Foto: Dirk Vorderstraße

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Die doppelten Körper der Politiker

Der ideale Politiker der repräsentativen Demokratie tritt aus der Bevölkerung über die Wählerschaft, die Partei und die Führung schließlich ins Zentrum der Macht (und mag, wenn es denn demokratisch genug zugeht, entsprechend auch wieder zurücktreten). Was dem als Bild entspricht, ist bekannt: der »graue Herr« (und vielleicht die nicht ganz so graue Dame), Kompetenz, Fleiß, ein wenig Borniertheit, ein wenig Versteinerung ausstrahlend. Der Bürokrat, der Techniker der Macht, im günstigsten Fall auch ein Diplomat. Wenn man ihn oder sie lieben kann, dann deswegen, weil er oder sie nicht vergessen haben, wo sie herkommen (»Stallgeruch« ist so eine Floskel). Diese Art Politiker gibt es in den Extremformen »verlässlicher Parteisoldat«, »hemmungsloser Machtmensch« oder »opportunistischer Karrierist«, es gibt ihn als ehrbaren elder statesman und als schlichten Kriminellen in bürgerlicher Maske. Doch dem einen wie dem anderen haftet etwas an, was am Ende in einer ikonisch verblödeten Mediengesellschaft tödlich ist. Er oder sie ist langweilig.

Der ideale Politiker der Postdemokratie tritt als Image aus einer externen Vernetzung auf die Bühne und weiß eben dies genau: dass es sich um eine Bühne handelt. Darauf spielt man Rollen, und am erfolgreichsten ist, wer mehrere Rollen beherrscht, Verführer, Clown, Tragöde, Messias, Volkscharakter, Erfolgsmensch usw. Und am erfolgreichsten ist natürlich die Rampensau, die ihre Rampensauerei in geschäftiger Bewegung verbergen kann.

Der Politiker der Postdemokratie repräsentiert weder ein soziales Milieu noch eine Partei, weder eine klare ideologische Position noch einen ethnischen Typus, er repräsentiert stattdessen die Durchlässigkeit und Zeichenhaftigkeit all dieser Kategorien, er repräsentiert, scheinbar tautologisch, vor allem seinen eigenen Erfolg.

Während also der graue Herr (und die vielleicht nicht ganz so graue Dame, aber das ist eine andere Geschichte) gleichsam das Verschwinden des Körpers symbolisiert (was in einer asketischen wie in einer sinnlichen Weise geschehen kann, in der deutschen Politik scheint das Ur-Körper-Paar Adenauer/Erhard immer wieder aufzuscheinen: der Körper, der in der Breite und jener, der in der Tiefe verschwindet), vor allem das Verschwinden seiner Sexualität, verdoppelt sich der Körper des postdemokratischen Politikers (wir haben dafür noch kein überregionales weibliches Bild, vermuten aber, dass daran gearbeitet wird in ersten Entwürfen wie dem von Frau Ministerin von der Leyen). Das geschieht, wie Giuliana Parotto in ihrem Buch über Silvio Berlusconi zeigt, gleichsam in einer aktuellen, medialisierten Wiederkehr einer archaischen, »heiligen« Verdopplung des Körpers in der Gestalt des mittelalterlichen Fürsten und Königs. Dieser Herrscher hat, nach dem Glauben seiner Zeit, einen normalen Körper wie jeder Mensch, der sterblich (und sündig) ist, zur gleichen Zeit aber auch einen »corpus mysticum«, der die »ewige« Einheit von Herrschaft, Volk und Religion ausdrückt. Dieser mystische Körper gilt als heilig, omnipotent und stärker als jeder Text (wir könnten sagen: stärker als jedes Recht und jede Verfassung). Er strahlt in meta-sexuellem Licht und jedes Detail an ihm emaniert Bedeutung und Sinn.

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Und am erfolgreichsten ist natürlich die Rampensau,

die ihre Rampensauerei in geschäftiger Bewegung verbergen kann.

