Eine Sonderausstellung des deutschen Filmmuseums veranschaulicht die Aktualität des Regisseurs RWF. Viele Themen seiner Filme sind heute so relevant wie zu ihrer Entstehungszeit.
Die in Kooperation mit der Rainer Werner Fassbinder Foundation stattfindende Ausstellung präsentiert zahlreiche Originaldokumente aus dem Fassbinder Archiv, welche die Arbeitsweise des Regisseurs beleuchten. Begleitend ist eine Retrospektive im Kino des Filmmuseums zu sehen.
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Der zeitlose Fassbinder
Jeder leidet in einer Gesellschaft, die von den Leuten alles mögliche verlangt,
ohne ihnen je die Entscheidung darüber zu lassen,
was sie selbst eigentlich wollen.“
(RWF 1977)
In der Geschichte des deutschen Nachkriegskinos steht Rainer Werner Fassbinder einzigartig da, so einfach scheint das; weder in seiner Arbeitsweise, in seinem Stil noch in seinen Themen gab und gibt es Vergleichbares. Zwischen 1969 und 1982 drehte er rund vierzig Filme, die die Vorstellung von einem modernen Kino nicht nur in Deutschland nachhaltig veränderten. Zugleich war „RWF“ auch ein Mythos, eine provozierende öffentliche Gestalt, ein „heiliges Monster“ des ästhetischen Aufbruchs zwischen Sexualität, Politik und Biographie. 69 Jahre würde Rainer Werner Fassbinder in diesem Jahr werden. Können wir uns vorstellen, welche Filme er heute machen würde? Hätte er ohnehin seinen Traum (und wahrscheinlich Alptraum) realisiert, Deutschland zu verlassen? Und wo ist, neben dem Bruch, etwas an Kontinuität und Auseinandersetzung zu finden?
Fassbinder starb im Jahr 1982 und in diesem Jahr begannen die Ära Kohl und schlechte Zeiten für den deutschen Film. Natürlich wurde das empfunden, als habe uns da der letzte gute Geist von allen verlassen. Seitdem sucht man immer wieder mal nach einem „neuen Fassbinder“. Genau so blöd ist unsere Filmkultur wieder einmal! Dabei stimmt ja alles hinten und vorne nicht. Außer ein paar effektvollen „Fassbinderismen“ hat das deutsche Kino nicht viel von ihm lernen wollen. Und die Kritik hat zwar das Monstre Sacré gefeiert, sich am Leitfaden von Zeitgeschichte, Skandal und Biographie in sein Werk gegraben, aber sich nur wenig mit den grundlegenden Veränderungen des Kinos, die möglich wurden durch ihn und dann doch nicht gewünscht waren, auseinandergesetzt. Rainer Werner Fassbinder, jenseits aller Manien und aller Mäander, war ein moderner, ein politischer und ein aufklärerischer Filmemacher. Die neue Mitte wollte so etwas genau so wenig wie die alte. Sie war froh, dass ein heiliges Monstrum, auch in der Filmkunst, nur in der Einzigartigkeit überlebt.
Schon seine allererste Lektion hat man übelgenommen und schnell vergessen. Dass man zum Filmemachen nicht viel Geld, Apparat, Gesellschaft braucht, dass eben die Kunst der Kino-Moderne in der Reduktion bestehen kann, dass Darstellung nicht Imitation ist. „Ich bin“, sagt der Regisseur Christian Petzold, „beim Wiedersehen immer noch begeistert, dass für Fassbinder bei HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN für die Darstellung der 50er Jahre ein Hinterhof, ein Obstkarren, ein VW-Bus mit geteilten Scheiben völlig ausreichen, um das historische Fluidum zu erzeugen. Heute würden deutsche Filmemacher wahrscheinlich eine Straße in Babelsberg anmieten und 300 Komparsen ausstaffieren, um pseudo-historische Geschäftigkeit zu erzeugen. Diese Reduktion finde ich phantastisch! Oder bei BERLIN ALEXANDERPLATZ, wo Fassbinder den U-Bahnhof nie als Totale sondern immer aus dem Aufgang, aus der Erde heraus zeigt. Fassbinder wird immer als Tier oder global thinker gesehen. Erstmal war er einer, der mit dem Vorhandenen Film machte“.
So ging das los. Die ungeheure Produktivität dieses Filmemachers sagt ja nur einerseits etwas über die Besessenheit eines Menschen aus. Darüber hat sich der Autor nie Illusionen gemacht: „Dass ich so viel gearbeitet habe, hat eher mit Krankheit zu tun als mit Potenz“, hat Fassbinder selbst gesagt, „Ich arbeite nicht aus einem Bewusstsein der Kraft, sondern, abgesehen von Geisteskrankheit, Paranoia oder so, vielleicht auch aus Angst vor Einsamkeit. Es hat ganz menschliche und konkrete Gründe, warum ich so viel getan habe“. Natürlich, aber diese Angst war nicht die eines einzelnen Menschen allein, es war eine Angst in der Zeit und in der Gesellschaft.
