Das Kino ist schon oft gestorben, am prächtigsten in Breitwand-Filmen. Die Retrospektive der Berliner Filmfestspiele ist dieses Jahr einem ausladenden Format gewidmet
Jedes Bild hat einen Rahmen, der es begrenzt. Sonst wäre es kein Bild, sondern ein Teil von etwas anderem, der Wirklichkeit zum Beispiel. Industrielle Bilder haben normierte Rahmen. Filme haben ein „Format“. Das Format eines Filmes sagt viel darüber aus, was in seinen Bildern geschehen kann und was nicht. Dass sich ein Format von 1:1,33 im Kinobild so durchgesetzt hat, dass man es als „Normalformat“ bezeichnet, ist eine jener Verabredungen zwischen Produktion und Publikum, in denen sich Ökonomie und Ästhetik industriell verbinden. Die Academy of Motion Picture Arts and Science in Hollywood hat das Format der academy ratio zum vorherrschenden, aber nie einzigen machen können. Bereits in Abel Gances Napoleon (1926) gibt es das „Fresko“-Leinwandbild der Polyvision, das mit drei Projektoren nebeneinander erzeugt wird.
Das Format gibt vor, wie man sieht. Es sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie viel es zu sehen gibt. So scheint in einem Breitwand-Film mehr Raum zu existieren. Im Breitwand-Verfahren auf 35mm-Film mit den Seitenverhältnissen 1:1,66 bis 1:1,85 bleibt das Verhältnis des aufgenommenen und des projizierten Bildes gleich. Dagegen macht das anamorphotische Cinemascope-Verfahren ein Seitenverhältnis von 1:2,35 möglich, das erst wieder durch eine „Dehnung“ des komprimierten Bildes entsteht. Weil es mit dem üblichen, standardisierten und relativ kostengünstigen 35mm-Material aufgenommen wird, ist es in Bezug auf seine Wirkung das ökonomischste Breitwand-Format.
Cinemascope für Arme
Für den Alltagsfluss der Kinobilder ist es aber immer noch zu aufwendig und bedarf überdies gewisser handwerklicher Fertigkeiten. So hat man in den siebziger Jahren ein „falsches“ Cinemascope eingeführt, das mit Hilfe von Masken das entsprechende Seitenverhältnis erhielt. Mit anderen Worten: Im normalen Cinemascope sieht man nicht mehr, im falschen Cinemascope dagegen sogar weniger als im „Normalformat“. Immerhin ist ein Film wie Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod in diesem „Cinemascope für Arme“, im Technoscope entstanden.
Die Format-Frage, wie gesagt, stellt sich als ökonomische und ästhetische. Howard Hawks hat die Breitwand nur bis zum Format der Vista Vision (1:1,85) akzeptiert. Mit dem Hinweis, dass es in der Kunstgeschichte wenig Maler gegeben habe, die extrem quere Formate verwendeten, und die Kollegen seien schließlich schon länger im Geschäft als die Filmemacher.
Nach und während der Cinemascope-Ära des Kinos entwickelte man etliche „sensationelle“ Breitwandformate, vor allem im Konkurrenzkampf mit dem Fernsehen. Sie hatten alle zwei entscheidende Nachteile: Man musste die gesamte Kino-Technologie erneuern und es gab wenig, was man in diesen Formaten erzählen konnte. Entweder das Format wurde sich selbst zum Thema (This is Cinerama), oder man musste gewaltigen Aufwand treiben – diese „Schinken“ gingen schon bei der Produktion ins Geld. Die Breitwand, mit der sich das Kino gegen das Fernsehen behaupten wollte, erwies sich als selbstzerstörerisch.
Umzingelung des Zuschauers
Die gekrümmte Leinwand von Cinerama schien Filmemachern wie Chris Marker als „Umzingelung“ des Zuschauers und tückischer „Angriff“. Der Ausweg, das neue Verfahren der 70mm-Panavision wirkte demgegenüber wieder „zivilisierter“. Weder die Triptychon-Teilung der Bilder noch die gekrümmte Leinwand waren hier zwingend notwendig; man kann wohl tatsächlich von einer „Entfaltung“ der Filmbilder sprechen. Denn bei der Verwendung des breiteren Filmmaterials wird tatsächlich erreicht, was vorher nur Illusion war: Ein Bild mit mehr „Inhalt“. Doch genau daraus entsteht ein neues Problem: Wieder gelangt das Erzählkino an seine Grenzen. Die Weite geht auf Kosten der Vielfalt.
