Zwei sehr verschiedene chinesische Filme aus einer schrecklichen Zeit des Übergangs
Das Kino kann zaubern oder die Wahrheit sagen. Wenn es schlecht ist, wagt es weder das eine noch das andere. Wenn es gut ist, zaubert es die Wahrheit herbei. Die Wahrheit kann sehr schön und einfach, aber auch unerträglich und verwirrend sein, sie kann sich als leidenschaftlicher Angriff auf die Ordnung der Dinge zeigen oder als weise Einsicht in ihre Macht.
„Meister des Schwertes“ von King Hu und Tsui Hark ist ein Zauberfilm, der uns allen festen Boden unter den Füßen verlieren lässt und lächelnd eine einfache Wahrheit verkündet: dass der Zauber vergeht in seinem schönsten Moment. Es geht um mit Schwertern ausgetragene Todesballette, um intrigante Eunuchen an Höfen, die seit Generationen in aller Pracht zusammenbrechen; um die abenteuerliche Suche nach einer Schriftrolle, die den Kampf zwischen Gut und Böse entscheiden wird; um einen Helden, der ganz und gar naiv ist und somit dagegen gefeit, vom Bösen ringsumher angesteckt zu werden; und um eine Frau, die wie ein Mann kämpft, um das Reich zu retten, nicht das des Kaisers, das lohnt sich nicht, sondern das Reich des Abenteuers,“ das sich in der Ming-Epoche ein magisches Zeitalter geschaffen hat.
Es geht aber auch und vor allem um das Erzählen selbst, um das Kino. Denn „Meister des Schwertes“ handelt auch von einer letzten ironischen Rückbindung der Kino-Effekte an Tradition, Geschichte und Mythos – und gibt zugleich den Gestus des wahren Meisters wieder, der alle seine Tricks verraten kann, weil er weiß, daß alle, die doch wieder darauf hereinfallen, einen kleinen Schritt in Richtung der Erkenntnis tun.
In „Meister des Schwertes“ treffen zwei Generationen, zwei Tendenzen des südostasiatischen Films aufeinander, wie man sie sich unterschiedlicher kaum vorstellen kann. Da ist der strenge Stilist King Hu, Aristokratensohn aus Peking, der für seine langen Filme oft Vorlagen traditioneller chinesischer Literatur verwendet. Seine Kampfszenen Choreographien er als präzise Tänze, die Handlung (fast immer an einem abgeschiedenen, geheimnisvollen Ort) entwickelt er in klassischer Einheit von Zeit und Raum. Im Schwertkämpfer, dem stolzbesessenen Vertreter einer spirituellen Aristokratie, und im buddhistischen Mönch hat er seine Idealgestalten gefunden. Und da ist der kinomane Eklektiker Tsui Hark aus Vietnam, der in seinen Filmen alle auf dem Markt der Medien verfügbaren Bilder und Inhalte verwendet. Er stiehlt hemmungslos und hochgradig originell, verwandelt sich beständig, um einen Weg zu verfolgen, und präsentiert in seinen wüsten Genre-Mischungen die Kino-Geschichte im Schnelldurchlauf.
King Hu hat zur Legende ein Verhältnis wie Jean-Pierre Melville zur Welt seiner Gangster: Er inszeniert buddhistische Filme, ohne Buddhist zu sein; er erfindet eine Rasse ganz und gar synthetischer Gestalten von. klarer und einfacher Moralität, die in scharfem Kontrast zum Chaos der Welt ringsum stehen. Das Wesen ihres Kampfes ist die Bewahrung von Würde und Distanz: Mit dem Schwert halten sie sich den Schmutz der Welt vom Leib. Und Tsui Hark, der alles miteinander vermischen kann, der seine Figuren immer wieder in Situationen treibt, in denen alle Würde und Distanz verloren gehen, versteht es wie kaum jemand sonst, die aberwitzigsten komischen Effekte als Maskerade einer tiefen Melancholie zu benutzen. Überleben ist das Wesen seiner Figuren, weil sie in seinen Filmen, ganz direkt, aber auch metaphorisch, stets in Gefahr sind, gefressen zu werden. Wenn ich jemandem, der durch das Fernsehen den Blick verloren hat, erklären müsste, was das Kino ist, so würde ich „A Touch of Zen“ von King Hu und „Peking Opera Blues“ von Tsui Hark vorführen.
„Meister des Schwertes“ ist die Abbildung eines ironisch gebrochenen Meister/Schüler-Verhältnisses, und gerade diese Brechung macht, dass der Film, der an der Oberfläche nichts anderes ist als eine phantastisch-komödiantische Abenteuergeschichte mit unbändiger Freude an den eigenen Attraktionen und feinem Gespür für die Vergeblichkeit der großen Geste, wie eine Lehrstunde funktioniert. Der Schüler fragt und zweifelt, der Lehrer zeigt und erklärt, der Schüler entwickelt weiter, zerstört auch hier und dort; der Meister lässt es in weiser Selbstbescheidung geschehen. Beide wissen, dass die Zeit längst über ihre Gespräche hinweggegangen ist. Jede Einstellung, jede Dekoration, jede Bewegungsstudie in diesem Film hat diesen Gestus des Zeigens, Erklärens und Diskutierens. Es ist ein Dialog über das Filmemachen mit einem Hauch von Zen.