Nach dem Tod des „Autorenfilms“ ging auch die zweite Lektion Fassbinders verloren: Filme machen mit dem Vorhandenen, aber gegen das Vorhandene. Mit dem, was Fassbinder an „Misserfolgen“ angehäuft hat, könnte man heute eine Mehrzahl von Regie-Karrieren abbrechen. Die Filmographie von Rainer Werner Fassbinder lässt sich nicht am Leitfaden von „Erfolg“ entwickeln; zu ihr gehören Filme, die beinahe unsichtbar geblieben sind (wie sein Western WHITY) ebenso wie Filme, deren Produktion ihm als Verrat an den Idealen des Autorenfilms ausgelegt wurden (wie die Zusammenarbeit mit einem „Altproduzenten“ wie Luggi Waldleitner).
Auch die Lektion 3, die von Fassbinder zu lernen gewesen wäre, passte nicht ins Konzept der bundesdeutschen Kultur der 1980er: Kino ist eine offene Kunstform. Sie ist zur Pop-Kultur, zur Literatur, zu den Comics, zur Philosophie, zur Politik, zum Privatleben offen. Nicht zuletzt ist sie zum Theater offen. Das steckt noch in den späteren Fassbinder-Filmen, in denen er mit der linken Hand hat zeigen können, dass er mit „Hollywood“ so wenig Probleme hatte wie mit „Bildung“ und „Unterhaltung“.
All das begann in den etwas verschmuddelten Räumen eines früheren Münchner Action-Kinos in der Müllerstraße. Der junge Fassbinder hatte hier ein paar Enthusiasten um sich versammelt und ein Theater gegründet. Als Anti-Theater galt das action-theater nicht nur, weil die Zuschauer während der Vorstellung trinken, rauchen und sich bewegen durften und bei der Hochzeit von Leonie und Lena eine, damals, im Jahr 1967, für deutsche Bühnen ungewöhnliche Musik als ironischer Kommentar erklang. Es war When I’m Sixty-Four von den Beatles.
Das action theater und was daraus wurde, untersuchte klassische Stücke von der Antike bis Marie Luise Fleisser auf ihre Brauchbarkeit für die Gegenwart. Und die Beteiligten, der Regisseur und Schauspieler Fassbinder, der Komponist und Regisseur Peer Raben, dann die Schauspieler Uli Lommel, Kurt Raab oder Hanna Schygulla, spielten nicht ein Theaterstück, sie spielten mit Stücken und Texten. Es war, wenn man so will, eine Art der naturalistischen Verfremdung: ganz klar ging hier etwas Brechtisches weiter, genau so klar aber war auch, dass es neben der Lehre das Subjekt gab. Und beides war nicht unbedingt identisch. Man könnte Fassbinders spätere Filme, unter vielem anderen, als Lektion 4, so interpretieren: Als Ereignisse, in denen die Lehre und das Subjekt sich einander nicht synchron verhalten. Als Filme, in denen die Lehre über das Subjekt, und andere, in denen das Subjekt über die Lehre verzweifelt. So wurde Fassbinder der Linke der Linken und daher, wenn er zu lästig wurde, als Rechter diffamiert.
Einen grundlegenden Unterschied zwischen Theater und Film gab es für Fassbinder nicht. Sein ursprüngliches Konzept war ganz einfach: „Anfänglich habe ich Theater so inszeniert, als wäre es Film, und Film so als wäre es Theater. Das habe ich ziemlich stur gemacht.“ So lösen sich seine Film-Sequenzen in Bühnenbilder auf, und umgekehrt wurden seine Bühnenbilder durchlässig für ein off des äußeren Lebens.
Lektion 5: Nach der Reduktion des Filmemachers auf das Vorhandene ist die Auseinandersetzung mit der Theater-Dramaturgie jenseits des psychologischen Realismus ein Instrument der Befreiung für ein Kino der Moderne. Und da machte das merkwürdig Somnambule der Schauspieler seinen Sinn: In einem Fassbinder-Stück/Film ist der Schauspieler weder Metapher noch Idee noch ist er gar vollständige biographische und psychologische Einheit. Er ist Passage, durchscheinend und immer auch abwesend. Das Theatralische ist Teil seines Wesens; kein Schauspieler verschwindet in seiner Rolle, und kein Fassbinder-„Star“ funktioniert ohne weiteres außerhalb dieses Film/Theater-Komplexes.
