Bilder und Vexierbilder
Claire Denis ist keine Unbekannte, seit 23 Jahren macht sie Filme, doch es hat längere Zeit gedauert, bis sich ihr vielgestaltiges Werk in der kinematographischen Erinnerung festgehakt hat. In unserer Gesellschaft des Spektakels haben Filme Erfolg, die große Gesten, große Gefühle, große Schauwerte haben, ein Skandal sind, Teil eines Trends oder doch zumindest einen wiedererkennbaren Stil haben. Dem Kino ist mehr als anderen Künsten der Wunsch zur Größe inhärent. Die Filme von Denis haben das alles nicht. Sie stehen sperrig und völlig eigenständig in der Filmlandschaft. Sie unterscheiden sich von allem, was sonst an Filmen zu sehen ist, sie unterscheiden sich sogar untereinander. Aber zusammen sind sie ein ästhetisches Projekt, dessen Grenzen Claire Denis unbeirrbar und über die Jahre erkundet hat.
Dabei sind so unterschiedliche Filme entstanden wie Chocolat und 35 Rhums, Beau travail und White Material, Trouble Every Day und J’ ai pas sommeil. Jeder anders, aber alle zugehörig zu einer ästhetischen Haltung, die markiert ist von der Auflösung formaler Routine und traditioneller Erzählweisen. Claire Denis macht kleine Filme und sie arbeitet mit geringen Budgets. Doch sie begreift das weder als Einschränkung noch als Klage. Sie sagt: „Der Stil wird vom Budget beeinflusst. Weil das Budget gering ist, fängt man an, andere Entscheidungen zu treffen. Ein kleines Budget ist letztendlich großartig, dann fühlst du dich nicht dauernd schuldig, sondern stark.“ Aus der Armut schöpft sie einen cineastischen Mehrwert. Ihre Filme gehören zu dem, was man in Frankreich inzwischen „cinéma batard“, Bastardkino, nennt. Damit sind jene Formen zwischen dem globalisierten Kommerz und dem experimentellen Kino gemeint, wo der Spielfilm immer wieder mit dem Zusammenhang von Narration und filmischer Form experimentiert und dabei in Bezirke vordringt, wo dramaturgische Selbstverständlichkeiten des Mediums Kino suspendiert sind. In diesen Grenzbereichen zwischen dem populären Mainstream-Kino und einem anderen Kino, das sich dem Zwang zum Stil, zur Ware und zum Schema verweigert, fühlt sie sich zu Hause. Damit ist sie eine eigenständige Nachfahrin der „nouvelle vague“. Man kann ihre Filme auch so charakterisieren, wie man es auch mit den Filmen des deutschen Autorenfilms gemacht hat: überphantasiert und unterkapitalisiert.
Eine junge Frau geht am Rande einer Straße, wir sind in einem afrikanischen Land. Ein Wagen hält neben ihr und bietet ihr an, sie mitzunehmen. Zuerst will sie nicht, dann steigt sie ein. Der Fahrer bringt sie, wie sie es gewünscht hat, zur nächsten Bushaltestelle. Dort wartet sie auf den Bus, aber der kommt nicht. Da hält neben ihr wieder dasselbe Auto, und der Fahrer bietet ihr wieder an, sie mitzunehmen, ihr Ziel sei auch seines. Zweimal derselbe Mann? Hat er sie verfolgt? Was führt er im Schilde? Sofort schießt bei uns geübten Sehern des Tatort die Gewissheit hoch, dass jetzt die uns vertraute Geschichte beginnt von Verbrechen und Verfolgung, Rache und Strafe. Doch nichts davon erzählt der Film. Die junge Frau steigt ein, und während der Fahrt schon führt ein kleines Sprachspiel zwischen dem Fahrer und seinem Sohn ihre Gedanken fort zu dem Ort, den sie aufsuchen will, den Ort ihrer Kindheit, einen französischen Militärposten, wo sie mit ihrer Mutter und dem Hausboy immer wieder lange Zeit allein lebte, wenn der Vater auf Inspektionsreise war. Wir sind in Chocolat, ihrem ersten Spielfilm von 1988.
