmenden Kau- und Mahlbewegungen endgültig zu zerreißen und dann zu kannibalisieren, während eifrig der Gedanke kohärierte, dass dieser ausgemachte Schwachmatiker binnen Sekunden im großen Bassin im Vorratsraum 5/8 liegen könnte, um mit schrecklich nutzlosen Paddelbewegungen den in schier rauen Mengen herumwuselnden und beißenden/zwickenden Piranhas vergeblich Widerstand zu leisten, oder dessen Nasengänge von speziell spitzen Essstäbchen für hirnverbrannte Sushi-Kreationen zigmal aufgespießt worden wären, bis fantastische Blutfontänen mit einer Art wohltönendem Zischen auch aus dessen Augen und Mund schießen würden, und immer noch zerrte Alonso unsystematisch, manchmal in schnellen Kreisbewegungen an dem Kobe-Steak, bis der Fleischlappen die Spannung schließlich nicht mehr aushielt, dass nur noch ein kleiner fasriger, hellroter Fleischfetzen schließlich zwischen Alonsos Zähnen hing, der rechte Schneidezahn locker baumelte und Minuten später wie von selbst ausfiel. Alonsos Kopf war inzwischen triefend nass, während Laarmann nonstop auf ihn einredete, es war ein poppiger und zugleich quirliger Mix aus konfusen Verwünschungen oder substitutiven Aufzählungen der Zutaten und Ingredienzien seiner neuesten Fasan-Kreationen (ein Humbug, diese Art Informationsgewinnung). Laarmanns esoterische Wirkung trat bei seiner Performance ein, die Stimme klang im oberen Frequenzbereich hell und fast ein bisschen charismatisch, so schraubte sich Laarmann in exzellentem Deutsch als tatkräftiger Chemiker hüftaufwärts scheinbar unendlich in den Raum. Die Erstaunten schienen mit ihren Oberkörpern weit vorne übergebeugt, um Laarmanns Lippen und Stimme jetzt zuzusprechen und Anerkennung zu zollen, als ein paar Köche, Kochgehilfen und Assistenten ununterbrochen wie in einem Beckett-Fernsehstück im Raum im Quadrat herumliefen.
Alonsos traumatisierte Augen waren stark gerötet, taumelten fiebrig von links nach rechts oder umgekehrt., wobei er laut den Text eines Songs der Isley Brothers sang, ohne sich um eine passende Melodie zu kümmern, während er darüber hinaus mit weißem Bedürfnisanstaltspapier winkend um Laarmann herum pirouettierte, was einer wirklichen Begeisterung für vertikale Rotation gleichkommen, die schließlich für die Reversibiltiät der Rotation nur Spott und Gelächter übrig haben sollte. Alonso wusste damals schon ganz genau, dass verrückt zu werden auch bedeutet, dass man weiß, dass man (irreversibel) verrückt wird, who knows. Alonsos erster Schlag war kein Freundschaftsklaps, sondern ein jahrelang geübter Karateschlag auf den rechten Arm von Laarmann, der zwar nicht die Spitzengeschwindigkeit der Hand eines professionellen Karateka von zehn bis vierzehn Meter pro Sekunde erreichte, bei dem normalerweise mit einer Kraft von über 3.000 Newton dicke Platten aus Holz oder Beton zertrümmert werden, aber der doch effektiv genug war, um schlichtweg Unheil konnektiert mit individueller Machtlosigkeit Laarmanns anzurichten. Das widerlichste Geräusch an diesem Vormittag bestand eigentlich aus einem ultrakurzen Knacken, das Laarmanns schrillen hochfrequenten schwulen Schrei zur Nebensache verkommen ließ, der ihm ausnahmsweise keinerlei Vorbereitung, Lustinspiration und Bedeutung gekostet hatte. Laarmann sah, wie aus seinem rechten Unterarm ein Geflecht aus Knochensplittern herausgebrochen war, als hätte jemand den Arm radikal übers Knie gebrochen. Da Alonso noch reichlich von seiner Destruktionskraft anzubieten hatte, setzte er einfach mal nach, wobei er bei sich selbst oder um sich herum die letzten esoterischen Ambitionen hinsichtlich Gewaltlosigkeit und Toleranz abschüttelte, täuschte mit respektablen Oberkörperglissandos nochmals an und ging dann im Rückwärtsgang fünf Schritte zurück, um dann Anlauf zu nehmen (es war ein Taumel zwischen Balance und dem Verlust des Gleichgewichts) und das halbe Körpergewicht in einen umgekehrten Nakayama-Sprung zu legen, der mit einem mächtigen Bauchklatscher von ihm selbst auf dem gefliesten Fußboden endete, aber Alonso rollte elegant nach rechts weg, kam blitzschnell wieder in die Vertikale, als hätte er der Schwerkraft, einem Feld der zentripetalen und zentrifugalen Bewegungen ein Schnippchen geschlagen, er schnellte also hoch und stand für Sekundenbruchteile auf dem linken Bein und trat dann mit der Stahlkappe des Springerstiefels auf Laarmanns cremeroten Crocs-Bistro-Schuh, so dass auch dessen große Zehe hörbar gebrochen wurde. Insgesamt hielt der Spin innerhalb eines faktischen Spins, eine Art motorischer Inversion, Supination und Pronation und Adduktion der Gliedmaßen.
Wenn man sich etwas bricht, will man sich als erstes übergeben. Laarmann kotzte sich also zuerst auf die gesunde Hand, dann in die Kühlbox auf die herrlichen Koberindersteaks und zum Schluss auf die weißen Adidas-Sneakers des Chefkochs für Patisserie, der überraschenderweise auch noch hereingekommen war und trotz seines wüsten Hustens mittels eines tricky süddeutschen Akzentes geklonte Kommentare über den blindwütigen Einsatz kalorienreduzierter Lebensmittel unter dem Rubrum Wellness und Fitness in der Highclass-Branche der Systemgastronomie vortrug, währenddessen Alonso ein wenig von seiner Lieblings-Delikatesse naschte, Blinis mit Keta-Kaviar, wobei er jetzt doch langsam außer Atem geriet und ihm auch langsam dämmerte, dass sein Auftritt nicht nur sein berufliches Ende in seiner Funktion als Chefkoch für Meeresfrüchte & Fisch bedeuten, sondern einen irreparablen & irreversiblen Imageverlust als Spitzenkoch mit Michelin Stern generell nach sich ziehen könnte. Mit seinem Gelalle von der aufreibenden Suche nach der großen Authentizität beim Kochen à la großartigen Spätzle-Teig herzustellen ist hohe Kunst, ein Gänseleber- oder Jakobsmuscheltatar zubereiten kann jeder Siebzigjährige in einem Seniorenkochkurs usw., was er im vierteljährlich erscheinenden Kochmagazin Häuptling eigener Herd nicht nur für belesene Celebrities, sondern auch für die fettgefressene Feuilletonklientel nieder schrieb, dabei die Klientel jahrelang um den Finger gewickelt oder an der Nase herumgeführt hatte, war es nun buchstäblich mit einem Schlag vorbei, denn solch astreine Braindisorderstörungen würde er in Zukunft antiperformativ und nur für sich selbst den lieben langen Tag wälzen können, Diminutivgeschichten, vielleicht könnte er wenigstens nochmal in der Zeit die Story zum Besten gegeben.
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