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Der postdemokratische Politiker also repräsentiert nicht (keine Idee, keine Klasse, keine Interessen als die seinigen), sondern er verkörpert vieles. Der verschwundene Körper kehrt in ihm doppelt zurück, nämlich einmal als Körper eines gewöhnlichen Menschen, der sündigt, genießt und hin und wieder auch leidet (und dessentwegen wir Empathie und Verständnis gegenüber dem postmodernen Politiker aufbringen, sogar wenn er minderjährige Prostituierte benutzt oder Doktorarbeiten fälscht), und als mystischer, und das heißt nun: medialer Körper, der unantastbar, reine Semiotik, multiphrene Sinnmaschine ist. Der metasexuelle, omnipotente Glanz dieses Körper-Doubles des postmodernen Politikers entsteht, es kann nicht anders sein, aus eben jenen Partikeln an Bildern, Erzählungen und Begriffen, die die Medienkultur eines Landes zur Verfügung stellen. In dieser wiederum, ganz wie im richtigen Leben, treten die grauen Herren (und die nicht ganz so grauen Damen, von denen wir ein andermal sprechen wollen) längst zurück. Nicht nur Silvio Berlusconi wird durch sein schrill-obszönes Fernsehen erzeugt, auch Angela Merkel – eine der vielen Übergänge vom verschwundenen zum verdoppelten Körper des Politikers – ist Ausdruck und Ergebnis ihres/unseres Fernsehens: des Lindenstraßen-/Wetten, dass?-/Tatort-Fernsehens.

Der verdoppelte Körper des postmodernen Politikers ist sexuell, und er ist es auf die Weise, die seine Medien vorgeben, er ist heilig, ebenfalls auf die von den Medien vorgegebenen Ritual- und Bilderweisen, und er ist schließlich mächtig im Sinne der Attribute, die man damit verbinden mag: Kraft, Jugend, Sportlichkeit etc. Der Verdacht liegt nahe: Bei diesem postmodernen Politiker mit dem verdoppelten Körper kommt es gar nicht mehr darauf an, was er sagt oder was er repräsentiert.

Das Musterbeispiel eines solchen postmodernen Politikers mit einem verdoppelten Körper gab Karl-Theodor zu Guttenberg ab, von dem niemand glaubt, dass sein Rücktritt schon ein Abgang, geschweige denn ein Verschwinden sei. Was er an Politik im alten Sinne, im Sinne der grauen Herren, machte, war schlicht Murks, und zwar verantwortungsloser Murks, und, was die Behandlung von Freund und Feind anbelangt, indiskutabel charakterlos. Aber genau das ist es, was ihn in der neuen, der postdemokratischen Politik so erfolgreich machte. Er verkörperte etwas, und diese Verkörperung war und ist hochgradig sexuell aufgeladen, auf gut Deutsch eben auch mit sexueller Hysterie durchsetzt.

Der Aufstieg dieses postdemokratischen Politikers mit dem verdoppelten Körper kam indes zu früh und zu schnell für das System (wem sollen wir erzählen, wem alles der Skandal um eine Doktorarbeit gerade recht kam?), und er musste vorläufig scheitern, weniger an den Hardcore-Vertretern der alten Garde der grauen Herren als vielmehr an jenen, die entweder selbst Transformationsmedien zwischen repräsentativem und verkörperndem Politiker darstellten, oder, wie Horst Seehofer, aus anderen, ursprünglicheren Quellen des Populismus zu schöpfen trachteten: Der »volkstümliche Politiker«, der eine lange Geschichte hat, verbindet repräsentative und verkörpernde Aspekte der Inszenierung, ist aber immer nur so erfolgreich, wie er eine Außenwelt für sein »Wir gegen die anderen« findet. Gegen einen »echt« postdemokratischen Medialpolitiker hat ein »volkstümlicher Politiker« keine Chance mehr (abgesehen davon, dass man die Rolle eines volkstümlichen Politikers natürlich auch verkörpern und nicht bloß »darstellen« muss).