In einer großen Rückblende erzählt der Film, wie ein kleines Mädchen seine Umgebung entdeckt, in der noch alles in Ordnung ist, die Weißen herrschen und die Schwarzen dienen und Momente von rassistischen Demütigungen und kolonialer Überheblichkeit gehören auch dazu. Das alles wird erzählt mit wenigen Worten. Die Verstrickungen, Konflikte und Ereignisse ergeben sich fast zögernd aus den Bildern und den Blicken des Mädchens, das France heißt wie ihr Land. Über weite Strecken scheint die Kamera undramatisch und unspektakulär auszuwählen, was sie visuell fasziniert, ohne Sorge zu tragen, die Zuschauer fiktional einzubinden und macht keinen Unterschied zwischen größeren und kleineren Ereignissen. Es ist in gewisser Weise ein dokumentarischer Gestus, aber ohne dokumentarische Sorglosigkeit. Die Landschaftstotalen sind genau komponiert und farblich nuanciert, die Variationsbreite der Licht- und Farbdramaturgie, oder der Bildkomposition scheint unerschöpflich zu sein. Die Filmemacherin vertraut der Kraft der Bilder, jener Bilder, die nicht die Schönheit der Nationalparks zeigen.
Das Kind France beobachtet mit immer stärkerer Irritation das versteckte Begehren seiner Mutter für den starken, schönen, schwarzen Hausboy Proté, der allgegenwärtig ist. Als die Mutter in einem Moment des Vergessens sich ihm nähert, weist Proté sie ab. Dann kehrt der Vater von der Reise zurück und die Mutter verlangt von ihm, Proté wegzuschicken. Er wird künftig den Dieselgenerator warten. Das alles geschieht beiläufig, ohne Dramatik. In der Nacht steht France auf und geht in den Schuppen, wo Proté am Dieselgenerator steht. France zeigt auf ein Rohr und fragt: „Kann man sich da verbrennen?“ Schweigend legt Proté eine Hand auf das Rohr. France legt ihre Hand neben seine, reißt sie dann panisch weg, sie hat schwere Verbrennungen. Auch Proté zieht seine Hand weg. Bewegungslos. Und dann sehen wir im Close-up seine verbrannte Hand. Sie zittert, als er sie zur Faust ballt, dann geht er ins Dunkel. Erkenntnis und Gefühl sind in diesem Moment verschmolzen: das Gefühl von Wut und Rache und die Erkenntnis, dass der Kolonialismus beide verletzt, den Herrn und den Diener.
Denis’ Filme sind voll von solchen Szenen. In ihnen löst sich die schönste Möglichkeit des Kinos ein, die Fähigkeit, den Verstand des Zusehers durch die Intelligenz der Gefühle anzusprechen. Damit macht sie ihr leises, aber starkes Kino, in dem die Psychologie der Figuren unscharf bleibt und keine Handlungslogik uns eine Stütze bietet. Sie sagt: „Mir geht es um den Wert eines Moments, der nicht psychologisch motiviert ist. Wenn man diese Momente anstatt aktionsbezogener Szenen wählt, bewahrt man das Leben und die Zeit in den Dingen. Schritt für Schritt habe ich herausgefunden, dass das mein Weg zu arbeiten ist.“ Denis und ihre Kamerafrau Agnes Godard, die seit vielen Jahren zusammenarbeiten, sind Sucherinnen nach dem Bild in seiner poetischen Gegenwart und emotionalen Ladung. Die Bedeutungen werden fast ausschließlich über Bild- und Tonaffekte generiert und eine assoziative Montage verkettet die Bilder nach grafischen oder poetischen Prinzipien. Dabei verdichtet sich das Bildergewebe aus sinnlichen Details zu einer Art endlosem magischen Stoff und treibt Bedeutungen hervor, die in der Geschichte angelegt sind, auf deren Enthüllung die Geschichte aber nicht zusteuert.