Dabei findet dieser Dialog zwischen der Eleganz des Meisters und dem Welthunger des Schülers in einer Endzeit statt. Eine gewaltige Kino- Maschine, die der Stadt Hongkong, wird noch einmal auf höchsten Touren gefahren. Dass sie dabei kaputtgehen muss, ist einkalkuliert, denn ihre Tage sind ohnehin gezählt. Ein falscher Reichtum, angeheizt durch explodierende Produktionskosten und Verwertungshysterie, zeigt sich in den letzten Produkten dieser Maschine, die nur noch eine Gegenwart, keine Zukunft mehr zu kennen scheint. So ist „Meister des Schwertes“ nicht nur der perfekteste, sondern in seinen mannigfachen Brechungen auch der letzte Schwertkämpferfilm. Was könnte auf einer Leinwand noch über fast fliegende Kämpfer, über magisch bewegte Gegenstände, über das Gute und Böse, über die Ruhe im Zentrum des Höllenlärms, über lange Reisen mit der Liebe und dem Tod, über Geste, Tanz und Maske als Mittel, das Chaos für einen Augenblick zu bezwingen, gesagt werden, was nicht schon in „Meister des Schwertes“ gesagt ist?
„Meister des Schwertes“ zaubert noch einmal, im Triumph eines synthetischen Buddhismus über die Erdenschwere, die Ahnung einer neuen bleitoten Zeit für China hinweg; Zhang Yimous Film „Judou“ hingegen hat gerade sie zum Thema und muss daher in Feuer und Verzweiflung versinken. Und so wie der Kino-Markt ein weiterer Autor ist bei King Hu, so ist die Zensur ein Koautor bei Zhang Yimou.
Wirklich geholfen hat das Arrangement keinem der beiden Meister: King Hu kämpft in Hollywood vergeblich um die Realisierung seines neuen Projektes, einer Geschichte der chinesischen Eisenbahnarbeiter in den frühen Tagen der USA; Yimous „Judou“ bleibt in der Volksrepublik China ebenso unter Verschluss wie sein Erstling „Das rote Kornfeld“, und er ist nun gezwungen, im Ausland zu arbeiten. So müssen die Filme auch zu Metaphern ihrer Entstehung und Elegien auf den Untergang des Kinos werden, auf das Scheitern der Filme sowohl in der Heimat, die sie nicht erträgt, als auch im Exil des internationalen Marktes, der keine Identität mehr zulässt – nur den zweifelhaften Erfolg im kulturellen Niemandsland der Festivals.
Gong Li als Judou
Zu sagen, die Zensur sei Mitautor bei „Judou“, sie sei‘ verantwortlich für mancherlei Verschlüsselungen und Symbolismen, ist freilich eine Verkürzung. Zhang Yimou ist durch sie gezwungen, auf eine tiefere Ebene der chinesischen Geschichte und Mythologie zu gehen* aber gerade das macht die Wahrhaftigkeit seines Films aus.
Der Regisseur lebt und arbeitet in einem kulturhistorischen Paradox: Die Revolution, das Neue China waren nicht zuletzt gegen den Konfuzianismus, das Weltprinzip der Unterwerfung, und seine Lehre von der Unabänderlichkeit der Ordnungen und Hierarchien gerichtet. Zugleich aber entwickelte sich diese Revolution immer spürbarer auf einer konfuzianischen Struktur von Disziplin und Pflicht. Nach dem Scheitern der Kulturrevolution und spätestens nach Maos Tod war aus der Volksrepublik ein im Wesen konfuzianischer Staat geworden, dessen Mythologie sich mehr von der Furcht vor dem inneren Chaos als vor dem äußeren Feind ableitete. Nur so ist zu verstehen, warum ein Film, der die Verzweiflung an einem konfuzianischen Ordnungssystem wiedergibt, von den Machthabern gefürchtet wird.
Eine gebirgige Gegend im China der zwanziger Jahre. Ein Mann kommt mit einem Pferd zurück in ein Dorf, das von einer großen Färberei beherrscht wird. Deren despotischer Besitzer hat den Heimkehrer als „Neffen“ adoptiert: So kann er ihn noch mehr ausbeuten und zugleich durch das Gesetz der Familie disziplinieren. Aber die Ordnung, die in der Färberei herrscht, ist gefährlich und falsch geworden. Der Alte hat, so sagt man, schon zwei Frauen in den Tod getrieben, weil sie ihm keinen Sohn gebären konnten; nun hat er sich eine dritte Frau gekauft, Judou, und auch ihr bereitet er ein schreckliches Martyrium.
