Ländliche Schuld
Didi Danquart macht aus Thomas Strittmatters Bühnen-Skizze „Viehjud Levi“ einen Spielfilm
Thomas Strittmatters karges, kurzes Theaterstück Viehjud Levi beginnt damit, dass eine Kuh auf die Bretter kackt und endet mit drei Varianten des Todes seiner Hauptfigur. Didi Danquarts Spielfilm Viehjud Levi beginnt hochsymbolisch in einem Schwarzwälder Eisenbahntunnel und endet mit der dramatischen Flucht des Helden auf einem holzgetriebenen Gefährt.
Einen „Viehjuden“ hat es in der Heimat Strittmatters, der waldreichen Bauernlandschaft um Sankt Georgen, wirklich gegeben. Das Theaterstück fasst zusammen, was von seinem Leben, seiner Arbeit und seinem Ende zu erfahren war. Viel war es nicht und so handelt das Stück auch vom Verschwinden und Verschweigen eines Opfers im deutschen Faschismus. Am Anfang sehen wir den Viehjuden als einen selbstverständlichen, notwendigen Teil im sozialen und ökonomischen Leben der Bauern. Am Ende muss er weg, um jeden Preis. Jeder Einzelne hätte ein Motiv für seine Ermordung. Eine sehr alte trifft sich da mit einer neuen Brutalität. Deutsche Heimat.
Im zweiten Fall liegt zwischen Anfang und Ende eine richtige Spielfilmgeschichte, erzählt, wie wenn man dabei gewesen wäre. Mit einer Liebesgeschichte, mit erzählerischen Strategien zur Identifikation und solchen zur Distanzierung. Und mit einer Hauptfigur, bezaubernd sanft, glücks- und lebensbegabter als die schwerleibigen Bauern und mit einer eigenen musikalischen Aura – das geborene Opfer. Schöne Bilder, unklares Heimweh, ein deutscher Heimatfilm.
Das Unbehagen im Kultursaal von Sankt Georgen
Man mag es zunächst bedauern, dass ein Stück aus „Erzählfetzen“ (Strittmatter) von einem gewiss begabten und mit dem verstorbenen Autor befreundeten Regisseur so bedingungslos den üblichen, konventionellen Erzählformen unterworfen wurde, dass allenfalls eine freundlich mitfühlende Geste übrig geblieben ist. Ein Unbehagen mag einen da schon beschleichen, wenn im gefüllten Kultursaal zu Sankt Georgen das Publikum so stolz, gerührt und wohl, nach den Worten der Festredner, durchaus auch „unterhalten“ applaudiert. Müssten da im Zuschauerraum nicht Menschen sein, die von Mord oder Selbstmord etwas gewusst haben, oder zumindest die Nachkommen derer, die „nichts wussten und nichts wissen wollten“? Am Ende erklärt der Regisseur, er habe seinen Helden davonkommen lassen, weil er ihm die Aussicht auf eine Flucht, womöglich in die Schweiz, nach Amerika, habe „gönnen“ wollen. Einen größeren Fehler hätte man bei der Rechtfertigung einer künstlerischen Entscheidung, über die man ja streiten kann, nicht machen können. Wenn dieser Film schon hier niemandem wehtut, wie wenig wird er uns andernorts aus der Ruhe bringen?
Was aber, so mag die Konsensmaschine der Medien zurückraunen, wäre denn mit einem radikaleren Film bewirkt, der in keines unserer Formate passte, der Menschen ratlos statt angerührt hinterließe und der, statt eine Geschichte zu erzählen, auch davon erzählen müsste, wie schwer sie sich erzählt? Ist nicht das „Mainstreaming“ ein akzeptabler Preis dafür, dass wir in den neuen und alten Mitten unserer Gesellschaft überhaupt noch reden können, überhaupt noch Bilder finden für die Täter und Opfer von damals? Und ist, wenn wir es tun, dann nicht schon jede Vermeidung ärgster Klischees, jedes Umgehen der Bilderfallen, in die der deutsche Film in seiner kläglichen Erinnerungsarbeit immer wieder gerät, ein Segen?
So könnten wir den Film akzeptieren: nicht so sehr als eine „Adaption“, sondern als eine eigene Schöpfung, so „frei nach“ Thomas Strittmatter, dass wir uns die Mühe der Vergleiche sparen können. Hier die Kontinuität einiger Motive, dort ein Verständnis für die Ästhetik der Reduktion, und da noch ein paar Dialog-Zitate. Ansonsten: ein Spielfilm. In seiner Form, in seiner Erzählweise. Dann zeigt Didi Danquarts Arbeit seine höchsteigenen Vorzüge – und seine höchsteigenen Fehler.
