Kino großer Gefühle, das nicht in kleinlichen Kitsch abrutscht, gibt es hierzulande selten. Regisseur Hans Steinbichler hat schon mehrfach, beispielsweise mit der „Winterreise“, sein Faible für üppige Emotionen bewiesen. In „Das Blaue vom Himmel“ schwelgt er geradezu darin, was die Gemüter der Zuschauer spalten dürfte. Denn manchmal überzieht er ein bisschen. Manchmal. Trotzdem lohnt der Kinobesuch unbedingt. Kalt lassen wird dieser Film wohl niemanden.
Die Geschichte, die erzählt wird, läuft auf zwei Zeitebenen ab: 1990 und Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre. Die ersten Szenen spielen kurz nach der Wende. Sofia (Juliane Köhler) arbeitet in West-Berlin beim Fernsehen. Gerade tobt der Umbruch in Lettland, woher ihre Mutter Marga (Hannelore Elsner) stammt. Kein Wunder, dass sich die TV-Journalistin brennend für das Thema interessiert und deshalb in ihrem Job außerordentlich engagiert. Doch ausgerechnet jetzt fordert Marga ihre ganze Aufmerksamkeit. Marga leidet an Demenz. Dazu belastet sie offenbar ein schweres Trauma. Sofia glaubt, dass eine Reise an den Ort von Margas Jugend, nach Riga, nach Lettland, helfen könnte. Doch im Chaos des Umbruchs lässt sich dem Gestern nur schwer nachspüren. Doch nach und nach gelingt’s. Und dabei kommt nicht nur Gutes ans Tageslicht.
Hannelore Elsner absolviert eine tour de force. Aggressiv, ängstlich, jubelnd, tieftraurig lebt die von ihr mit Feingefühl verkörperte Marga in einer ganz eigenen Welt. Hannelore Elsner überzieht nicht, bleibt verhalten, und erreicht gerade dadurch eine schöne Intensität. Sentimentalem gibt sie keine Chance. Ganz anders, leider, gelegentlich der Regisseur. In den Rückblenden (Karoline Herfurth verkörpert die junge Marga) lässt er zu oft die Musik ins Gefühlige abgleiten und heizt die Geschichte um persönlichen und politischen Verrat mit ein paar vordergründig-belehrenden Momenten zu viel auf.
Hannelore Elsner und die sensible Kameraführung von Bella Halben entschädigen die Zuschauer aber dafür. Die stärkste Szene hat Hannelore Elsner zusammen mit Rüdiger Vogler. Er spielt einen Mann, dem Marga 1990 nach Jahrzehnten erstmals wieder begegnet. Worte helfen kaum, die Abgründe der Zeit zu überwinden. Vorsichtige Berührungen und fragende Blicke bringen die zwei einander näher. Die beiden Akteure und die Kameraführung lassen das zu einem Moment wirklich großen Kinos werden. Ein zwei Momente von ähnlicher Intensität gibt es noch daneben, vor allem dann, wenn Margas Lebenslüge schließlich aufgedeckt wird. Und diese Momente entschädigen für die kleinen Schwächen.
Das Finale verblüfft: Da wird gestorben und neu-geboren – doch es gibt keine zuckrige Gefühlsduselei. Hier wird die Erzählung ganz dicht und im besten Sinne anrührend. Eindringlich wird klar – und das erfreulicherweise ohne vordergründiges Erklären – wie heftig das große Weltgeschehen die angeblich kleinen, individuellen Menschengeschichten prägt. Es schaudert einen. Und man ist trotz der kleinen Einwände froh, dass endlich mal wieder in Deutschland ein Filmregisseur den Mut aufbringt, der Kraft tosender Gefühle nachzuspüren.
Peter Claus
Das Blaue vom Himmel, Hans Steinbichler (Deutschland 2011)
Bilder: NFP
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