Die Wahrheit schreiben
Eric Ambler zum 100. Geburtstag (28. Juni 1909 – 22. Oktober 1998)
Historiker wollte er eigentlich werden. Aber da er kein Intellektueller sei, meinte er selbst, habe es nur zum
Krimi-Autor gereicht. Gut für uns, denn Eric Amblers Werk ist einzigartig in der Kriminalliteratur. So wie Dashiel Hammett den Detektivroman revolutionierte, „den Mord den einfachen Leuten zurückgab“, so hat der unterkühlte Engländer Ambler die Thriller-Literatur neu begründet. Ambler war der festen Ansicht: „Es gibt keinen Unterschied zwischen seriöser Literatur und Unterhaltungsliteratur. Es gibt nur gute und schlechte Bücher.“
Seine Romane gehören zu den Besten. Überzeugen Sie sich davon: Alle 18 Romane, eine Biographie und die Aufsatzsammlung „Die Begabung zu töten“ sind als Taschenbücher beim Diogenes-Verlag erhältlich. In Sachen Autorenpflege sind die Züricher auch im Falle Ambler vorbildlich. Der sagte zu seiner herrlich verlogenen Autobiographie mit dem schönen englischen Titel „Here Lies“, was die Grabsteininschrift „Hier liegt“ oder eben einen Haufen Lügen bedeuten kann: „Nur ein Idiot glaubt, dass er über sich die Wahrheit schreiben kann.“
Vom Schreiben hatte der Sohn einer Komödiantenfamilie schon lange geträumt. Siebenjährig lehrte ihn sein Großvater ein „großes, einschüchterndes Wort“: „Ka-pi-ta-lis-mus“. Die ersten Bücher, die er selbst besaß, waren „Grimms Märchen“ und „Alice im Wunderland“. Lebhaft identifizierte sich der junge Eric mit Detektivhelden wie Sherlock Holmes, obwohl er selbst nicht gerade ein Musterknabe war. Seine Jugendbande klaute wie die Raben, Prügel wurden ausgeteilt und eingesteckt. Sein Viertel im Süden Londons war nicht das vornehmste. Es lag außerdem auf der Route der deutschen Zeppeline und Flieger, die im Ersten Weltkrieg London bombardierten. Krieg, Gewalt, ein abenteuerlustiger Onkel, ein kritischer Großvater, Armut, Betrügereien und dunkle Geschäfte – es war nicht die feine Welt, in der er aufwuchs. Besonders gute Noten brachte der Raufbold in Physik und Chemie nach Hause. Maschinenbauingenieur wurde sein Beruf. Und da er gut schreiben konnte, wechselte er bald in die Werbeabteilung der Firma. Wurde ein erfolgreicher Werbemensch.100 000 zu dunkel geratene Glühbirnen verkaufte er so geschickt als „Neuerung“, dass 200 000 nachproduziert werden mussten. Sein erstes Buch war ein Leitfaden für werdende Mütter, der Auftraggeber ein Babynahrungshersteller. Die knappen Urlaube nutzte der Abenteuerlustige für Streifzüge durch „den Kontinent“: Frankreich, Deutschland, Italien, per Orientexpress durch den Balkan, per Schiff nach Marseille (zehn Tage hin und zurück, vier Tage und Nächte in den Hafenbars). Europa zwischen den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts war aufregend und gefährlich – und bald der Stoff für Amblers Romane.
1935 war es soweit: Ambler veröffentlichte seinen ersten Thriller, „Der dunkle Grenzbezirk“. Der Held, ein harmloser Professor, gerät mit seiner Erfindung in den politischen Machtkampf europäischer Staaten. Seine „thermonukleare Erfindung“ ist nichts anderes als die Atombombe. Zehn Jahre, bevor es sie wirklich gab, hatte der Naturwissenschaftler Ambler sich die Waffe aus Fachzeitschriftenartikeln zusammengereimt, und auch die politischen Implikationen vorweggenommen. Ambler, das im Klammern, konnte von sich sagen, der erste Atombomben-Gegner gewesen zu sein.
Auch Amblers zweiter Roman schockierte. Durch ein Pokerspiel gerät ein englischer Journalist unabsichtlich in „Ungewöhnliche Gefahr“. Gegen seinen Willen – ein freundliches Verhör, ein eingezogener Pass sind überzeugende Argumente – wird er eine von allen Seiten benutzte Schachfigur im politischen Dunkelspiel. Es geht um eine mächtige Ölfirma, die Regierung spielt. Die damaligen Leser von Spionageromanen, bis dahin eine Sache für Gentlemen und mit klaren Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, waren entsetzt und fasziniert: „Die Guten“ gibt es nicht, auf keiner Seite, der Kleinkrieg ist unappetitlich und schmutzig, es wird gelogen und gefoltert und außerdem der Kapitalismus madig gemacht.
„Nachruf auf einen Spion“, Amblers drittes Buch, zeigte, wie brüchig die Welt vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geworden war. Niemand ist mehr sicher, jeder kann jederzeit in eine Sache hineingezogen werden, die nicht seine ist. Hier passierte das dem staatenlosen Vadassy, mit dessen gestohlener Fotokamera Geheimes fotografiert worden war. Als Spion verdächtigt, muss er nun mitmachen im Untergrundkrieg. Und mitmachen, gar Informationen erfinden, um am Leben bleiben zu können, muss auch der Ingenieur Marlow, der nur eine Fabrik in Mailand übernehmen sollte, in Amblers viertem Buch, „Anlass zur Unruhe“. Anlass zur Unruhe gibt hier, das ist der Hintergrund, der aufkeimende Faschismus.
