Die verklärte Wissenschaft
Ein historischer Spaziergang durch die öffentliche Wissenschaft anlässlich des Rücktritts von Karl Theodor von und zu Guttenberg
Den Rücken gegen den Mist zu kehren und die Front gegen den Feind, so meinte Bismarck im vorletzten Jahrhundert, sei adelig. Dass der Minister zu Guttenberg eine ganze Regierung zwei Wochen in diese Haltung zwingen und sich hinter ihrem Rücken verstecken konnte, ließ sie entsprechend aus der Zeit gefallen wirken. Schließlich schätzen wir heute Mündigkeit, Transparenz und die Gleichheit vor dem Gesetz, wo früher einmal Hierarchie und Protektion eine gewisse Ordnung geschaffen haben mögen. Zum Glück entfachte die Sache auch einen publizistischen Sturm, der der offenen und freiheitlichen Gesellschaft alle Ehre machte.
Der Versuch einer Partei, das umfassende Plagiat, die Täuschung einer Universität und schließlich die offene, stete Bereitschaft ihres Ministers zur Unehrlichkeit bezüglich der Erstellung seiner Dissertation als irrelevant hinzustellen, offenbarte jedoch ihre nicht nur antimoderne, sondern eine erschreckend tief im Mittelalter verwurzelte Haltung zur Wissenschaft. Zwei Wochen sah es auch noch so aus, als käme er vielleicht damit durch. Angeblich stieg die Beliebtheit des Mannes sogar für ein paar Tage. Das zeigt, dass die Wissenschaft in der Gesellschaft noch immer isoliert ist. Bildet sie auch im 21. Jahrhundert noch eine Binnengesellschaft oder gar einen Fremdkörper, obwohl sie in jedem Handgriff, den wir tun, präsent ist? Staunend erlebte man, wie sich anfangs kein Professor und kein Doktorand einen feuchten Kehricht um die öffentliche Meinung scherte. Aber die gegenseitige Abneigung von gesellschaftlicher Mehrheit und wissenschaftlicher Elite besteht spätestens seit Galilei. Sie beruht auf einem Missverständnis.
Denn schon der kirchliche Angriff auf den Himmelsdeuter brachte die Wissenschaft in die Bredouille, einen Kampf zu führen, der ihr wesensfremd ist. An der Macht ist sie nämlich gar nicht interessiert. Bei der Entdeckung der Wahrheit auf welchem Gebiet auch immer ist sie nur deren Dienerin. Ob die Sonne sich als Zentrum zur Beschreibung der Planetenbahnen besser eignet als die Erde, ist dem Forscher schon immer herzlich egal gewesen. Wichtig sind immer allein die Erkenntnisse, die sich aus dem neuen Blickwinkel gewinnen lassen. Deutungshoheit besaß die Kirche aber über den Furcht einflößenden Himmel genauso, wie sie das Recht auf Trost und Heilung beanspruchte, vor denen sie stets Wohlverhalten forderte. Auch das mag einst durchaus für mehr Ordnung gesorgt haben. Man übersah allerdings, dass der Wunsch nach Erkenntnis dem Verbesserungstrieb entspringt, der schon den Faustkeil und das Rad hervorbrachte und die Fertigkeiten zum Kirchenbau.
Später kamen die Druckerpresse, elektrisches Licht, das Telefon, die Zentralheizung und die Krebstherapie. Ja, die Kirche verlor an Boden. Und als sei dieser Verbesserungstrieb dem Menschen nicht zum bloßen Überleben gegeben, stellte der schon Galilei aufgezwungene Machtkampf die Wissenschaft in die falsche Konkurrenz. Dass der Forscher ein Leben nahe am mönchischen lebt, das von Einkehr und Fachgespräch geprägt ist, tat zu den Ansichten des Mannes auf der Straße wie denen des Geistlichen ein Übriges. Selbst das Ziel des Forschers scheint dem des Mönchs ähnlich: Erkenntnis sieht von Ferne aus wie Erleuchtung. Und ihr Glück ist wohl sogar ein noch Höheres, weil gewisser. Ikonen der Wissenschaft wie Einstein erreichten im Zuge dieser Verwechslungen mit einem papstähnlichen Status genau, was sie nicht anstreben und nicht gebrauchen können. Denn ihr Fundament ist die Fehlbarkeit, ihr Metier ist das Maß. Ohne dieses ist jede neue Einsicht wertlos: Jedes Gesetz hat seinen begrenzten Geltungsbereich, jeder Forscher sein Gebiet.
Logisch dabei, dass nicht jeder Wissenschaftler immer vor Überhebung gefeit war. In der Bugwelle der französischen Revolution eröffnete einst Humphry Davy die Londoner Royal Institution mit einer große Rede. Er sagte den Missernten und Epidemien den Kampf an und formulierte den Anspruch auf bessere Lebensbedingungen für alle, besonders für die Armen. Man solle zwar, so der berühmte Chemiker, nicht schon soweit nach vorne sehen und hoffen, dass Arbeit, Krankheit und gar der Tod verschwänden. Aber von einem hellen Tag sehe er bereits den Sonnenaufgang.