Wenn man so über die Sinneseindrücke und nicht über die Handlungslogik erzählt, stehen die Bilder oft intensiv und manchmal bedeutungsschwer da. Der dramaturgische Aufbau verliert sich in Ellipsen, die Erzählfäden reißen ab, es entstehen Lücken. Die Figuren bleiben rätselhaft und haben etwas Fließendes und die Bezüge zwischen ihnen sind nie bis an Ende geklärt. Denis lässt uns erst einmal allein mit ihren Bildern und manchmal ratlos und es kommt vor, dass wir ins Grübeln kommen über die Plots.
Die Filmemacherin ist sich dessen bewusst. Sie sagt, fast entschuldigend: „Meine Filme sind leider manchmal etwas unausgewogen. Hoffentlich gibt es Spannung in ihnen! Ich versuche immer, alle Regeln der Spannung zu befolgen, und dann sagen die Leute: Ach, schon wieder ein Claire Denis! Es ist schon seltsam, gewissermaßen der Feind der eigenen Erzählweise zu sein. Mit den Geschichten, die ich erzähle, scheitere ich immer wieder. Eine spannende Geschichte ist wie ein Soufflé, das muss aufgehen. Man sagt mir über meine Filme vielleicht freundlich: Es schmeckt. Aber ich weiß genau, aufgegangen ist es nicht.“
Aber vielleicht will man gar kein Soufflé essen, wenn man ihre Filme sieht, in denen es ja alles gibt, was man normalerweise für Spannung und einen guten Plot braucht: Mörder, Vampire, Verrückte, Besessene, lauter obsessive Charaktere. Aber sie tauchen auf und verschwinden wie selbstverständlich in einer Lücke, aus der etwas anderes Unerwartetes hochkommt. Die meisten polyphon und unhierarchisch erzählten Filme haben Schwierigkeiten mit der Spannung. Aber das Handwerk, Spannung herzustellen, wird weltweit so gut beherrscht, dass es keinen Grund gibt, zu bedauern, dass Denis etwas anderes macht: sie bannt den Schrecken im Alltäglichen in Bilder und schafft einen hypnotischen Zustand des Unheimlichen, in dem die Intrigen nebensächlich werden.
In ihrem wohl bekanntesten Film Beau travail sehen wir eine Gruppe von Fremdenlegionären in Dschibuti am Horn von Afrika. In dieser archaischen Wüstenlandschaft verrichten die Männer ihre täglichen Rituale, Manöver, Leibesübungen, Schwimmen, Bügeln, Angeln, Rasieren, Haare schneiden, Socken waschen. Sinnlos, nutzlos und zeitlos lebt die für den Krieg ausgebildete Gruppe dahin. Der Drill der halbnackten Leiber, die für den Krieg, für das Zerstören und Zerstört-Werden ausgebildet sind, wird zu einer Choreografie. Irgendwie kommt es dazu, dass ein Legionär zur Strafe in die Wüste geschickt wird. Sein Marsch zurück führt ihn an den Rand des Todes. Seine von Salz verkrustete Jacke steht, als er ohnmächtig wird, steif und aufrecht neben ihm. Es gibt eine Intrige, aber es fällt schwer, sie korrekt zu erzählen.
In White Material, ihrem letzten Film, versucht die Eigentümerin einer Kaffeeplantage hartnäckig und stur, die Ernte einzubringen in den Wirren eines afrikanischen Bürgerkriegs mit marodierenden Kindersoldaten, plündernden Rebellen und korrupten Militärs. Unberührt vom Strom der Flüchtenden will sie ihre Existenz und die ihrer Familie in Afrika bewahren. Aber der Mann will weg und der Sohn wird verrückt. Der Film hat eine atemberaubende Intensität, aber auch hier erinnere ich neben einer allgegenwärtigen und grandiosen Isabelle Huppert weniger die Wendungen des Plots als vielmehr die Bilder, in denen die Atmosphäre eines undurchdringlichen Unheimlichen physisch greifbar ist.
