Die Holocaust-Plakataktion hat ihren Zweck erfüllt, indem sie ihn verfehlte. Oder umgekehrt

Also: Ein Plakat zeigt einen See, Bäume, Berge. Keinen Menschen. Unberührte Natur. Darüber der Schriftzug: »Den Holocaust hat es nie gegeben«. Kleingedruckt die Distanzierung: Es seien andere, eine Minderheit, die das behaupten. Und diese Minderheit drohe anzuwachsen. Erst dann die Absicht des Plakats: Es geht um einen Spendenaufruf für das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin, das von der Seite der offiziellen Repräsentanz in die Zivilgesellschaft gepflanzt werden soll. Wir wissen zwar nicht genau, was die »Zivilgesellschaft« ist, aber uns ist klar, daß es bei diesem Einpflanzen so etwas wie einen Transformationsprozeß geben muß. Und wir haben dafür unsere Medien und Sprachen entwickelt.

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Ein Plakat, das diese Transformation leistet, muß zuerst einmal zum »Hingucker« werden, was in der Strategie der Werbung bedeuten mag: provozieren, ohne zu verschrecken. Es handelt sich also um den klassischen Fall der rhetorischen Text/Bild-Schere, die zu einem mehr oder weniger dramatischen Lesevorgang der »eigentlichen« Botschaft führt. Der Wahrnehmungsbruch ist längst zur Gewohnheit geworden. Anders gesagt: Eine besondere Art, mit Bildern und Texten umzugehen, dokumentiert das Herunterkommen von Aufklärung auf ein Spiel und von Selbstaufklärung der ästhetischen Produktion auf die Selbstreferenz.

Lea Roshs Holocaust-Plakat folgt den ästhetischen Spielregeln der Werbung. In einer Bilderwelt wie der unseren liegt das nahe, und vermutlich könnten wir einen Versuch, es zu verbergen, als die größere Lüge ansehen. Man könnte daher dem Plakat zugute halten, es habe seinen Zweck insofern erfüllt, als es die gute Sache ins Gerede gebracht und schon damit etwas gegen das Vergessen getan hat. Am Ende stellen sich indes neben der noch viel größeren Diskrepanz zwischen den eingesetzten ästhetischen Mitteln und dem eigentlichen Gegenstand doch ein paar Fragen, die möglicherweise über das aktuelle Spiel mit Empörung und Gleichgültigkeit hinausgehen: Läßt sich die Zustimmung oder das »Verstehen« einer Aussage an der Anzahl der eingegangenen Spendenmünzen messen? Ist schon aufgeklärt oder begriffen, was ins Gerede gebracht wurde? Und muß die Form des Diskurses auf eine gewisse Art verwahrlost sein, um in der Mitte der Gesellschaft überhaupt noch zur Kenntnis genommen zu werden?

Aufmerksamkeit, so gilt als ausgemacht, ist eine der letzten Ressourcen dieser Gesellschaft, die darauf aus ist, mit möglichst wenig Mitteln größtmögliches Aufsehen zu erregen. Man nennt das fälschlicherweise die »Feldbuschisierung« der (politischen) Wahrnehmung, aber vielleicht ist Verona Feldbusch viel eher bereits ein ironischer Reflex dieser Entwicklung. Sie lockt die Kritik in eine bemerkenswerte Beziehungsfalle: Verlust des Diskurses oder Verlust der Adressaten. Wer nicht mitmacht, der hat schon verloren, und retten kann sich die Intelligenz (die ästhetische wie die begriffliche) nur, indem die Ironieschraube eine Umdrehung weitergedreht wird. 