Die Ultra-Panavision, die mit dem Bürgerkriegsdrama Das Land des Regenbaums 1957 vorgestellt wurde (der erste große Flop) und mit Ben Hur 1959 gewaltige Zuschauerzahlen erzielte, arbeitete nach dem Cinemascope-Prinzip, aber mit 70mm-Film, und verband damit die Dehnung des Formats mit einem tatsächlichen Mehr an Bildinformation: Das Bild wird nicht nur schärfer und aufgelöster, das Auge hat tatsächlich mehr zu tun.
Langsames Lesen
Nur lief dieser Breitwand-Gigantismus ins Leere. Zum einen rüsteten zu wenig Kinos auf das neue Format um; einige zeigten die Filme im Todd-AO- (1: 2,21), die meisten im Cinemascope-Format. In solcherart beschnittenen Projektionen war schwer zu erkennen, was so besonders an Filmen wie Khartoum sein sollte. Zum anderen wurde dieses Format gefüllt von einer Prächtigkeit, die weiter trieb, was man dem Kino vorwerfen konnte, nämlich den Verlust der zeitgenössischen Wirklichkeit. Mochte das Fernsehen schwarzweiß, billig und ein wenig schlampig beim Erzählen sein, es war zweifellos gegenwärtig; mochte das Kino sensationell, überwältigend und metavisuell sein, es verlor durch die Breitwand noch mehr die Fähigkeit, etwas über die Welt zu sagen, in der man lebte. Zudem hatte das Fernsehen raffinierterweise das Normalformat von 1: 1,33 übernommen. Soweit man bei den abgerundeten Guckkästen überhaupt von Format sprechen konnte.
Nach der alten, vereinfachten Formel des Kinos, dass man hier Zeit durch Raum ausdrückt und umgekehrt, müssten Breitwandfilme also gleichsam „langsamer“ sein. Wenn im Breitwand-Format eine Einstellung zu Ende ist, hat sie immer „Es war einmal“ gesagt. Zweifellos gibt es wahre Meister des Breitwandformats. Neben Kubrick (2001) etwa David Lean; Lewis Milestone schuf eine Panavision-Fassung der Meuterei auf der Bounty, mit Playtime bewies Jacques Tati, dass man mit dem Format fantasievoll, kritisch, poetisch umgehen konnte. Und Sergej Bondartschuk drehte mit Krieg und Frieden (1962-1967) den teuersten Film der Weltgeschichte, umgerechnet entspräche sein Budget wahnwitzigen 700 Millionen Dollar.
Solche Rechenspiele verbergen aber den eigentlichen ökonomischen Skandal, der etwa bei Cleopatra offensichtlich wurde: Die „Verschwendung“ hat kein Subjekt, sie kann weder vom Markt noch von der Kunstgeschichte aufgefangen werden. Während also das Cinemascope-Verfahren nur eine Variante des Kino-Erlebnisses war, scheint das extreme 70mm-Breitwandformat dieses Kino zu überschreiten – im positiven wie im negativen Sinn. Die Bildinformation ist so reichlich, dass man beim Zuschauen mehr bewundert als sieht; die „Lesegeschwindigkeit“ bei einem Panavision-Film verbannt das kinematografische Zeit-Bild ins Museale, Vergangene. Selbst die organische Bewegung nähert sich beim Breitwand-Filme-Sehen wieder dem Lesen an; diese Bilder kann man nicht „mit einem Blick“ erfassen. Wenn man von einem panoramatischen Blick spricht, dann denkt man an die feste Perspektive: Dem entgrenzten Raum steht eine einigermaßen gefesselte Kamera gegenüber.
Die Breitwand scheiterte zweimal, ökonomisch und künstlerisch. Zugleich bleibt sie ein nicht erfülltes Versprechen, ihr Größenwahn steckt noch immer an. Es gab Versuche einer Renaissance, Neo-Schinken wie Koyaanisqatsi drehten folgerichtig vom Historischen ins Mystische. Wenn jetzt das Kinobild in die Breite geht, sieht es Chaos und Katastrophe. Kenneth Branaghs Hamlet von 1997 war möglicherweise der letzte klassische 70mm-Film. Ein Film mit wirklichem Raum. Erst die Digitalisierung hat das Format eines Filmes technisch gesehen überflüssig gemacht. Es wäre ohne großen Aufwand möglich, innerhalb eines Filme das Format zu wechseln. In einem künstlichen Raum ist die Wahl des Rahmens eine leichthändige Entscheidung. Aber bei allem, was wir über „Sehgewohnheiten“ wissen, werden solche Auflösungen auf den experimentellen Sektor beschränkt bleiben. Wir haben uns an das Leben im Normalformat gewöhnt.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Freitag 02.02.2009
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