Solche Bilder kann nur zeigen, wer solche Bilder gesehen hat. Nicht als Erinnerungsfotos, auf denen man wiedererkennt, was man schon weiß, sondern als Echos aus einer frühen Zeit, eines optisch Unbewussten. Es sind Bilder, die wir erst dann wirklich gesehen haben, wenn wir sie erinnert haben. Immer wieder erinnert sich jemand in den Filmen von Claire Denis. Immer wieder vermischen sich die Rückblenden, Visionen, Alpträume mit der Gegenwartsebene. Ihre Filme erzählen davon, wie der Alltag durchdrungen ist von der Erinnerung, die gleichberechtigt in ihm existiert. Die Vergangenheit ist nicht vorüber, auch wenn sie vergessen ist und besonders dann, wenn sie nie gewusst wurde. Sie ist gespeichert in den Körpern der Figuren.
Das Kino von Claire Denis ist Körperkino, Filme über die Sprache der Körper. So wie die Erinnerung im Körper sitzt, so auch das Begehren. Alle diese Körper werden von einem unterdrückten Begehren angetrieben, das ihre gesamte Existenz zu vernichten droht. Claire Denis sagt: „I have always made films with desire. I think it is the primary material of my films.“ In Chocolat kämpft die Mutter mit ihrem Begehren, für den schwarzen Hausboy Proté. Die kleine Tochter France beobachtet das und die Mutter wird ihr zum fremden Wesen. Es geht um eine Kette von Blicken: den Blick des Kindes auf die Mutter und deren Blick auf den Diener. Doch dieser Diener besetzt die mütterliche Position, er besorgt das Haus, er räumt auf, er bedient und er beschützt. Die Kette der Blicke konstituiert das „Begehren der Mutter“ im doppelten und komplexen Sinn. Wenn die Mutter Proté verbietet, noch einmal ihre Unterwäsche in ihrer Kommode aufzuräumen, ja überhaupt ihr Zimmer zu betreten, dann ist das ebenso sehr Angst vor sich selbst, wie auch die Rettung seines Bildes als Mann. Denis rühmt die subtile Art, in der Hitchcock das Begehren in seinen Filmen konstituiert. Zumindest an dieser Stelle ist ihre Arbeit nicht weniger subtil.
In Beau travail kreist ein unausgesprochenes homoerotisches Verlangen zwischen den Männern wie eine losgelöste Energie, die man nicht fassen kann, derer man sich noch nicht einmal bewusst werden kann. Fast zärtlich beobachtet die Kamera die Erotik des Wehrsport-Balletts der nackten Körper und legt dabei subtil die treibenden Mechanismen von Macht und unterdrücktem Verlangen frei. Begehren ist Alltag und der Ausnahmezustand in ihm. Es gibt die Andeutung eines Eifersuchtsdramas. Aber die Blickstrategien, über die sich die Spannung zwischen den drei Männern aufbauen müsste, sind nicht eindeutig, sie bleiben so ziellos und ambivalent wie das Begehren selbst. Es flottiert frei.
White Material umkreist die zerstörerische Form des Begehrens. Zwei Kindersoldaten berühren die Haut eines verängstigten weißen Jugendlichen und nennen ihn „gelben Hund.“ Dann schneiden sie ihm mit einer Machete ein Büschel Haare ab. In einer psychischen Aufwallung rasiert der sich dann den Schädel und stopft dem erschrocken aufschreienden Hausmädchen die Haare in den Mund. Die Geste ist klar: „Ich gebe Euch Schwarzen, was Ihr haben wollt, aber Ihr sollt dran ersticken.“ In einer anderen Szene, die spiegelbildlich dazu steht, berührt der Bürgermeister die Haare der weißen Besitzerin der Kaffeeplantage, die ihn um Hilfe gebeten hat. Er sagt, dass sehr helles Haar das Unglück anziehe, es wecke die Lust am Plündern. Und blaue Augen seien unangenehm. Der Satz ist wie ein Ausrufezeichen hinter einer langen Bilderkette.