Das ergibt zunächst eine merkwürdige Kette der »Bild-Lektüren«. Hat man erst einmal die Möglichkeit einer Eins-zu-eins-Wahrnehmung verworfen, so scheint das Plakat eine innerdeutsche Auseinandersetzung zu spiegeln. Irgend etwas Falsch-Idyllischem, Südlich-Alpenländlichem wird da schriftlich eine Erkenntnis entgegengehalten. Sollte das Bild ursprünglich also ein Nord-Süd-Gefälle bezeugen – die Holocaust-Leugner, das sind die Dumpfbacken aus Bayern und Österreich? Aber der Widerspruch zwischen der Naturidylle und der Textaussage kann das Lektüreziel allein nicht sein. Wenn man einmal damit angefangen hat, muß man das Bild immer weiter »lesen«. Und gleichgültig, wie weit man es liest, es wird immer eine Denunziation daraus. Die erste markiert eine Differenz der städtischen Gutmenschen zu einer Naziregion – eine Differenz zwischen dem falschen Bild und dem richtigen Text. Nun hat ein aufmerksamer Beobachter notiert, daß es sich bei den abgebildeten Bergen keineswegs um die Alpen handelt, wie unentwegt nachgeplaudert wird, sondern um ein amerikanisches Panorama, wie man an der Form der Bäume sehen kann (oder ahnen, wenn man gewisse späte Western liebt oder zufällig in der Alpenregion zu Hause ist). Sind es etwa die Amis, die den Holocaust leugnen? Oder ist diese Landschaft eben kein Indiz, sondern ein Symbol? Ist das Bild also nur Tapete für einen alten Diskurs?

Man kann sich das Bild so genau ansehen, wie es ein Leserbriefschreiber in der »Zeit« tat: Das ist nicht irgendeine amerikanische Landschaft, sondern der »Spirit Lake« mitsamt dem Berg St. Helens, und der ist, wie wir wissen, ein Vulkan. Also ist das Bild, wenngleich nur für wenige Wissende, doch sehr eindeutig lesbar: Über dem See des Geistes droht ein Vulkan wieder auszubrechen. Die Text/Bild-Schere erweist sich als ikonographische Falle – in Wahrheit handelt es sich um eine Tautologie. Jedenfalls ist die Beziehung zwischen Text und Bild auf höchst unterschiedliche Weise zu interpretieren. Um nicht zu sagen: beliebig.

Auch der Begriff »Holocaust« selber ist ja erst nach einer gewissen Wanderung in unseren Sprachgebrauch eingetreten, und zwar eher vernebelnd, entwirklichend. »Holocaust« beschreibt die Leiden der Opfer, das Katastrophische des Geschehens, weniger indes das Verbrechen selbst. Wie wäre es denn gewesen, wenn über dem Plakat stünde: »Den Massenmord der Deutschen an sechs Millionen jüdischen Menschen hat es nie gegeben«? Ich fürchte, dann hätte die Provokation tatsächlich gewirkt, was in der Umkehrung bedeutet, daß das Plakat nie wirklich hat provozieren, sondern immer nur eine feuilletonistische Darstellung von Provokation abgeben sollen. Der Skandal wird eben keiner, die Diskussion schaukelt sich nur nach und nach auf.

An dem vermeintlichen Schockbild stimmt hinten und vorne nichts, und das unterscheidet es von den Bildern von Oliviero Toscani in seiner Benetton-Werbung. Von der – man mag von ihr halten, was man will – hat die Rosh-Initiative, ganz im Gegensatz zur Meinung vieler Kommentatoren, ganz und gar nichts gelernt. Da nämlich geht es um ein radikal eindeutiges Bild, das im präzisen Zusammenhang mit der Werbemarke auf wahrhaft ungeheure Weise zweideutig wird. Man kann machen, was man will, man muß darüber nachdenken. Beim Holocaust-Plakat dagegen geht es um ein mehrdeutiges Bild, das im Kontext eindeutig werden soll, was es natürlich nicht will. Es wird statt dessen noch mehrdeutiger und sagt plötzlich alles mögliche aus, während zur gleichen Zeit auch der Text sich zu einer beliebigen Lektüre spreizt. Diese Plakatinstallation handelt von etwas Furchtbarem, nämlich davon, wie sehr sich die Gutmenschen ihren scheinbaren Widersachern, den Spaßmenschen, und diese wiederum ihren vermeintlichen Widersachern, den leichtfaschistischen Regressionsmenschen, bereits angepaßt haben.

