Friedhof der Kuscheltiere
Fred Astaire singt vom »Heaven« und Ginger Rogers schwebt auf Wolken, Wange an Wange. Der alte Mann aber, der das im Fernsehzimmer sieht, beginnt zu weinen. Er hat diesen alten Film schon einmal gesehen, damals, als es ein neuer Film war. Es war der letzte Wunsch von John Coffey, dem großen, wundersamen Neger, ehe sie ihn über die Grüne Meile in den Himmel führten. Da hatte er seine Wunder schon getan. Er hatte Paul Edgecom von seiner Harnleiterentzündung befreit, er hatte die tote Maus Mr. Jingle zum Leben erweckt, und er hatte Mrs. Moores den Tumor aus der Seele gesaugt. Es war, als Percy Wetmore, der sadistische Wächter, den Scheiterhaufen für Eduard Delacroix entzündete, der mit der Maus tanzte. Es war, als Wild Bill, der Mörder, von Percy Wetmore erschossen wurde, dem der große wundersame Neger John Coffey das Böse aus Mrs. Moores Seele eingehaucht hatte, damit er zum Henker würde und zum Gerichteten in einem. Und nachdem sie den großen wundersamen Neger John Coffey, von dem sie alle wussten, dass er nicht der Mörder war, noch einmal sehen ließen, wie sich Fred Astaire und Ginger Rogers den Himmel vorstellten, brachten sie ihn um. Und deshalb muss Paul Edgecomb, der jetzt 108 Jahre alt ist, weinen, wenn er diesen Film sieht. Dann besucht er die Maus Mr. Jingle, die seit 65 Jahren in einer Zigarrenkiste lebt.
Natürlich ist dieser Film in einer gewissen Weise Quark, denn seine Geschichte hat Stephen King geschrieben. Er ist in einer gewissen Weise aber auch berührend, denn seine Schauspieler wurden von Frank Darabont geführt. Er ist unrealistisch und wahrhaftig, er ist mystisch und glaubhaft, er ist albern und ernsthaft. Es kommt darauf an, ob man ihn mit dem Verstand betrachtet oder mit dem Gefühl. Wenn beides in eines fiele, dann hätte es ein sehr großer Film werden können, so ist es nur ein sehr schöner.
Die grüne Meile, so nennen sie im Todestrakt, Louisiana 1935, die letzten Meter zum Elektrischen Stuhl. Ein merkwürdiges, geschlossenes soziales Biotop, die Wärter, die zugleich das Hinrichtungsteam sind, bilden mit ihren Gefangenen, sozusagen, eine große Familie: Das ist das Verlogene, das Romantische. Damit das funktioniert, damit die staatlich bestellten Töter die Sozialarbeiter ihrer Opfer sein können, müssen diese, mit einer Ausnahme, überwiegend freundlich sein, ihre Verbrechen sind ein Justizirrtum oder werden unserem Blick entzogen. So gerät der Todestrakt zum Friedhof der Kuscheltiere. Auf diesem freundlichen Boden kann dies, anders als »Dead Man Walking«, kein Film sein, der die Todesstrafe ernsthaft diskutiert: Denn diese Debatte ist nicht an der Unschuld der Deliquenten zu führen, sondern an der Schuld des Staates.
Dass ein großer schwarzer Mann, ein Unschuldiger, eine Melange aus Jesus, Schamanen und reinem Thor, eine tote Maus zum Leben erweckt, dass er der Frau des Gefängnisdirektors spirituell einen Tumor aus den Kopf saugt, worauf ihm Schmetterlinge aus dem Munde fliegen und die Hände zu leuchten anheben, das ist das Alberne. Und doch zeigt sich gerade gelegentlich des mystischen Quarks die Substanz dieses Filmes: Es scheint nur in Maßen albern, es überrascht in dieser menschlich berührenden Geschichte, es erinnert den vergessenen Autor Stephen King.
Frank Darabont, der mit »Die Verurteilten«, ebenfalls nach King, ein überzeugendes Debüt aus dem Gefängnismilieu lieferte, ist als Regisseur von filigraner Sensibilität, die mehr ist als beherrschtes Handwerk: Hinter diesem Arbeiten steht eine Haltung, die es stimuliert, ein Interesse, das dem Menschen gilt. Darabont arbeitet, überwiegend in geschlossenen Räumen, mit Schauspielern – auf sie verwendet er seine inszenatorische Energie, ihnen schafft er einen Konzentrationsraum. Es wird dieser Haltung geschuldet sein, dass der Film, jenseits seiner Albernheiten, jenseits seiner Verlogenheiten eine menschliche Wärme verströmt, eine Wahrhaftigkeit, die gleichsam außerhalb der Geschichte liegt.
Und Tom Hanks. Wie dieser Schauspieler, dessen Gesicht das Problem einer Harnverhaltung zu zeigen vermag, die Biederkeit, die Durchschnittlichkeit, die Unauffälligkeit zur Kunst adelt, das ist außerordentlich. Und noch neben ihm wird so gespielt, dass die rational klar erkennbaren Einwände, von einem warm fließenden Gefühl hinweggespült werden.
Das eigentliche Sujet des Filmes ist nicht die Todesstrafe. Es ist der unbezweifelbare Umstand, dass das Leben eines jeden Menschen ein Leben auf der Grünen Meile ist, auf der wir alle einmal ankommen. Und die Hoffnung, es möge, wenn es geschieht, in Würde sein.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben: 1999
Text: veröffentlicht in filmspiegel
Bild: Warner Home Video
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