Je älter ein Schriftsteller wird und je mehr er geschrieben hat, umso rätselhafter erscheint das, was man der Einfachheit halber als „Werk“ bezeichnet. Das „Werk“ fasst auch heterogenstes Material zu einer Einheit zusammen, weil es ja schließlich ein und dieselbe Person ist, die darin zum Ausdruck findet. So sind die frühen, an Kafka geschulten Erzählungen „Ein Flugzeug über dem Haus“ ebenso Werke von Martin Walser, wie der späte Goethe-Roman „Ein liebender Mann“ und nun das unglaubliche Liebes-Evangelium „Muttersohn“. Sie haben im Grunde nichts miteinander zu tun und sind doch, bei allen Unterschieden im Stil, im Zugriff, im altersbedingten Temperament, und trotz aller einfließenden Moden der Zeit über ein halbes Jahrhundert hinweg unverkennbar Walser. Was macht diese Erkennbarkeit aus?
Walser selbst spricht in Bezug auf seine Romane gerne von Tonarten, in denen wie in der Musik bestimmte Stimmungen oder Modulationsmöglichkeiten des eigenen Ich spürbar werden. „Muttersohn“ wäre dann wohl seine 10. Symphonie in zerrissenem Cis-Moll mit einer Tendenz zum hellen, lichten D-Dur und voller mitreißender, bewegender Motive und Melodien. Viele Phrasierungen und Linienführungen sind – wie bei Bach oder Mozart – aus anderen Werken vertraut, finden hier aber doch zu einer neuen Klangfarbe. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Musik, genauer: Chormusik, noch genauer: Gesang als reinste Ausdruckskraft und Wirkungsmächtigkeit, in diesem Roman eine große Rolle spielt. Das gab es zuvor ins Walsers Werk trotz seiner Affinität zur Musik noch nicht. Seine Chorleiterin, zugleich auch Logopädin und fast eine Heilige, trägt den Namen Elsa Frommknecht. Eine andere Leerstelle, die er in „Muttersohn“ ausschreibt, ist der Glaube. Glaube nicht als kirchlicher Imperativ, sondern als ein Talent, das man besitzt wie das der Musikalität. Dass das erst jetzt geschieht – sieht man einmal vom, autobiographischen Kindheitsroman „Ein springender Brunnen“ ab – ist bei einem katholisch geprägten Autor vielleicht weniger verwunderlich, als es scheint.
Percy Anton Schlugen, dessen Mutter behauptet, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen, ist die messianische Hauptfigur: ein Vatersucher wie Jesus, einer, dessen Existenz das Wunder voraussetzt und der seine Gläubigkeit an dieser Mitteilung erprobt. Die Mutter heißt zwar nicht Maria, sondern Josefine, aber das ändert an Percys Vaterlosigkeit nichts. Im späteren Leben ist Percy (ein „Engel ohne Flügel“) geneigt, Männer, die ihm imponieren, als Väter zu adoptieren. Eine Heiligenlegende ist darüber hinaus die Geschichte seiner Rettung auf der Landstraße, wo er am Tag vor Weihnachten von einem Auto angefahren im Straßengraben liegt, es ihm aber gerade noch gelingt, mit seinem Stock den Hut hochzuhalten, so dass – ausgerechnet – der Pfarrer ihn finden und retten und über dieses Wunder predigen kann.
Diese Geschichten gehen ihm voraus, wenn er wie ein Wanderprediger durchs Land zieht. Nach zweijähriger Abwesenheit kehrt er – und damit setzt der Roman ein – in die psychiatrische Landesklinik Scherblingen in der Bodenseeregion zurück. Die Patienten erwarten ihn sehnlich, denn Percy, ausgebildeter Pfleger, ist kein Arzt, sondern einer, der ihnen zuhört und der sie ganz einfach ernst nimmt. Das ist schon fast seine ganze Methode. Und wenn das nicht reicht, dann spricht er zu ihnen. Seine Reden sind unvorbereitet, gehorchen ganz dem Augenblick und gehen bei Bedarf nahtlos in Texte von Augustinus oder Seuse oder Jakob Böhme über. Glauben statt Wissen, Zustimmung statt Kritik – das sind Tendenzen, die bei Walser schon seit einigen Jahren stark geworden sind. Jetzt ist daraus ein Roman der Zustimmungskunst geworden. Percys wichtigster Satz lautet: „Ich kann nicht sagen, was ich weiß, nur, was ich bin.“
Sein Vorgesetzter Professor Augustin Feinlein ist mit ihm auf einer Linie, liegt aber im Kampf mit einem jungen Konkurrenten und Vertreter der Schulmedizin, Dr. Bruderhofer. In den Gesprächen zwischen Percy und Feinlein treibt Walser die Zustimmungsübertrumpfungen, die Kunst der Höflichkeit, der Rücksichtnahme, des gegenseitigen Sich-Bestätigens, des die-Welt-schöner-Machens-als-sie-ist dermaßen auf die Spitze, dass es auch die beiden Protagonisten nur noch als Parodie erleben können. Das ist eine große Erleichterung. Walsers Glaubensbekenntnis ist durchsetzt von Humor. Über sich selbst Lachen zu können ist eine Bedingung dieser Verschönerungsreligion. Dass er sein Glaubensexperiment in der Psychiatrie ansiedelt, die wiederum in einem alten Klostergebäude steckt, ist ja auch schon ein Witz oder vielmehr eine Probe aufs Exempel. Jeder Glaube ist ein Wahn.