Die oberflächliche Debatte also, die nach der »Frivolität« der Reklame für die gute Sache fragt, auch danach, wo das Zitieren der Gleichgültigkeit zum Bestandteil der Gleichgültigkeit wird, von »Geschmack« und »Würde« ganz und gar zu schweigen, verdeckt einmal mehr den wahren Skandal, der darin besteht, daß jedes Bild, das in dieser Gesellschaft von ihrem Verbrechen und von ihren Opfern entsteht, wie automatisch zu einer Installation der Verhinderung dieses Bildes wird. So setzt sich eine »Diskussion« um das angemessene Gedenken, dem eben kein Denkmal, sondern ein Mahnmal entspricht, in einem endlosen Gerede fort, das immer wieder seinen eigentlichen Gegenstand verbirgt.

Die Gesellschaft, die sich nicht erinnern, die kein Mahnmal haben will, soll das eine Mal mit staatsoffizieller Macht, das andere Mal mit spielerischen Mitteln, wie sie aus der Idiotenmaschine bekannt sind, überredet, verführt, mehr oder weniger gezwungen werden – wenn nötig eben mit Tricks der Spaßgesellschaft –, ein Gedenken in ihre Kultur zu integrieren, die dafür nicht geschaffen wurde. Denn der Zweck der Kampagne ist ja zunächst einmal weder Einsicht noch Konsens, sondern das, wofür Werbung immer steht: Geld. Und nur in seinem Fluß mißt sich so etwas wie »Erfolg«.

Was versucht Werbung? Sie kann die ideologische Mitte besetzen: Wer dieses Waschmittel nicht benutzt, der gehört nicht zu uns, der hat zu Recht kein gutes Gewissen. Rama macht aus uns eine Familie im warmen Innen und die Welt zum kalten Draußen. Oder sie kann eine Art von rauschhaftem Konsens schaffen: Benetton oder Bier macht uns alle zu Brüdern und Schwestern. Sie kann auch Differenz erzeugen: Wer dieses Auto fährt, gehört zu den Besserverdienenden. Dahinter steckt immer ein kluger Kopf und so weiter. Viel mehr kann, abgesehen von ihren mytho-psychologischen Spielchen und ihrer semiotischen Impertinenz, Werbung eigentlich nicht. Sie kreiert immer zwei Dinge: die soziale Identifikation und den Affekt. Zu etwas dazugehören oder nicht, und: Glücksbild, Haßbild, Schockbild, Bild des Begehrens.

Die Werbung für das Holocaust-Mahnmal nun benutzt offensichtlich das Mittel der Differenz, das scheinbar ironisch durch die Negation erzeugt wird. Es gibt Holocaust-Leugner. Wir gehören hoffentlich nicht dazu. Das »schöne Bild« trügt, oder trügt es nicht? Um über so viel Ecken die Gemeinschaft (die Mitte?) der »Guten« zu schaffen, muß dieses Außen merkwürdig aufgebauscht werden, zu einem Skandal wie: Was, Sie kennen das neue Bluna noch nicht? Das warme Innen und das kalte Außen – jetzt verstehen wir auch, warum auf dem Bild kein Mensch zu sehen ist, wie es doch seit dem 18. Jahrhundert unabdingbar war, um Größe oder Idylle, Erhabenheit oder Schönheit von Natur auszudrücken. Statt dessen nun eine alte Form der Erhabenheit, die aber nicht eigentlich »schön« sein kann, schon wegen der Abwesenheit der Menschen. Es ist Einsamkeit, was das Bild ausdrückt. Den Leugner des Holocausts verurteilen wir zur Einsamkeit. Denn wir sind wir, und wir sind im wärmenden Innen.