Guido Westerwelle, entstanden aus einer sonderbaren Allianz von grauen Herrn und windigen »Spaßpolitikern«, ist ein Vorläufer und Konkurrent Guttenbergs, ein Politiker, der bei der Verdopplung seines Körpers sozusagen auf kein Medienecho stieß bzw. zu wenig Medienpartikel bei einem solchen Umbau benutzte. Die Folge davon war, dass sich bei ihm die komischen Züge (die es ja auch bei Berlusconi und Guttenberg zuhauf gibt) verselbständigten. Die Medien seiner Spaltung, das Bekenntnis zur Homosexualität, das »gut Gekleidete«, ja »Maßgeschneiderte« seines Auftretens im Ringen um die »bella figura« und ein charakteristisches Mimik- und Gestik-Repertoire, das war ein Image-Angebot, das vor der Wahl durchaus angenommen wurde: Westerwelle war eine Verkörperung von Liberalität. Sein privater, einigermaßen un-skandalöser Körper war weitgehend gesichert durch einen corpus mysticum, der alle drei Aspekte des Neoliberalismus perfekt zu vereinen schien: den ökonomischen, den machtpolitischen und den sexuellen. Dieser öffentliche Körper freilich konstruierte Männlichkeit aus einem Trotz, während umgekehrt die semiotische Polyphonie der medialen Körper von Guttenberg oder Berlusconi durch eine Spur der Effeminierung wirken; Weibliches und Männliches in ein Sowohl-als-auch gesetzt. (Übrigens war es auch für den heiligen Körper des Königs im christlichen Mittelalter von großer Bedeutung, auch weibliche bzw. mütterliche Züge aufzuweisen.) So blieb bei Westerwelle die sexuelle Ambiguität, die zum medialen Körper gehört, eine bloße Behauptung. Seine guten Anzüge wirken deshalb nicht als zweite Haut, sondern als ein viel zu angestrengtes Verbergen (des doppelten / verdoppelten Körpers).

Der größte Fehler dieses prä-postdemokratischen Verkörperers des Neoliberalismus aber war es, ausgerechnet Außenminister werden zu wollen. Nicht nur, dass gerade auf diesem Feld die Verwandlung des Grauen-Herren-Politikers in den ambiguen medialen Doppelkörper eine besonders heikle Angelegenheit ist – schließlich geht es nun wieder darum, ein Land in der Welt zu »repräsentieren« –, vielmehr kamen die Codes nun gespiegelt und abstrahiert zurück. Auf diesem Parkett machte Guido Westerwelle eben nicht: bella figura. Das mochte zum einen an seinen begrenzten Fähigkeiten liegen, es liegt aber auch in der Struktur der Sache. Wenn sich Guttenberg mit seinen medialisierten Reisen schnell als »eigentlicher« Außenminister inszenieren konnte, dann nur, weil er die dazugehörige Bilderproduktion wieder auf seine Klientel konzentrierte. So wie der verdoppelte Körper des Fürsten nichts ohne sein Land war, so ist der verdoppelte Körper des postdemokratischen Politikers nichts ohne seine Semiotik. Berlusconi ist außerhalb von Italien fast nur noch der »Burlesquoni«, und Guttenberg außerhalb deutscher Bilderproduktion nur ein Typ mit unangenehmer Brillantine im Haar, der sich schwer tut, so etwas wie einen vernünftigen Gedanken zu formulieren. Westerwelle, der unvollkommen verdoppelte Politikerkörper, kommt also nun gleichsam von außen zurück und wird sogar jenen, die sich einst in ihm verkörpert sahen, einigermaßen fremd.

Und was macht man mit Subjekten, deren Verkörperung fehlgeschlagen ist? Man macht sich über sie lustig. Plötzlich erinnert man sich im Angesicht von Guido Westerwelle wieder, dass Politik auch diskursive Elemente enthält. Dass es vielleicht doch darauf ankommt, was einer sagt. Und dann beginnt man über Westerwelle zu spotten und zu lachen. Ohne zu merken, wie sehr man dabei über sich selbst spottet und lacht.

Text: Georg Seesslen

Text erschienen in Jungle World Nr. 16, 21. 4. 2011

Bild: FDP-Chef Guido Westerwelle während einer Wahlkampfveranstaltung in Hamm, 07. 09. 2009

Urheber: Dirk Vorderstraße (unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung 3.0 Unported lizenziert)