Denis Filme sind spracharm, weil die Sprache des Begehrens körperlich ist. Schauspieler fanden die Figur des schwarzen Hausboys Proté erniedrigend, weil Proté nicht nur der Diener sei, sondern fast kein Wort sprechen dürfe. Denis Antwort war: „Das Gegenteil ist der Fall! Meiner Ansicht nach ist er die Hauptfigur, weil durch seine Sprachlosigkeit seine Präsenz alles bedeutet.“ Wenn dermaßen die Person der Körper ist, tritt nicht nur die Psychologie in den Hintergrund, auch das Symbol und die Metapher. Der Kuss, der schon bei Kleist wie ein Biss ist, ist dann wirklich einer. In Trouble Every Day hat Denis das in den härtesten und düstersten Szenen gezeigt. Die Frau als Vampir reißt einem Jungen die Lippen und die Zunge weg, reißt ihm Löcher in die Schulter, bohrt mit ihren Fingern in der Wunde herum. Hier wird der Gedanke Fleisch, Begriff und Körper stoßen unmittelbar, ohne Vermittlung aufeinander. Der Film handelt allegorisch von der unerträglichen Zerrissenheit der Lust und jedes Bild des Films handelt in seiner Buchstäblichkeit davon. Es ist Horrorfilmen eigentümlich, dass in ihnen der Metatext zum Text wird. Aber die Fähigkeit von Denis und Godard, suggestiv und sinnlich zu erzählen, macht diesen Film zu einem Höllentrip. Denn es ist nicht möglich, sich, wie in einem beliebigen Horrorfilm, den Bildern amüsiert zu überlassen, mit dem beruhigenden Gefühl, dass es sich nur um Kino handelt.
Man kann in diesem vielfältigen Werk der Spiel- und Dokumentarfilme, der Künstler- und Rockfilme, die drei afrikanischen Filme, die im Abstand von jeweils 10 Jahren entstanden sind, als eine Art Rückgrat sehen. Da Claire Denis in Afrika aufgewachsen ist, drängte sich natürlich die Frage auf, ob nicht zumindest Chocolat ein autobiographischer Film sei. Sie hat dazu gesagt: „Das Kind in Chocolat, das bin nicht ich. Das ist ein sehr fernes Bild. Erst als der Film fertig war, habe ich gesehen, dass es eine ferne Verwandtschaft gab.“ Aber Autobiographie ist nicht Rechenschaft über die Summe des Erlebten. Autobiographie ist Begehren. In diesem Sinn sind nicht ihre Filme autobiographisch, aber ihr Werk. Am Ende von Chocolat warnt der Fahrer die junge Frau, dass Afrika dem Schicksal derer gleichgültig gegenübersteht, die dort ihre eigenen Interessen verfolgen und er rät ihr, abzureisen. Aber es ist, als habe die junge Frau das nicht gehört und sei direkt weitergegangen in den Film White Material, in eine Zeit, in der die Afrikaner das Land in Besitz genommen haben. Es gibt eine Korrespondenz zwischen diesen beiden Filmen, die nicht nur darin besteht, dass beide einen weiblichen Blick im Zentrum haben. White Material ist das Vexierbild von Chocolat: Black Material – White Chocolat.