Nach mehreren Zwischenstationen hatten Rainer Werner Fassbinder und die Gruppe des antiteaters an einem denkwürdigen Novembertag des Jahres 1969 in Bremen ihren ersten Durchbruch zum kulturellen Mainstream, der sich natürlich gleich auch wie eine Kampfansage ausnahm. Mit zwei Theaterstücken, einer Bearbeitung von Goldonis „Kaffeehaus“ und der eigenen Collage-Produktion „Anarchie in Bayern“, mit zwei Filmen, LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD und KATZELMACHER, und mit einem Rainer Werner Fassbinder, der im Interview ein lebenslanges Spiel mit Verweigerung, Provokation und einer besonders musikalischen Form von Sprachlosigkeit begann, mit der er auch die Kunst- und Kommunikationsform „Interview“ auf die eigene Fassbindersche Weise zu verfremden verstand. Anders als Godard, einem anderen konsequenten Modernen des Filmes, eignete sich Fassbinder weniger zum Theoretiker in eigener Sache. (Das Subjekt, um es genauer zu sagen, verwarf auch hier die Lehre.)
KATZELMACHER behandelte nicht nur ein Thema, das in der westdeutschen Öffentlichkeit so gut wie nicht vorkam, nämlich das Leben der Gastarbeiter und die ablehnenden Reaktionen der Bevölkerung im Alltag. Er behandelte es auch auf vollkommen ungewöhnliche Weise. Wie immer in den späteren Filmen, die sich mit den Fremden und den Außenseitern in der Gesellschaft befassten, zeigte er den Protagonisten (Fassbinder selbst spielte ihn) nicht als Projektion der Lehre, sondern als Subjekt in ihr. Das Opfer wird niemals auf diese Rolle reduziert, auch das marginalisierte Subjekt trägt die Möglichkeit des Täters in sich. Darüber hinaus zeigte KATZELMACHER zum ersten Mal jene ästhetische Methode, jenen Fassbinder-Stil, der so leicht zu erkennen wie schwer zu beschreiben ist: Da ist eine Sprache und ein Sprechstil, die ihre eigene Künstlichkeit betonen. Da ist ein getragener, fast träger Bewegungsstil der Schauspieler. Da ist ein Raum vor der Kamera, dem immer etwas von einer Bühne bleibt, eine Vorliebe für begrenzende Wände, eine theaterhafte Wiederholung von Szenenbildern mit geringen Variationen. Da ist eine Auflösung von Geräuschen zu symbolischer Musik. Da ist eine Kargheit, eine Reduktion auf das Wesentliche, die gar nicht verleugnen will, mit welch bescheidenen Mitteln man arbeitet. Vielen Kritikern schien das nur eine Reaktion auf die Produktionsbedingungen für den deutschen Film in den sechziger und frühen siebziger Jahren. Aber zugleich war diese scheinbare Armseligkeit der Ausstattung auch ein künstlerisches Mittel, das der Regie genau wie den Zuschauern etwas von der verlorenen Freiheit im Kino zurückgab.
DER HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN gilt als der letzte Film im ursprünglichen, reinen Fassbinder-Stil und zugleich auch als neuer Beginn mit einer Etüde im sozialkritischen Volksstück. Danach, sagt man, habe der Autor und Regisseur Fassbinder immer neue Ausdrucksformen und neue Genres, neue Einflüsse und neue Stoffe ausprobiert und in seine Arbeit übernommen. Er habe die Scheu vor Farbenpracht, Ausstattung und Opulenz verloren, habe durch die Begegnung mit dem begnadeten Melodramen-Regisseur Douglas Sirk das Emotionale im Film neu bewertet, er sei mit Filmen wie MARTHA auch der Hollywood-Dramaturgie so nahe gekommen, wie er mit EFFI BRIEST nach Fontane auf eine scheue Art das Bildungsgut wieder entdeckt habe, dass er vordem nur zu gern zerriss und neu montierte.
Kein Zweifel: Fassbinder war nicht nur das unermüdliche Arbeitstier des deutschen Kinos, er suchte auch das Publikum, wollte Wirksamkeit. Er hat 1972 eine populäre Fernsehserie inszeniert, ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, 1973 einen Science Fiction-Stoff mit WELT AM DRAHT und 1974 eine TV-Show mit Brigitte Mira eingerichtet, mit der er eine Reihe von Spielfilmen gedreht hatte, deren populärster wohl ANGST ESSEN SEELE AUF war, wieder eine Auseinandersetzung mit dem Fremdsein in Deutschland und damit, dass, wie das Motto des Films erklärt, das Glück nicht immer lustig ist. Aber der stilisierten Kälte von KATZELMACHER ist nun ein einfühlender, mitempfindender Ton gefolgt.