Der Neffe ist fasziniert von Judou: Heimlich beobachtet er sie. Sie offenbart ihm ihr Leiden und verführt ihn, als der Onkel fort ist. Sie wird schwanger; ihr Sohn wächst als Kind des Onkels auf. Judou, der Neffe und ihr Kind müssen sich heimlich treffen, bis eines Tages der Alte einen Unfall hat. Er ist gelähmt, kann sich nur in einer Holztonne fortbewegen und wird nachts im Gebälk aufgehängt wie ein groteskes Tier. Judou und der Neffe verbergen nun nicht mehr ihr Verhältnis vor ihm. Nachdem der Alte versucht hat, das Kind umzubringen, bestrafen sie ihn, indem sie ihm ihr Glück vorführen.
Doch auch dieses Glück ist falsch. Der Neffe wagt es nicht wirklich, den Onkel zu besiegen und mit Judou ein neues, freies Leben zu beginnen. So wie vorher vor dem Alten verbergen sie ihre Liebe nun vor dem eigenen Sohn, der nicht lächelt, nicht spricht. Der Onkel hat die Ahnen angerufen, die Demütigungen zu sühnen, die ihm widerfahren. Bald darauf spricht der Knabe sein erstes Wort zu dem Alten: „Vater“.
Judou, die wieder schwanger geworden ist und eine schmerzhafte Abtreibung unternimmt, erträgt die Demütigungen nicht länger. Sie hat Gift besorgt und will entweder den Alten oder sich selbst töten. Aber es ist ihr Sohn, der den Onkel tötet, indem er ihn ins Färbebecken stößt. Da lacht er zum ersten Mal. Vor dem Sarg des Onkels müssen sich Judou und der Neffe in den Staub werfen, der Sohn als sein Erbe wird über sie hinweggetragen. Der Familienrat beschließt, dass Judou und der Neffe nicht länger unter einem Dach leben dürfen. Die Jahre vergehen, der Sohn wird zum neuen Despoten in der Färberei; und als man im Dorf von den heimlichen Zusammenkünften der beiden tratscht, schlägt er den Neffen, seinen Vater. In höchstem Zorn schreit Judou ihrem Sohn die Wahrheit ins Gesicht. Judou und der Neffe treffen sich noch einmal im Keller der Färberei. Die Dämpfe machen sie müde, sie möchten zusammen sterben. Aber der Sohn holt sie heraus. Er ertränkt den Vater, und in ohnmächtigem Zorn steckt Judou die Färberei in Brand.
Die Färberei als magischer Ort für diese Liebesund Familiengeschichte, die an der Ordnung zerbricht und an der Unfähigkeit, sie zu überschreiten, eröffnet ein ungeheures Feld von Beziehungen. Sie ist in ihrer klaren architektonischen Gliederung in Keller, Wirtschaftsraum und Obergeschoss als Abbild der vertikalen Hierarchie und Ahnenhalle, Färberei und Schlafräume in der Horizontalen ein vollständiges Gesellschaftsmodell. In ihrer hypertrophen Mechanik bildet sie das Muster einer fehlgeleiteten, unmenschlichen Industrialisierung und zugleich eine Maschine zur Fälschung der Farben und Zustände: Gelbes Tuch, als Bild von Reichtum und Geld, wird am Anfang produziert, rotes und blaues später, als es um die Liebe und die Welt geht. Zhang Yimou entwickelt daraus eine eindringliche Farbensymbolik, die vor allem auf dem Gegensatz von Blau (außen, Nacht, Natur) und Gelb (innen, Zivilisation, Ordnung) basiert. Am Ende verzehren sich die beiden Farben gegenseitig, nur das Weiß bleibt, die Farbe von Trauer und Reinheit, wie sie auf der Beerdigung des Onkels zu sehen ist.
„Judou“ eröffnet ein gleichsam unendliches Feld von Deutung und Suggestion. Das hängt auch mit der vollständigen Autonomie der Filmfiguren zusammen, die sich einander nicht erklären, die nie einen anderen Halt finden als den im endlosen System der Ordnung, die von den Ahnen bis in die entfernte Zukunft reicht. Dabei ist es vergleichsweise unerheblich, ob dies ein Film über den Schrecken des Konfuzianismus ist oder selbst ein konfuzianischer Film. Er wäre dann so konfuzianisch, wie Robert Bressons Filme katholisch sind; wo Bresson dagegen protestiert, dass Gott seine Schöpfung allein gelassen hat, protestiert Zhang Yimou gegen eine überhistorische Ordnung, die ebenso unumstößlich wie unmenschlich ist. „Judou“ zeigt eine schreckliche Zeit des Übergangs, in der das Alte ohne Grund und ohne Wirklichkeit weiterexistiert und das Neue noch keine Gestalt hat. Es ist die Stunde der Schwertkämpfer und der Liebenden, der tragischen Rebellen des Kinos gegen die Ordnung der Welt.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 03.10.1991 Nr. 41
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