Herzzerreissend gut
Auf einer Straße wird ein Mann niedergeschlagen, blutend und weinend liegt er da. Zwei Psychologen kommen vorbei, und einer sagt zum ander
en: „Los, lass uns denjenigen
finden, der das getan hat. – Er braucht Hilfe.“
Der Psychotherapeut Joe O’Loughlin erzählt diesen Witz in Michael Robothams „Adrenalin“. Joe ist die Hauptfigur, ist Anfang 40, verheiratet, wird in einem Mordfall verdächtigt. Und er hat Parkinson. Ein Tag, an dem er sich selbst die Schuhe problemlos binden kann, ist ein guter Tag. Es ist eine Krankheit, die den Körper angreift, nicht den Geist, aber auch jede Menge psychischer Folgen hat. Mit schwarzem Humor und makabren Witzen hält Joe sich über Wasser. Aber dies allein gibt den Inhalt von „Adrenalin“ längst nicht wieder.
Den Plot eines Romans in wenige Zeilen zu fassen, ist immer ein riskantes Unterfangen. Erst 117 Seiten lang war das Manuskript von „Adrenalin“ („The Suspect“), als es auf der Buchmesse von London zum Gegenstand eines Bieterwettbewerbs wurde. Autor Robotham saß ahnungslos in Sydney. „Innerhalb von acht Stunden veränderte sich damals mein ganzes Leben dramatisch“, erzählte er mir in einem Interview. Verlage
aus England und USA, Deutschland, Niederlande, Frankreich und Italien überboten sich mit hohen Summen. Es endete mit einem Drei-Bücher-Vertrag für Robotham, „Adrenalin“ wurde in 27 Länder verkauft. Wohlgemerkt: ein unvollendetes Buch, von dem es nur die ersten Kapitel gab. Worüber Robotham sich heute noch am meisten wundert: „Niemand, wirklich niemand, hat mich gefragt, wie denn das Ende sein würde. Sie haben ein Buch gekauft, dessen Ende sie nicht kannten.“ Seine Schlussfolgerung: „Das Buchbusiness ist verrückt.“
Uns Lesern soll es recht sein, solange Ausnahmeautoren wie Michael Robotham durch seine Ritzen schlüpfen. Der frühere Journalist und Ghostwriter von Autobiographien schreibt herzzerreißend gute Romane. Dass es Thriller sind und Kriminalromane, akzeptierte er für sich zögerlich erst selbst, als er diese Benennung sogar in seinem Vertrag vorfand, den er damals nach der Londoner Auktion schnell unterzeichnet hatte. „I’m an accidential crime writer, I’m the reluctant thriller writer“, sagt er über sich.
Zufällig und widerborstig sieht er sich im Krimi-Genre platziert. Wie alle Grenzgänger und Grenzverletzer ist er eben deshalb ganz besonders interessant, sind seine Romane zutiefst humane Kriminalliteratur. Nichts Menschliches ist Robotham fremd, Spannung erzeugt er nicht an der Oberfläche. Seine Personen sind multidimensional, glaubwürdig, echt. Seine Protagonisten Joe O’Loughlin und der grimmige Polizist Vincent Ruiz wachsen einem ans Herz, man trifft sie gerne wieder. Michael Robotham weiß: „Viele Krimis haben das Problem, dass die Charaktere nicht stark genug sind und das es mehr die Plots sind, die das Buch vorantreiben. Gute Romane brauchen starke Charaktere.“ Dass eine Figur einem Autor entgleiten kann, ist ihm unbegreiflich. Die Menschen, die Robotham beschreibt, sind für ihn so real, dass über sie zu schreiben, ihre Autobiographie schreiben heißt. Ein Buch, das ist sein Anspruch an sich selbst, wie er mir erzählte, muss für ihn so voller Geschichten und Menschen und Schicksale stecken, dass es für den Leser wie ein Gang durch eine ganze Bibliothek voller Autobiographien wird, voller kleiner und großer Ausschnitte aus vielen realen Leben. „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel Garcia Marquez gehören zu seinen Lieblingsbüchern.
Der Australier Robotham hat sich den Dschungel Londons, wo er zehn Jahre als Journalist arbeitete, für seine tief ins Herz gehenden Romane ausgesucht. Nicht zwingend, aber am schönsten wäre es, seine Romane in der Reihenfolge des Erscheinens zu lesen. In England und USA tragen sie zum Teil unterschiedliche Titel: Nach drei Taschenbuchausgaben hat der Goldmann Verlag nun Robothams viertes Buch als Hardcover herausgebracht.
Amnesie (Lost / The Drowning Man)
Dein Wille geschehe (Shatter / The Sleep of Reason)
“Bombproof”, seinen fünften Roman, stellte er einer australischen Lese-Aktion kostenlos zur Verfügung. 300 000 Freixemplare wurden verteilt. Seine Hoffnung: „Wem dieses Buch gefällt, der liest vielleicht auch mal wieder ein anderes. Das muss nicht von mir sein, es geht mir ums Lesen.“ Lesen ist für den ehemaligen Journalisten elementar: „Saying you don’t like books is like saying you don’t like sex.“
Autor: Alf Mayer
Krimi-Kolumne: Blutige Ernte
Text geschrieben 2009
Text: veröffentlicht unter www.strandgut.de
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