Das war, so lange es beim Wort genommen wurde, vielleicht gerade noch vorsichtig genug. Und doch war es auch so werbewirksam, dass genug privates Geld zusammen kam, um den Forschungsbetrieb aufnehmen zu können. Indem ihre Entdeckungen zum Beispiel die Elektrifizierung auf den Weg brachte, löste die Royal Institution ihren hohen Anspruch zwar auch ein. Die noch höhere Erwartungshaltung des Publikums hatte Davy aber natürlich genau so befeuert, wie die blühendsten Fantasien mancher Forscher.
Es dauerte auch nicht lange, bis Mediziner Strom an frisch Gehenkte anlegten, um sie ins Leben zurückzuholen. Sie suchten den Muskel, der die Atmung wieder in Gang brachte, und es war eine Sensation, als sie nicht nur die Gesichtszüge, sondern endlich auch einmal das Zwerchfell eines Toten bewegen konnten. Und trotz der Enttäuschung, dass kein Verstorbener je wiederbelebt werden konnte, schrieb eine junge, zart aussehende, mit Lord Byron befreundete Dame einen Roman, der vor der Anmaßung des Menschen warnte, Gott zu spielen: Mary Shelley publizierte den „Frankenstein“. Hier erscheint der Forscher gleichzeitig als das Genie und der Hilflose, und dieses hybride Bild ist bis heute Klischee, seine Wirkung einfach: Der Leser muss sich ihm nicht mehr unterlegen fühlen. Statt am Misserfolg der Wissenschaft zu leiden, darf er sich sogar an ihm erfreuen, denn eine neue Herrschaft durch skrupellose Forscher und ihre Geschöpfe bleibt ihm erspart. Diese Debatte findet bezüglich der Gentechnik, bei Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik und sogar bei Computern und Internet oder überhaupt jeglichen Medien ihre kontinuierliche, man möchte schon sagen natürliche Fortführung.
Die Verklärung der Wissenschaft und des Fortschritts ist eine romantische und fußt im größeren und älteren Mythos des Johann Faust, der in England so oft bearbeitet wurde wie in Deutschland. Vermutlich geht er auf den Wundarzt Paracelsus zurück, der in manchem Disput zur Medizin der Zeit stand. Paracelsus propagierte auch die Lehre von den zwei Lichtern – lumen fidei, dem Licht des Glaubens, und lumen naturale, dem Licht der Natur – wobei das Licht der Natur eine zweite Offenbarung Gottes sei, die mittels der menschlichen Sinne und seines Geistes erfassbar wäre. Die Interpretatoren der Zeit machten nun einen folgenschweren Fehler, indem sie das Licht der Natur als maßlos brandmarkten, da es bereits im Diesseits leuchten sollte: Paracelsus musste, so folgerten sie, mit dem Teufel im Pakt sein. Der religiöse Zeitgeist betrieb so, was man heute mit einem Ausdruck der Psychologie die Projektion der schwächeren Hälfte nennt: Der eigene totalitäre, nicht einlösbare Anspruch wurde auf das Neue übertragen, auf die per Definition fehlbare Wissenschaft.
Die trickreiche Schuldzuweisung funktionierte bei Paracelsus und dann bei Johann Faust, der ein Halbgelehrter gewesen sein soll und auf Markplätzen Horoskope erstellte. Und die Übertragung findet sich in der Dichtung Goethes, dessen Faust nun, ach, Juristerei und anderes durchaus studiert hat, und dennoch als armer Tor genau so schlau ist wie zuvor. Unter der Weltformel will er es eben nicht machen. Halbwissen zählt ihm nichts.
Goethe ist seiner Zeit hier übrigens um drei Jahrzehnte voraus, denn die Naturforscher zerlegten die Phänomene noch in Einzelteile wie Elektrizität und Magnetismus. Erst nachdem der Däne Oersted 1820 entdeckte, dass Strom magnetisch ist, wendete sich das Blatt und setzte die hektische Suche nach der einheitlichen Beschreibung ein, die alles erklärt: Es ist deutlich ein Erlösungsmotiv, das alle inneren Krisen der Wissenschaft bis heute überlebte. Aber jeder Forscher weiß heute, dass es nur ein Symbol für die Unendlichkeit des Unwissens ist. Goethe lehnte später die moderne Naturwissenschaft so radikal ab, dass er Mikroskope und Teleskope verdammte und man sich in seiner Gegenwart kaum traute, eine Brille zu tragen.
