Porträt Marilyn Monroe (Öl auf Leinwand 60x80 cm, 2005, Ralf Krampe)

Am 1. Juni 2010 wäre Marilyn Monroe 84 geworden – aber sie hatte wenig Glück

Vielleicht hat sie einfach nur Pech gehabt. Eine Winzigkeit anders aussehend als sie es tat, eine andere Kindheit, als sie sie hatte, und sie wäre vielleicht Best Girl In Town geworden.

Das hübscheste Mädchen an der Highschool, zwei, drei Freunde und dann die Verlobung mit einem netten Kerl. Sie wäre die adretteste Hausfrau des Viertels gewesen, zwei süße Kinder und einmal eine kleine Affäre mit einem Durchreisenden und John hätte ihr verziehen. Dann würde Norma Jean am 1.Juni 2006 vielleicht im Kreis der Kinder und Enkel sitzen, sie hätten der alten Dame geholfen, die 80 Kerzen auf der Torte auszublasen und sie hätten an John gedacht, den guten Kerl, der vor einigen Jahren gestorben war. Und vielleicht hätten die Enkel die alten Fotos betrachtet von Norma Jean und bemerkt, dass Grandma einmal ein sehr hübsches Mädchen war und Grandpa muss sehr stolz auf sie gewesen sein. Aber weil Norma Jean wenig Glück hatte im Leben, gibt es diese Szene mit der alten Dame nicht. Norma Jean Baker war bestimmt, auf absehbare Zeit unsterblich zu werden. Sie hat es mit dem Leben bezahlt.

Marilyn Monroe hat eine Karriere in die Unsterblichkeit absolviert, wie es sie wohl nicht mehr geben wird. Eine am Ende mittelklassige Darstellerin, deren sich in „Manche mögen’s heiß“ und „Nicht gesellschaftsfähig“ andeutendes Talent nie wirklich geprüft wurde, würde heute kaum noch zu einer Ikone mit jahrzehntelanger Haltbarkeit avancieren. Die mediale Verwurstungsindustrie erzeugt Produkte mit ungleich kürzerer Halbwertzeit. Und auf dem gegenwärtigen Fleischmarkt eine Stelle zu besetzen, die von solcher Dauer ist, das wäre ungleich schwerer auch deshalb, weil auf dem heutigen Marktplatz der Sinnlichkeit eine erotische Provokation, die, mit etwas Geschmack, ihre Zeit überlebt, schwer vorstellbar ist.

So wäre ein Status als Ikone für die nächste Generation wohl an eine künstlerische Leistung gebunden. Es wird heute eine Frau, die die erotische Sehnsucht ihrer Zeitgenossen noch für die nächste Generation verkörpert, nicht geben, denn eine solche Lichtgestalt benötigt ein Geheimnis um sich, und der heutige Markt kennt keine Geheimnisse mehr und keine Träume. Claudia Schiffer und ihre Kolleginnen werden bruchlos durch ihre Nachfolgerinnen ersetzt und dann vergessen werden. Eine Frau wie Marilyn Monroe würde heute wohl eine solche Karriere machen. Denn damit jemand zur Ikone befördert wird, damit er den rationaler Erklärung nicht mehr unterworfenen Kult-Status gewinnt, bedarf es, neben der individuellen Fähigkeit dazu, auch entsprechender Umstände.

Ohne diese Umstände wäre „Casablanca“ ein vergessener Film. In einem kulturellen Umfeld, das derart beliebig ist, derart richtungs- wie konturenlos, gibt es kaum etwas zu verkörpern als die Beliebigkeit. So wird kaum ein Film, kaum ein Mensch als die dauerhafte Inkarnation eines Zeitgeistes, einer Sehnsucht gelten können. So wäre Marilyn, heute lebend, wohl bald eine vergessene Frau. Vielleicht, dass sie dann glücklich geworden wäre.

Marilyn Monroe war immer eine Art von Projektionsfläche. Zunächst für die Träume der Männer, dann für die Analysen der Psychologen. Eine Kindheit bei Pflegeeltern und im Waisenhaus, einen Job in der Fabrik, einen als Fotomodell. Eine Ehe, eine von dreien, mit einem berühmten Intellektuellen, Arthur Miller, eine Affäre mit dem nach George Washington und Abraham Lincoln wohl populärsten amerikanischen Präsidenten, und eine Überdosis schließlich am Ende; geeigneter für Mythen und Legenden kann kein Leben sein. Truman Capote nannte sie in einem berühmten Essay „Ein wunderschönes Kind“. Das beschreibt vielleicht wie kein zweiter Satz die Aura und die Tragödie dieser Frau.

Das Überdauern jener berühmten Szene, da sie John F. Kennedy das berühmte Happy Birthday, Mr. President singt, ist gewiss auch der amerikanischen Mythologie geschuldet. Diese Szene fasst aber auch, ungleich stärker als der wehende Rock überm U-Bahnschacht, und die eher fröhlichen als sinnlichen Filme, ihre Wirkung ins Bild: Eine unerhörte laszive Sinnlichkeit verbindet sich mit einer beinahe kindlich wirkenden Unschuld. Die Frau, die die Macht weiblicher Sexualität in Reinkultur verkörpert, präsentiert diese Macht mit der Naivität eines Kindes. Und diese Frau, die geschaffen war für das Leben eines netten Mädchens, einer adretten Hausfrau, findet sich miteins in der Mitte der für sie wahrnehmbaren Welt. Es hätte sehr, sehr viel Glück über diesem Leben liegen müssen, damit das gehen kann.

So bezahlte sie mit ihrem verpfuschten Leben und dem frühen Tod. Sie starb 1962, 36 Jahre alt, damit wir heute fasziniert ihre wunderschönen Fotos betrachten können. Glück wird man das nicht nennen können.


Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben Mai 2006

Text: veröffentlicht in FILMSPIEGEL

Bild via Ralf Krampe