Was ist ein Super-Gau gegen einen verhafteten IWF-Chef? Was eine fortgesetzte Atomkatastrophe gegen die Nachricht, dass die FDP ab sofort „Inhalte liefern“ will? Fukushima: Erinnert sich eigentlich noch jemand daran? Die Älteren vielleicht? Spendengala, Benefizkonzerte oder –fußballspiele zu Gunsten der Erdbebenopfer erwecken den Eindruck, auch die atomare Katastrophe sei etwas, das sich mit sanfter Massage und ein wenig Hilfsbereitschaft im Abendprogramm in der Griff kriegen lasse.
Mediale Aufmerksamkeit ist ein Reiz-Reaktions-Mechanismus. Allerdings reagiert dieses öffentliche Nervensystem, das kollektive Erregungszustände auslöst und befeuert, vorwiegend auf aktuelle Reize. Schmerzempfindlichkeit lässt durch Gewöhnung nach. Nur so ist es zu erklären, dass die neueste Meldung aus Japan auf den hinteren Seiten der Zeitungen landete. Demnach hat die Kernschmelze, die es doch angeblich wochenlang zu verhindern galt, bereits zwei Stunden nach dem Erdbeben vom 11. März begonnen, also bevor der Tsunami das Kühlsystem lahm legte und früher als die Welt sich vor dem bevorstehenden Allerschlimmsten zu fürchten beginnen konnte.
Moralisch betrachtet ist das eine weitere Schande für den Betreiber Tepco und Anschauungsmaterial für die Debatte darüber, ob tödliche Ahnungslosigkeit schlimmer ist als Lüge. Technisch gesehen ist es ein weiteres Desaster: Die Atomkraftwerke, die angeblich doch nur dem Unwahrscheinlichsten, dem Tsunami, nicht gewachsen waren, sind schon beim gar nicht so undenkbaren Erdbeben eingebrochen. Alle Restrisikospätentdecker sollten auch darüber nachdenken. Medial betrachtet lehrt diese Meldung jedoch, dass die produzierten Ängste ins Leere gingen und dass wir es dabei mehr mit Fiktionen als mit Fakten zu tun hatten. Doch inzwischen befinden wir uns im Abklingbecken der Erregbarkeit.
Für die Katastrophen-Ökonomie ergibt sich daraus eine beunruhigende Frage: Muss eine Katastrophe überhaupt ernst genommen werden, wenn sie längst eingetreten ist, und keiner hat es bemerkt? Wird womöglich auch die Kernschmelze in ihrem Katastrophen-Potential überschätzt? Der erste Fukushima-Tote – auch das eine Meldung aus den letzten Tagen – ist ein Arbeiter, der, wie betont wurde, aus „Erschöpfung“ auf dem Kraftwerksgelände zusammengebrochen sei. Mit Radioaktivität habe das nichts zu tun.
Spätestens an dieser Stelle sollte man dann aber doch moralisch werden. Es ist kriminell, Menschen für dumm zu verkaufen. Es ist aber nicht besser, sich für dumm verkaufen zu lassen. Allerdings muss man sich darüber nicht wundern, wenn die mediale Halbwertszeit einer Atomkatastrophe nicht mehr als ein paar Wochen beträgt.
Vermutlich müssen wir uns die Apokalypse ganz ähnlich vorstellen. Sie wird nicht mit Posaunenfanfaren angekündigt, sondern als kleine Meldung in der Rubrik „Übrigens, neulich passiert“ nachgereicht. Wir werden den Weltuntergang dann achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Wir wissen, dass wir auch das überleben.
Text: Jörg Magenau
veröffentlicht: rbb Kulturradio
Bild: Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi, Zustand der Reaktorblöcke am 16. März 2011 nach mehreren Explosionen und Bränden
Quelle: Earthquake and Tsunami damage-Dai Ichi Power Plant, Japan
Urheber: Digital Globe (See original image for OTRS ticket; unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert)
- Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder - 6. September 2016
- Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod - 25. Dezember 2014
- Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915-1918 - 9. November 2014
Schreibe einen Kommentar