Der neue deutsche Kindheitsroman befasst sich unter anderem mit „verflossenen Zehen“ und „einstigen Fersen“.
Teil 1 einer Reise ins Reich der Buddelkästen
Ich wurde in einem Land von Riesen geboren und habe darin gelebt; Riesen haben mich an den Handgelenken gepackt und herumgezerrt, seit ich aus meiner Mutter kroch – und diese Riesen sind: die Verhältnisse.
Robert Louis Stevenson: „Markheim“
Mit Literatur aus der Neuzeit kann man mich normalerweise jagen. Ich mag es nun mal, wenn die Damen in Reifröcken einhergehen und die Herren in Kutschen transportiert werden und wenn der Held nicht einfach an der Tür klingelt, sondern seine Ankunft mit Hilfe reizender Billets zu feiern gedenkt.
Wenn die Gasthäuser Des Teufels Zahnbürste oder Zum Grauen Laubfrosch heißen. Wo man, bevor die Nacht in ihre Rechte tritt, dem leckeren Schmaus volle Gerechtigkeit widerfahren läßt – als das Jahrhundert noch Säkulum und das Jahrfünft noch Lustrum hieß. Und sich die Dichter noch nicht Hanns-Josef, sondern Johann Nepomuk oder Adelbert nannten.
Auf pittoreske Schauplätze, auf Traumreiche wie Apapurincasiquinitschchiquisaqua, Nester wie Lollenfinken und Bächlein wie Pluderbach muss, wer neue Literatur liest, natürlich verzichten. Trotzdem habe ich mich, angelockt von einer Fülle moderner Kindheits- und Jugendromane, zu einem Selbstversuch entschlossen und mich zu einer vorösterlichen Fastenzeit „verortheilt“ (Jörg Schröder).
Denn soviel Kindheit war nie. Ein Schwall von Bildungsromanen ergießt sich in die Haushalte, und auf den Nacht- und Spülkästen türmen sich die Schertenleibs, Wawerzineks und Wysockis. Doch was ist`s mit der neuen Welle? Ich habe versucht, mich einzulesen und mir prompt – am ersten, preisgekrönten Werk – eine blutige Nase geholt. Beim dritten Versuch hatte ich mehr Glück. Aber der Reihe nach …
„Piepmatz-Hirnchen“ und „Schleimgesichtchen“
Gleich vorn auf Seite sieben, unmittelbar nach einem erhebenden Kleist-Zitat, setzt ein, was der Autor „den Anhub des Missgeschicks“ nennt. Irgendwas wird „aufgefleischt“, und „unter der Saugglocke des Schocks“ läuft dem „Älteren Bruder“ „eine Wabe seiner Seele aus“. Und schon sind wir im „Sog einer großen Lektüre“ („Deutschlandradio Kultur“).
„Wer seine Nase in die Falten des geblümten Kleides drückt und sich dann wie ein Tier, wie Hund, Katz, Marder oder Bär, dem Schnüffeln überläßt, darf riechen, daß der Schicken Sibylle unter dem festen Kleinmädchenspeck nichts Geringeres als ein Busen schwillt.“ Mit diesem Versprechen entläßt uns das erste Kapitel. Roman unserer Kindheit hat Georg Klein in schwarz-roter Warnfarbe auf den Schutzumschlag schreiben lassen, und sich als Ich-Erzähler „ein schlimmes Früchtchen“ ausgedacht. „Ein ganz besonderes Leibesfrüchtchen ist das“, wie die „Welt am Sonntag“ erläutert, eins, „das mit allen Fruchtwassern der Literaturtheorie gewaschen wurde“.
Dieses weibliche, irgendwie amorphe und kaum nagetiergroße Früchtchen ist nicht zu beneiden: Hier rollt ein Witz „über die Schienen einer Handlung geradewegs auf ein Gelächter“ zu, dort wird „das Kerzenlicht der Einsicht von der Druckwelle einer Ohnmacht ausgeblasen“. Immer wieder zerreißen Kollerlaute die Luft, bei deren Niederschrift sich der Halssack des Dichters gewaltig gebläht haben dürfte: Von „Püßt üüf, sünst üst üünür vün üüch büld tüt!“ bis „Dubu blöbödeber Blubuteberl“ reicht die Palette der Klangfarben, über die der Träger des Leipziger Buchpreises gebietet.
Auch wenn die Kapitel bescheiden mit „Regen-“ und „Sonnentag“ überschrieben sind, auf der Klaviatur der Gefühle zieht Klein von Dur („’Dü! Dü! Dü!’, jodelt der Kikki-Mann“) bis Moll („Ernstlich besorgt will sich der Fehlharmoniker noch einmal über Wischmann-Waschmann beugen“) alle Register.