1939 erscheint dann der Roman, den viele für Amblers Meisterwerk halten: „Die Maske des Dimitrios“. Literarisch raffiniert, psychologisch differenziert und bis heute in keiner Zeile veraltet, erfährt hier der unbedarfte Detektivschriftsteller Latimer, der sich auf die Spur des Kriminellen Dimitrios setzt, von einer Welt, die er sich nicht träumen ließ und die doch mehr als real ist, nämlich von der schmutzigen Unterwelt der Politik und des internationalen Verbrechens. Latimer muss erfahren, dass moralische Urteile hier gar nicht einfach, jedenfalls nicht sehr hilfreich sind. Denn was hilft die Empörung über einzelne kleine Verbrecher, wenn die Politik von Staaten und Konzernen über Leichen geht? Latimer merkt, dass „das internationale big business seine Geschäfte zwar auf Papier macht, aber die Tinte aus menschlichen Blut besteht“. Der Privat-Verbrecher Dimitrios kommt ihm da „logisch vor wie ein Nervengas“, denn er ist ein Krimineller, aber auch ein Opfer von Umständen. „Bei einem Mordanschlag ist es für mich nicht das Allerwichtigste, zu wissen, wer den Schuss abgegeben hat, sondern wer die Kugel bezahlt hat“, heißt es in dem Roman. Ich muss sagen, dieses Buch macht mir heute noch Gänsehaut und der Anfang ist so furios wie poetisch.
Auch Ambler, der die Politik und was sie mit dem Kleinen macht, in den Spionageroman brachte, wurde in Opfer der Umstände, könnte man sagen. Er unterbrach seine Karriere als Schriftsteller, ging in die Armee, um im Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus zu kämpfen – und landete beim Film. Briten und Amerikaner hatten nämlich eigene Filmproduktionen, um die Moral von der kämpfenden Truppe zu stärken. Ambler traf hier und arbeitete mit Regisseuren wie Carol Reed, John Houston, Frank Capra, Peter Ustinov und David Niven. Freundschaften entstanden.
Ambler blieb auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges beim Film, er schrieb mindestens 15 Drehbücher, wurde für das von „Der große Atlantik“ zum Oscar nominiert und nach Hollywood geholt, konnte es dort allerdings Marlon Brando beim Drehbuch für „Meuterei auf der Bounty“ nicht recht machen. Dafür wurde er Alfred Hitchcocks enger Freund, heiratete ihm die Assistentin Joan Harrison weg.
Was als Markenzeichen Hitchcocks gilt – ein unbedarfter kleiner Held wird in bedrohlich große Komplotte verwickelt und muss bis zum bitteren oder guten Ende mitspielen – das ist, es muss gesagt werden, in Wahrheit Eric Amblers durchgängiges Thema. Deshalb ziehen uns seine Bücher heute noch so in Bann, deswegen erfahren wir soviel aus ihnen über die wirkliche Welt. Amblers Protagonisten erhalten politische Lektionen am eigenen Leib. Ihre Ungewissheit ist auch unsere, ihre Angst können wir teilen, auch ihre Neugier, und jenen Punkt, hinter es zu spät ist, auszusteigen.
Wir Leser freilich kommen relativ ungeschoren davon, durchgeschüttelt zwar, aber auch gut unterhalten von Amblers unterkühltem britischen Humor. Und immer wieder ist es erstaunlich, was Ambler zaubert aus der nüchternen Addition konkreter Fakten, die sich in jeder Tageszeitung finden lassen. Sein „Levanter“ erschien, bevor der Nahostkonflikt in den Terroranschlägen eskalierte. „Waffenschmuggel“ und „Besuch bei Nacht“ lenkten früh den Blick auf die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Sieben Jahre vor der Entdeckung von Rabta, Gaddafis
Giftfabrik und lange vor Saddams Giftgaskrieg gegen die Kurden, präsentierte uns Ambler 1981 in „Mit der Zeit“ einen arabischen Scheich, der sich Waffen für die chemische Kriegsführung beschafft.
Ambler, der verhinderte Historiker, der immer nach vorne schaute, der die Zeit der Angst vor Hitler förmlich roch, den Kalten Krieg zum Thema machte, dann die Wirtschafts- und Geheimdienst-Kriege der Nachkriegszeit, liefert uns aber nicht nur Röntgenbilder unserer komplizierten Welt. Ihn interessieren auch der Platz und die Möglichkeit, die der Einzelne darin hat. Die Angstlust und die Gefahr, so sagte sein Kollege Graham Greene, analysiert Ambler so sorgfältig wie andere Autoren Liebe oder Schuld.
Selbst noch Amblers harmlosester Roman „Topkapi“, das ist jener auch verfilmte Juwelenraub am Bosporus, beginnt mit den Sätzen: „Ich hatte keine andere Wahl: Wenn mich die türkische Polizei nicht verhaftet hätte, so hätte mich die griechische hinter Schloss und Riegel gebracht. Ich musste tun, was Harper mir befahl. Dieser Harper war schuld an allem, was später geschah…“
Und noch ein Buchanfang, um wieder neugierig zu machen auf Eric Ambler. Sein leider letzter Roman, „Mit der Zeit“, beginnt so: „Der Brief mit der Warnung traf am Montag ein, die Bombe selber am Mittwoch. Es wurde eine betriebsame Woche…“ Von einer Zeitung um sein Motto gebeten, antwortete der Moralist Ambler: „Niemals jemandem zu trauen, der sich von einem Motto leiten lässt.“
Autor: Alf Mayer
Krimi-Kolumne: Blutige Ernte
Text geschrieben
Juni 2009
Text: veröffentlicht unter www.strandgut.de
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