Das Publikum hatte immer eine andere Position, es ist der Wissenschaft zu jedem Zeitpunkt ausgeliefert. Ob die Cholera durch Europa schwappte oder die Kartoffelfäule, ob Aids, Sars oder die Schweinegrippe die Welt bedrohten: Weniger als alles ist noch immer nichts. Seit Davys Rede hat sich die Lebenserwartung zwar vervierfacht, aber sagen Sie das mal einem unheilbar Kranken. Von der Unsterblichkeit haben wir genau Null Prozent erreicht: Das Drama des Menschen ist noch immer dasselbe, und es ist noch immer das Thema der Religionen und der Kunst, nicht das der Wissenschaft. Sie ist kein Erlöser, sie ist nur eine Befreierin. Dabei ist es mit der Freiheit auch noch immer wie mit dem Reisen: Sie macht Spaß, aber auch Arbeit.
Wie schwer es ist, das Maß zu halten, sah man an J. Robert Oppenheimer, der die Atombombe baute, um Hitler zu besiegen oder wenigstens nicht von ihm besiegt zu werden. Über die Umstände des Einsatzes in Japan ließ ihn die Regierung im Unklaren, zudem beanspruchte er keine politische Kompetenz. Nach dem Krieg versuchte Oppenheimer allerdings vehement, Harry Truman und der Welt klarzumachen, dass die Russen sehr bald aufgeholt haben würden und es gelte, ein Wettrüsten zu verhindern. Oppenheimer forderte internationale Transparenz. Der Präsident hielt ihn für eine Heulsuse und ließ die Bomben fortan von Edward Teller bauen, der Zeit seines Lebens daran Spaß hatte. Schließlich verkaufte er Ronald Reagan ein schon bei leichtem Nebel nicht mehr funktionsfähiges Laserabwehrsystem und wurde zur Lachnummer der Wissenschaft, obwohl er sie damit noch in Friedenszeiten weiter in Verruf brachte. Dass Teller aus der Wissenschaft heraus ernsthaft bekämpft worden wäre, ist nicht bekannt. In den USA war das Militär noch immer die wichtigste Geldquelle der Forschung: Eine groteske, gefährliche Situation.
Romantisierte Skepsis gegenüber Forschung und Fortschritt ist aber auch in Deutschland bis heute schick. Rüdiger Safranski machte zuletzt auf das Fehlen eines politischen Räsonnements aufmerksam, das nicht sogleich in die übergroßen Fragen ausweichte: Nach dem Krieg „fehlte ein pragmatisch-politisches Denken, das ein Gegengewicht hätte bilden können zu einem Geist, der entweder zu hoch oder zu tief ansetzte, beim Nichts oder bei Gott, beim Untergang oder Aufgang des Abendlandes“. Heute stehen die Grünen mit dem Wunsch nach einer einfach zu verstehenden Einheit mit der Natur für den neuen Konservatismus. Auf eine hochtechnologische Ökologie können sie sich nur zögernd einlassen, obwohl diese offenkundig die einzig mögliche ist. Romantische Politik aber, so Safranski, ist gefährlich: „Für die Romantik, die eine Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln ist, gilt dasselbe wie für die Religion: Sie muss der Versuchung widerstehen, nach der politischen Macht zu greifen.“
Das Romantische gehört eben eher in die Kunst. Tatsächlich findet sich die am Shelleyschen Hybrid geschulte Haltung zur Wissenschaft in der jüngsten Literatur: Daniel Kehlmann zeigte, wie perfekt und erfolgreich sich heute der Geniekult mit bissigem Humor verschmelzen lässt. Erstaunlich eigentlich und bezeichnend, dass das möglich ist, ohne das eigentliche Problem noch explizit thematisieren zu müssen, wie es Goethe und Shelley taten. Womöglich war es bereits der Abgesang. Die Genetik oder die relativistische Quantentheorie mögen ja noch rätselhaft sein, weil unvollständig. Aber sie sind eben kein Werk eines Außerirdischen, eines Deppen oder des Teufels. Und schließlich standen auch die Professoren und Doktoranden dann doch noch gegen Karl Theodor zu Guttenberg auf und hatten kraft ihres Rufes sofort Erfolg.
Nur der Minister baute zu lange auf das Ressentiment, das selbst gegen die schier unglaubliche Erfolgsgeschichte der Wissenschaft fortlebt, und das Goethes Faust ganz genau kannte: „Wir sind gewohnt, dass die Menschen verhöhnen, was sie nicht verstehen, dass sie vor dem Guten und Schönen, das ihnen oft beschwerlich ist, murren…“. Und wenn der Superkolumnist der in der Affäre glücklosen Bildzeitung, der dem Minister riet, auf den Doktor zu scheißen, mal einen braucht, wird er vermutlich auch einen anderen Ton anschlagen. Und der Tag kommt, wetten?
Text: Ralf Bönt
Mehr von und über Ralf Bönt finden Sie auf seiner website ralf-boent.de
Text erschienen in Frankfurter Rundschau, 11.03.2011
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