Die Pornographie der Gewalt
Das Scheitern des soziologischen Kinos
Gegen diesen Film ist nichts, wirklich nichts, vorzubringen. Eine makellose Regie, die die beharrende Intensität des Theater mit der räumlichen Extensität der Kinos verbindet. Außerordentliche Schauspieler, Susanne Lothar, Ulrich Mühe, mit außerordentlichen Leistungen. Nichts, wirklich nichts, spricht gegen diesen Film. Außer: Er funktioniert nicht.
Anna und Georg und ihr Kind und ihr Hund fahren in das Landhaus, kultivierte Noblesse, leise gelangweilt. Händel im Auto, das Boot im Schlepp, Sommergäste. Georg bringt das Boot zu Wasser, Anna putzt Gemüse. Ein etwas weichlicher junger Mann klopft höflich ans Haus, kurze schwarze Hose, weiße Handschuhe, ob er ein paar Eier haben könnte. Der Tolpatsch zerbricht sie, das Handy fällt ins Wasser. Am nächsten Morgen wird Anna ins Wasser fallen. Der andere junge Mann wird beiläufig „Ciao, Bella“ sagen und dann werden sie alle tot sein: Vater, Mutter, Kind und Hund. Und davor werden sie andere lustige Sätze gesagt haben. Georg zum Beispiel: „Zieh dich aus, mein Schatz“, da haben sie einen Kissenbezug über den Kopf seines Kindes gezogen. Anna zum Beispiel: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm“, da haben sie ein Messer in ihren Mann gesteckt. Und davor haben sie allerlei Spiele gespielt. Das Wo-ist-der-tote-Hund-Spiel – da hat Georg schon ein gebrochenes Bein -, das Kätzchen-im-Sack-Spiel – da zieht Anna sich gerade aus -, das Die-liebe-Gattin-Spiel, da darf Anna sich wünschen, wer zuerst stirbt.
Michael Haneke, der Österreicher mit der wütenden Küß-die-Hand-Brutalität, die nirgendwo so wie dort als kulturelle Rebellion gedeiht, ist mit diesem Film in der Situation des Physikers, der noch nicht ganz davon überzeugt ist, daß das perpetuum mobile unerfindbar ist. Denn so wie dieser die Grundlagen der Natur zu suspendieren hätte, so jener die der Kunst. Das Bewußtsein, es sei die schrecklichste Fiktion doch immer noch: eine Fiktion. Aber Michael Haneke hat diese Trennung bis auf ihr unaufhebbares Wesen reduziert: Er hat uns gezeigt, wie weit unsere Genuß- und Leidensfähigkeit schon entwickelt ist. Und wie merkwürdig schwimmend eins ins andere gleitet.
Michael Haneke will seinen Zuschauer mit der voyeuristischen Lust an der Gewalt konfrontieren, und er tut das mit kaum gesehener Brutalität, einer ungekannten psychologischen Aggression. Die Bilder – und die exzellente Tonspur -, sind die Pornographie der Gewalt: Entkleidet jeglichen Motivs. Peter und Paul, die Sadisten, kommen aus dem Nichts. Ihre Namen mögen nicht zufällig gewählt sein: Ohne Petrus und Paulus gäbe es keine christliche Kirche. Und ohne Peter und Paul – und unsere Lust an ihnen -, gäbe es nicht diese mediale Gewalt. Es gibt keine Gründe mehr, die erklären: Haneke verweigert dem Horror seinen Vorwand, das macht ihn so kalt. Und wenn Peter und Paul uns auch zuzwinkern, wenn sie uns auch, die Handlung brechend, zu den Komplizen machen – „Auf wenn würden Sie setzen?“-, die wir sind, so hat die Gewalt hier doch nicht jene spielerische Konvention, die sie sonst erträglich macht: Sie selbst ist das Spiel. Das Quälen des Menschen unter Laborbedingungen.
Film als soziologisches Experiment: Haneke will den Zuschauer mit der Frage konfrontieren, warum er das Kino nicht verlassen hat. Ein Experiment, das so wenig funktionieren kann, wie die unmittelbare Ansprache an den Zuschauer die Ebene des Filmes nicht zu verlassen mag. Es kann nicht gleichzeitig etwas suggestive Kunst sein und der rationale Diskurs darüber, ein Kunstwerk trägt seine Meta-Ebene nicht in sich. Die in den Exzeß gesteigerten Bilder laufen ihrem pädagogischen Impuls davon. Wir verlassen den Film nicht, weil er gut gemacht ist. Auf eine quälende, mitunter in extreme Spannungszustände treibende Weise. Auf eine Weise, die wir als dumpfen Widerstand im Körper fühlen.
Und wir bleiben, weil großes Kino „bigger than life“ sein kann – aber niemals wirklicher. „Sie dürfen den Unterhaltungswert nicht vergessen“, sagt einer der Sadisten, und das ist die reine Wahrheit. So hat dieser Film womöglich bewirkt, was er nicht wollte: Die Grenze wiederum verschoben. Nach vorn.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben 1997
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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