Keine Frage, hier stülpt uns jemand eine „Wundertüte der Erzählkunst“ (Judith von Sternburg) über den Kopf. Verbitterte Fersen und Schienbeinknochen, Stopf- und Hühnereier hat er wie ein scharmanter Schlachter mit hineingepackt, wobei die Eier, zusammen mit entstielten Äpfeln, für den Schließmuskel eines Verseuchten bestimmt sind. Genauer: für „das Rosettenmäulchen“ seines Bandwurms, das in den Fieberträumen des „Älteren Bruders“ – Schuld daran trägt ein Arztwitz, der die Seiten 103 bis 109 füllt – sein Unwesen treibt.
Der große Bruder ist, wie sein Erfinder, ein Faselhans: „Wer wäre nicht gleich seinen verflossenen Zehen, seinen einstigen Fersen, seinen Waden und Schienbeinknochen auf ewig verbittert, wenn er von einem bösen Moment auf den anderen nicht mehr mit dem lebenslustigen Rest, mit Bauch, Brust, Nase und Haar durch Sonne, Luft und Wind über die Planken der Tage stapfen dürfte“, sinniert er über die Perspektiven, die sich amputierten Seeräubern bieten, in denen Klein die lyrischen Ahnherren unserer guten alten Kriegsheimkehrer sieht.
Durch den Roman tappt, umgaukelt von „Piepmatz-Hirnchen“ und „Schleimgesichtchen“, eine Armee von Versehrten. Darunter ein ausgewachsener Bär, der sich am Ende als Gummibär entpuppt. Das hat dem Verfasser Vergleiche mit Enyd Blyton, Thomas Mann und Günter Grass eingebracht. Während Grass-Lesen, wie die „Süddeutsche Zeitung“ 2006 ermittelte, „dem Lutschen von Brühwürfeln“ gleicht, geht Klein-Lesen in Richtung Klostein.
Die Sonne „suppt“ durch Vorhänge, das Gaswerk bläht sich „selbstgewiss wie eine große Kröte“, und um die „erbsengrünen“ und „knochenbleichen“ Neubauten sammeln sich – wie die Fliegen um die Haufen – die verstümmelten Männer: der blinde Quetschkommoden-Mann, der taubstumme Kikki-Mann, der Mann ohne Gesicht und der hirntote Panzerführer. Am Ende kommen noch der kleine und der große Imker hinzu – reichlich spät, denn die Seelen-Wabe ist schon vorne, im zweiten Satz, ausgelaufen.
„So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört, hat das Ganze wieder auf dem Fundament des Anfangs Fuß gefasst.“ Klein liebt es, über die Geheimnisse seiner Kunst in blitzenden Bonmots Auskunft zu geben. Wer wissen will, wie der Dichter es schafft, sich „den Zungenschlägen meines Sommers anzuverwandeln“, wird im fünften „Sonnentag“ fündig. Dort teilt das „schlimme Früchtchen“ alles Nötige über die Kunst des elastischen, vorgeburtlichen Lauschens mit, während im Hintergrund – ich freu mich schon auf die Verfilmung – ein Neger in einem „Buddelkasten“ liegt und singt.
Unablässig in sich selbst und seinen amputierten Männern, seinen Bären und Panzerfahrern herumwurmisierend, nähert sich der Autor nach 445 Seiten dem Höhepunkt. Der war für empfindsame Naturen schon immer ein kleiner Tod. Im letzten Satz zupft er sich „höchstselbst die Stummelglieder lang“ und badet, bevor ihn ein „Blutkerl“ mit einer Gummikugel beschießt, „mit langem, nachtblondem Haar und milchig nackt in einem schwarzen See“.
Darauf einen Dujardin. Wobei das Schlusstableau, aus dem wildromantisch „der süße Rauch“ der Lakritzpfeifen aufsteigt, wohl nur zufällig an die „Todesfuge“ erinnert. Oder an deren kürzlich entdeckte Lightversion, die mit „Schwarze H-Milch der Frühe“ anfängt und die der Nürnberger Forscher Klaus Hammerlindl im Nachlass einer irren Amateurdichterin gefunden haben soll.
Fortsetzung Teil 2 folgt.
Autor: Wenzel Storch
Erschienen in „konkret“ 5/2011
Bildquelle: Bilder soweit nicht anders angegeben: Archiv Storch
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