Andres Veiel gehört zu den (viel zu wenigen) Dokumentarfilmern hierzulande, die auch im Kino erfolgreich sind. Seine ausgezeichneten Dokus „Der Kick“ und vor allem „Black Box BRD“ haben ihn einem großen Publikum bekannt gemacht. Mit „Wer wenn nicht wir“ debütiert er nun als Spielfilmregisseur. Auf der Berlinale bekam er den Alfred-Bauer-Preis. Eine unverständlich Jury-Entscheidung, denn diese Ehrung ist für Filme gedacht, die neue künstlerische Wege beschreiten. Was Veiel mit seinem Drama über einen Teil der Vorgeschichte der RAF nicht macht. Die Montage von Spielszenen mit einigen historischen Aufnahmen ist nicht originell. Was kein Manko ist! Die Spannung erwächst aus Anderem.
Andres Veiel beleuchtet Privates und nähert sich so Schlüsselfiguren der RAF vor ihren Bluttaten. Bernward Vesper (August Diehl) und Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) sind zunächst die entscheidenden Protagonisten. Sie lernen sich als Studenten kennen. Er, der Sohn eines Nazi-Autors, und sie, die Tochter eines Pfarrers, beginnen ihre politischen Lehrjahre in der Auseinandersetzung mit den Rollen der Eltern in der Zeit des deutschen Faschismus. Beide wollen die Welt politisch zum Guten verändern. Doch sie wissen nicht, wie sie das anstellen sollen. Bernward baut auf die Kraft der Worte, Gudrun will Handeln. Andreas Baader (Alexander Fehling), der erst spielerisch, dann verbissen auf Gewalt setzt, verändert die Situation des Paares entscheidend. Für ihn verlässt Gudrun Bernward und den gemeinsamen Sohn Felix. Von Andreas Baader in neue Denkweisen gepresst, will auch sie nun die Gewalt. Die ersten Bluttaten geschehen.
Andres Veiel enthüllt – dabei nie denunzierend – die kleinbürgerlichen Wurzeln der Figuren. Fernsehberichte vom Schah-Besuch 1967 in West-Berlin, von den Studentenunruhen und anderen entscheidenden Ereignissen damals im Westen Deutschlands liefern dem Publikum klug eine Orientierung im Gang des Geschehens. Deutlich wird vor allem eines: die Ohnmacht von so genannten kleinen Leuten, die große gesellschaftliche Veränderungen anstoßen möchten. Da ist der Film sehr aktuell.
Lena Lauzemis und August Diehl faszinieren in den Hauptrollen. Diehl gelingt es beispielsweise überaus eindringlich, Bernward Vespers von Drogen angeheiztes Abgleiten in den klinischen Irrsinn deutlich zu machen. Lena Lauzemis, Theaterfreunden durch Glanzleistungen an den Münchner Kammerspielen bekannt, beeindruckt mit wuchtigem Pathos, das nie grobschlächtig anmutet. Immer ist da eine gewisse sachliche Distanz zu spüren. Das zeichnet auch die Inszenierung aus. Billige Showeffekte gibt es keine. Neben all dem zeigt der Film sehr deutlich, dass der Alltag der Nichtprivilegierten in Ost- und West-Deutschland in den 1950er, 1960er und noch Anfang der 1970er Jahre weder materiell noch geistig sehr weit auseinander lag. Die damalige Elterngeneration war einfach nur froh, dem Schlamassel des Krieges und der Nachkriegszeit entronnen zu sein, die Jungen wollten sich damit nicht begnügen. Sie suchten nach größtmöglicher persönlicher Freiheit. Im Osten führt das, sehr langsam, zur Bürgerrechtsbewegung, im Westen in eine mörderische Gewaltwelle. Beides ist von gestern. Wieder ist es soweit, dass ein Großteil der Gesellschaft froh ist, all dem entkommen zu sein. Wo aber sind die heute Jungen? Was wollen sie? Wo sehen sie Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Veränderung? Der Film stellt diese Frage nicht laut und direkt. Er löst sie bei den Zuschauern aus. Das ist so verblüffend wie wichtig. Hier wirkt deutsches Kino einmal erstaunlich weit über sich selbst hinaus.
Peter Claus
Wer wenn nicht wir, Andres Veiel (Deutschland 2011)
Bilder: Paramount
- „Rosenmontag For Future“ Oder: Lachen schult das freie Denken - 9. Februar 2020
- Thilo Wydra: Hitchcock´s Blondes - 15. Dezember 2019
- Junges Schauspiel am D’haus: „Antigone“ von Sophokles - 10. November 2019
Schreibe einen Kommentar