Fassbinder entdeckte die Stars des alten deutschen Films neu. Luise Ulrich und Werner Finck in ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, Adrian Hoven und Ivan Desny in WELT AM DRAHT, Joachim Hansen in der Ibsen-Verfilmung NORA HELMER (1973), Karlheinz Böhm in MARTHA und FONTANE EFFI BRIEST. Und schließlich erschloss er dem deutschen Autorenfilm einen Weg zur internationalen Produktion: Fassbinder drehte mit Eddie Constantine, Lou Castell und Ana Karina. Seine Filme der 1970er Jahre bewegen sich nicht ohne Verzweiflung zwischen dem Persönlichen, dem Deutschen und dem Weltläufigen. Nichts davon kann vergessen werden, nichts davon bietet vollständig Halt.
Vielleicht am heftigsten zeigte sich ein Projekt der Modernisierung des Vorhandenen in seinen Filmen, die er über die deutsche Gesellschaft in der Nazi- und Kriegszeit (LILI MARLEEN) und schließlich in einer Trilogie über die Gesellschaft der BRD und über das Scheitern der Emanzipation starker Frauen in dieser Geschichte drehte: DIE EHE DER MARIA BRAUN spielt in der ersten Nachkriegszeit. Es ist eine exemplarische Geschichte über Frauen, die in den Jahren der Not lernen, männliche Verhaltensweisen zu imitieren und schließlich doch an ihnen zugrunde gehen. Aber wie schon in seinen Theaterarbeiten interessiert den Regisseur auch hier nicht nur der historische Stoff, sondern vor allem das Fortwirken bis in die Gegenwart. In LOLA (1981) geht es um die späten fünfziger Jahre; erneut das Portrait einer starken Frau in den Jahren von Umbruch, Neuanfang und Korruption. DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (1982) erzählt vom Scheitern und Tod eines einstigen UFA-Stars. Der erste Film handelt vom Neubeginn, der zweite von der Anpassung und der dritte vom Zugrundegehen im neuen System eines deutschen Kleinbürgertums, das sich immer gleich zu bleiben scheint durch die Geschichte, durch triumphale Aufstiege und katastrophale Niederlagen. Diesem Kleinbürgertum galt die ganze Aufmerksamkeit, der ganze Zorn, und auf seltsame Weise auch die ganze Zärtlichkeit des Regisseurs. Dieser Welt kam er immer wieder so nahe wie kein anderer Filmemacher, und vor ihr war er auf der stetigen Flucht, in die rastlose Arbeit, in die Kunst. Davon auch handelt Fassbinders letzter Film, die Jean-Genet-Verfilmung QUERELLE, ein radikaler, persönlicher Kunst-Traum. Das Subjekt möchte sich jenseits der Lehre, jenseits der Gesellschaft neu erschaffen. Und es geht nicht.
Es ist ein Welt-Bild in Bewegung, das sich in den mehr als vierzig Filmen zeigt, die Rainer Werner Fassbinder in den Jahren zwischen bis 1982 drehte. Dazu gehört zweifellos eine gehörige Portion Verzweiflung, ein Zorn, der sich manchmal sogar gegen den Zuschauer, immer aber auch gegen sich selbst richtet. Aber es gehört genau so etwas ganz anderes dazu. Die Hoffnung auf einen Menschen, der über sich selbst und seine Verhältnisse hinaus gelangen will. Der grundsätzlich für die Liebe und für die Utopie geschaffen ist, allen Niederlagen, allem Verrat zum Trotz. Egal, wie tief seine Menschen in ihre Täter/Opfer-Rollen verstrickt sind– Täter, die immer auch Opfer, und Opfer, die immer auch Täter sind. In Fassbinders Filmen steckt eine unerschütterliche Hoffnung. Dass das Subjekt die Lehre ziehen wird; dass die Lehre das Subjekt anerkennt. Vielleicht jenseits der Leinwand.
Georg Seeßlen, Mai 2005
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22. November 2012 um 13:46 Uhr
sieben jahre geistert dieser Text schon im Netz und da gelassen hat man dir noch nicht mal ein kleines „Danke schön!“ … tz tz tz … dabei ist es ja nicht so schwer, vorallem da dein Text wirklich Spass gemacht hat zu lesen und darüberhinaus und viel wichtiger, mir Dinge erläutert hat die ich so noch nicht wusste und wissen schadet ja nie, insbesondere wenn es sich um Wissen rund um Film, Deutschem Film, Rainer handelt…danke!