Percys schwierigster Patient ist Ewald Kainz, ein Mann, der schweigend und schwer vernarbt auf dem Bett liegt, nachdem er versucht hat, sich auf der Coach einer Analytikerin zu verbrennen. Percy reagiert auf ihn, indem er ihm die Geschichte seiner Mutter erzählt, in deren von unglücklichen Männerbegegnungen geprägten Leben dieser Ewald Kainz eine bedeutende Rolle spielte. Sie erlebte ihn 1973 als Demonstrant gegen die Berufsverbote, nachdem er als angeblicher DKP-Lehrer entlassen wurde. Beiläufig kommt damit noch ein Thema aus Walsers politischer Biographie ins Spiel, allerdings nur als Randmotiv, denn um politische Geschichte geht es in diesem Buch des Glaubens nicht. Kainz ist der Adressat von hingebungsvollen Briefen, die die Mutter an ihn schrieb ohne sie je abzuschicken.
Die ersten drei Kapitel mit der Geschichte Percys und seiner Mutter, mit der Geschichte von Ewald Kainz (der in seiner Zerrissenheit zwischen der geliebten Frau und einer unverzichtbaren Geliebten keinen Ausweg sieht, wie schon so viele Walserhelden vor ihm) und der Novelle „Mein Jenseits“ (die bereits im Vorjahr als Auskopplung publiziert wurde), könnten jeweils für sich stehen, bevor Walser im vierten Teil versucht, alle Motive in einer großen Reprise zusammenzuführen. „Mein Jenseits“ betritt man wie einen wohltuend bekannten Raum in einem unübersichtlichen Gebäude. Diese Dr. Feinlein zugeschriebene Novelle spiegelt nicht nur die Glaubensthematik noch einmal aus veränderter Perspektive, sie ist auch eine Variation auf Walsers frühere Novelle „Ein fliehendes Pferd“. Es geht ja darin nicht nur um das Problem der Echtheit einer Reliquie, sondern um Feinleins Angst, an den ungestüm jugendlichen Dr. Bruderhofer nach der großen Liebe seines Lebens auch noch den Platz als Klinikchef zu verlieren.
Der vierte Teil (dem noch ein kurzer Epilog folgt) ist rasender Untergang und Erlösungsvision zugleich. Da wird gestorben, und zwar gleich reihenweise, wie es in Walser-Romanen mit Ausnahme des düsteren „Der Sturz“ aus den 70er Jahren sonst nicht üblich ist. Mit einer gewissen Lust und Freude bringt er seine Figuren nacheinander um die Ecke, einfach deshalb, weil er es als Erzähler kann und weil die Sache zum Ende kommen muss. Dann wird in der Schweiz eine „Akademie der Unvollendeten“ gegründet, Elsa Frommknecht macht daraus einen Ort der Musik und des reinsten Gesangs, während Innozenz – noch so eine prophetenhafte Figur – sein Lebensprojekt der ungedruckten Werke, das einst zur „Scherblinger Anthologie“ werden sollte, nun einem „Oblomow“ getauften Schredder zuführt – nicht ohne alle zerschredderten Werke zuvor zu lesen. Und dann kommt da noch eine Rocker-Gang ins Spiel, die „Jollynecks“, deren Anführer als Hassprediger so etwas wie ein Gegenspieler Percys ist. Einen Judas braucht es schließlich auch. Doch Percy kann, da er nichts anderes kann, auch ihm nur zustimmen.
Es ist unmöglich, das Gestrüpp von bizarren Einfällen und verschiedenen Erzählsträngen, die sich überlagern, kommentieren, ergänzen und ad absurdum führen, ganz zu entwirren. Doch es kommt auch gar nicht so sehr auf die Handlung und schon gar nicht auf Stringenz an, als auf einzelne, leuchtende Sätze und auf die großen Walser-Themen: Lüge und Wahrheit, Verbergen und Entblößen, Zustimmung und Kritik, Glaube und Wissen, Liebe und Vergeblichkeit. Alles ist da, doch alles erscheint in neuem, gnädigem Licht. Percys Maxime – „Ziellos zu erzählen, das ist das, was du tun musst“ – macht sich auch Walser zu eigen. Es geht nicht um die Form, sondern um Haltung. Nicht um Logik oder gar Realismus, sondern darum, das Dargestellte zusammen mit dem Autor für möglich halten zu wollen. Literatur als Glaubensexperiment: Man muss Walser diesen Roman glauben, weil Wissen und Urteilen und Kritisieren nichts nutzt.
An „Muttersohn“ beeindruckt die Rücksichtslosigkeit gegenüber Konventionen, mit der Walser seinen Ausdrucksnotwendigkeiten nachgeht. Vielleicht ist das ein Vorrecht des Alters. Das, was ihm noch fehlte, muss hier unterkommen. Was ein Roman ist oder sein soll, hat ihn schon in „Angstblüte“ nicht mehr interessiert. Er sprengt die Form in alle Richtungen, weitet sie bei Bedarf zum Drama und endet mit einem wunderschönen Gedicht, das Percy zuzuschreiben ist: „Die Gräser singen im Chor, sobald ich erscheine, weil ich der Fürst der Freundlichkeit bin.“ Auch das ist Walser, kann er sein. Er verlangt seinen Lesern alles ab. „Muttersohn“ ist – was für ein Segen! – keine lauwarme Konfektionsware der Literatursaison, sondern ein abgründiges, kraftvolles, widerspenstiges Lebens-, Liebes- und Glaubensbuch. Eine Bibel zu schreiben – das fehlte ja noch.
Jörg Magenau
Martin Walser: Muttersohn
Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011,
506 Seiten, 24,95 Euro
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