Einige kluge Entscheidungen von Drehbuch und Regie heben den Film über das Niveau der gewohnten Nazizeit-Filme zwischen Karikatur und Nostalgie hinaus. Viehjud Levi ist kein Kostümfilm, er zeigt den Faschismus weder in seiner massierten Selbstinszenierung noch in seiner manifesten Gewalt. Es gibt in diesem Film nicht den Faschismus, der über ein Idyll hereinbricht wie eine hässliche Fremdherrschaft. Er zeigt viele Wege zum Faschismus, zur Unterwerfung und zum Mitmachen, viele Wege, mit seinen Opponenten umzugehen. So ist auch die Einführung einer Gegenfigur zum Viehjud, zugleich Rivale in der scheuen Liebesgeschichte, konsequent: Der politische Nazigegner, der „arbeitsscheue“ Stadtmensch, in der Bauernkultur viel eher ein Fremder als der Jude, wird am Ende Teil jenes Systems, das nur einem nicht die geringste Chance gibt. Und Levi selbst entdeckt viel zu spät, dass sein Opfer genau das ist, was die äußeren Bedingungen der Akzeptanz der „neuen Zeit“, nämlich die vagen Hoffnungen auf wirtschaftlichen Fortschritt und Modernisierung, mit ihren inneren, der Organisation von Hass und Gewalt, zusammenbringt und -hält. Wenn es den Juden nicht gäbe, würden sich die faschistischen Bahnmenschen und die Schwarzwälder Bauern möglicherweise in wechselseitigem Misstrauen gegenüberstehen. Wie eh und je. Viehjud Levi zeigt genauer, als wir das gewohnt sind, dass die Faschisierung nicht nur die Schuld erzeugte, sondern frühe Schuld auch Motor der Faschisierung war.
Dem späten aufklärerischen Ziel des Films freilich steht seine melodramatische Konstruktion im Weg. Danquart selbst nennt ihn „vor allem einen Liebesfilm“. Lisbeth, die Tochter des Bauern, Bediente beim Bärenwirt, nimmt, als sie dem Viehjud das Leben rettet, in Kauf, dass sie alles verliert. Was mag aus ihr in diesem Dorf geworden sein? Und wie kam eigentlich Levis Rivale hierher? Und genügte wirklich die Empfindung von Eifersucht, um ihn so dramatisch die Fronten wechseln zu lassen? Spätestens am Ende wissen wir, dass der Film, weil er zu viel erzählt hat, viel zu wenig erzählt.
Kleine Ungenauigkeiten verderben die Laune
Wie in einer Soap-Opera folgen wir dem Geschehen und dem absehbaren Wechsel von Schrecken, Komik und Zärtlichkeit. Allmählich werden uns die so sorgfältig gewählten und doch reduzierten Schauplätze ein wenig schal, und wir ärgern uns über kleine Anachronismen: Wir hören Lieder, die erst in den vierziger Jahren geschrieben wurden, und wenn Paul ein provozierendes „Dem Ingeniör ist nichts zu schwör“ in Richtung Kohler schickt, möchte man nicht nur im Namen von Dr. Erika Fuchs protestieren, die diesen Spruch in den fünfziger Jahren für den Erfinder Daniel Düsentrieb in den Donald-Duck-Comics prägte, sondern ganz generell nach der Genauigkeit dieses Films fragen. Denn vor allem darauf hätte es zu achten gegolten, wenn aus einer Bühnen-Skizze ein ganzer langer Spielfilm wird.
Alles, was eine traditionelle Filmkritik an einem Film preisen kann, ist in Viehjud Levi zu preisen: hervorragende Schauspieler, gelungenes Casting bis in die kleinste Nebenrolle, schöne Bilder, die sich indes nie zum Schwelgerischen verführen lassen, und eine uneitle Regie. Ein Film von „klassischem Maß“. Aber er weckt auch Zweifel an diesem poetischen Postrealismus. Gerade für die Darstellung des Faschismus nicht nur als Bewegung, sondern auch als Struktur wäre das Kino ein geeignetes Medium. Der Film hätte etwa Strittmatters offenes Ende und damit die Möglichkeit, die Geschichte mehrfach zu erzählen, als Mittel aufnehmen können.
Viehjud Levi wird es, obwohl er es uns so leicht machen will, in unseren Tagen und in unserer Kultur schwer haben. Ein Film, den man lieben kann, schon einfach für die Liebe, mit der er gemacht ist. Und doch ein falscher Film. Ein Film, der nicht nur die Geschichte, die er erzählt, zu harmlos macht. Sondern auch das Kino.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 40/ 1999
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