Denis Untersuchung von ambivalenten, bisweilen undechiffrierbaren postkolonialen Identitäten geht aber über die Frage von Schwarz und Weiß und einer kreolischen Identität, die möglicherweise unsere sein wird, hinaus. In fast allen ihren Filmen geht es um Paare. Zwar sagt sie: „Es fällt mir schwer, von Paaren zu erzählen.“ Doch sie tut nichts anderes als das. Sie erzählt von unvollständigen Paaren und ungewöhnlichen Paaren. In 35 Rhums ist die Mutter abwesend und der Vater richtet sein gesamtes Leben darauf aus, die Tochter heranwachsen zu lassen und diesen Prozess nicht durch seine eigenen Bedürfnisse zu stören. In ihrem Film J’ ai pas sommeil hält der afrikanische Vater mit rührender Umsicht und Liebe an dem gemeinsamen Sohn fest, nachdem die Ehe zwischen ihm und einer weißen Französin gescheitert ist. Das hat eine autobiographische Signatur. Denis’ Mutter, die von ihrem Vater, einem Witwer, erzogen wurde hat ihrer Tochter Claire gesagt: „Ich liebe euch, aber ich bin keine Mutter. Ich bin eine Tochter. Dein Großvater war der Mann meines Lebens. Nicht, dass ich deinen Vater nicht auch mag. Aber dein Großvater war das Ideal eines Mannes.“ Und Claire Denis fährt fort, dass sie in dem Bewusstsein aufgewachsen sei, dass Männer sehr viel zärtlicher sind als Frauen: „Wir lebten einen völlig unnormalen Traum von Familie.“ Wenn man auf diese Weise von klein an gelernt hat, dass eine Identität nicht festgeschrieben ist, hat man ein natürliches Interesse an der Auflösung von Grenzen und an der postkolonialen Frage, was das Paar ist, wenn es keine Hierarchie der Geschlechter mehr gibt und wenn über die Eigenschaften, ohne die die Menschen nicht leben können, nicht qua Geschlecht entschieden ist. Die Welt kreolisiert sich nicht nur in der Vermischung der rassischen Identitäten, sondern auch der geschlechtlichen Zuschreibungen.
Claire Denis macht Bastardkino nicht nur, weil sie mit schmalen Budgets arbeitet, die Bastardisierung ist auch ihr Thema. Form und Produktionsweise sind der direkte Ausdruck dessen, was sie erzählen will. Die bescheidene Filmemacherin, die nie auf die Idee kommen würde, dass man, um Filme zu machen, „besessen“ sein muss, kam zum Film nicht mit der Geste des Eroberers und nicht mit dem Anspruch dessen, der in Besitz nimmt, was ihm zusteht. Erst zögernd beschloss sie, an die Filmschule IDHEC zu gehen, ohne ganz klar zu wissen, was das eigentlich war. Selbst dann wusste sie noch nicht, ob sie wirklich Filme machen wollte, sie fand die Idee eher abartig und unbescheiden. Erst nach Jahren sah sie klar, dass sie dieses, ihr Begehren akzeptieren musste. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass jemand, der so lange dazu braucht, sein eigenes Begehren zu akzeptieren, dann Filme macht, die alle vom Begehren handeln. Aber auch diese Worte gelten: „Was dich am Laufen hält, das ist die Verantwortung. Fast unbewusst organisiere ich mich so, dass ich immer nah am Abgrund entlanggehe. Ich möchte, dass sich jeder dessen bewusst ist: die Filmcrew, die Schauspieler und natürlich der Produzent. Wir sollen wissen, dass uns die Gefahr im Nacken sitzt, damit es nicht nur darum geht, Bilder und Töne zu produzieren.“
Ich hoffe, ich habe sie mit meiner Begeisterung für Claire Denis angesteckt. Es gibt noch Vieles, was lohnt, entdeckt zu werden. Einer ihrer Freunde, Jim Jarmusch, hat das kürzer und persönlicher gesagt: „There is no other filmmaker like Claire Denis and what a beauftiful gift for us all.“
Jutta Brückner
Bild oben: „Chocolat“ (F/BRD 1988) Bild: Impuls
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