Die Installation – nennen wir diese Einheit von Bild, Aussage und Spendenaufruf einmal so – gehört also nicht nur entschieden der Differenzstrategie der Werbung an. Sie konstruiert eine Grenze zwischen den Guten und den Bösen, ja, sie warnt sogar davor, daß die Bösen mehr werden, und zugleich vernebelt sie diese Grenze, läßt sich ikonographisch nicht festlegen. Denn das Plakat gehört gleichzeitig auch zur »gutes Gewissen«- und zur Familien/Innenraum-Strategie der Werbung. Da ist es dann fast schon wieder komisch, wenn die Firmen, die das Ganze zu verantworten haben, auch noch »im stall« und »zufallsproduktion« heißen und das Plakat folgerichtig als »zufallsproduktion im stall« signieren (weil ja auch die Eigenwerbung durchaus sein muß). Die semantische Katastrophe ist in einem wärmenden Innenraum gut aufgehoben.

Das alles geht über die schlichte Frage hinaus, ob eine Gesellschaft, die sich selbst nur noch über Ökonomie einerseits und die Bildwelten der popular culture andrerseits verständigen, ja überhaupt einen kann, nicht auch gerade diese Mittel der Verständigung in den Dienst der Erinnerung stellen kann. Die genauere Forderung müßte lauten: Wenn sie es tut, dann muß sie es a) ehrlich tun (was das anbelangt, enthalten wir uns hier entschieden einer Meinungsäußerung), und sie muß es b) intelligent tun. Aber all den Hoffnungen der Postmoderne, den Crossover- und Meta-Ebenen, den neuen Freiheiten und Reflexionen zum Trotz ist die popular culture nicht klüger geworden. Nur unverschämter. Sie hat weitgehend die Kultur gefressen, die ihr widersprechen könnte. Nur da, wo sie sozusagen wieder richtige Kultur werden will, kann der endlose Spaß noch aufhören. Dort verbraucht sich die Provokation schneller, als die Zufallsproduktion sie erzeugt. Und das Holocaust-Plakat ist zum Teil dessen geworden, wovon es sich zu distanzieren vorgibt.

Freilich: Die Aussage des Plakats, so haben wir gesehen, ist nicht nur simpel von rechts mißzuverstehen. Sie ist auch nicht nur in der Mitte mehrdeutig (es scheint, als habe man sich mit allen Mitteln bemüht, Signifikat und Signifikant voneinander zu trennen und das Lesen der Installation zu entgrammatisieren). Die Aussage des Plakats ist auch simpel von links mißzuverstehen. Oder von einem Standpunkt aus, der sich selbst für links hält. Am Ende mag das Plakat, trotz seiner vorzeitigen Abhängung, als unverstandener Aufruf für einen unverstandenen Ablaßhandel mit einem ebenso unverstandenen Mahnmal erfolgreich gewesen sein.

Das doppelte Problem des Mahnmals als Ort und Form des Gedenkens an die Opfer ist seine Beziehung zu seinem Widerpart, dem Denkmal, der Ort und Form gewordenen Verlängerung der Macht der Täter. Das Mahnmal ist nämlich zugleich ein Sonderfall des Denkmals und ein Gegenentwurf dazu, das sich von seinem Gegenüber nie wirklich befreien kann. Muß es sich hier und dort schon durch seine Materialien, durch Versteinerung, Vereisung, Entrückung, selber an jenes Gegenüber verraten, von dem die Geschichte sich nicht lösen kann, so steht es andernorts im Schatten von dessen wahrhaft unverschämtem Triumphalismus. Der Ort der Opfer ist »falsch«, wenn er es an Größe und Schwere mit den Orten der Täter aufnehmen will, und er ist »falsch«, wenn er sich kleinmacht und im Namen des Lebens gegen die Versteinerung der Macht protestiert. 

Während das Denkmal in der Sprache des Mythos die Vergangenheit zu einem Teil der Gegenwart werden läßt, will das Mahnmal gerade die Wiederkehr verhindern, indem es unvergessen macht. Das Mahnmal kann nicht allein ein Denkmal mit umgekehrter Aussage sein. Es hat nicht nur eine andere Aussage, sondern vor allem eine andere Aussageweise. Es muß auch in seiner Form Protest einlegen. Während das Denkmal den Tod in gewisser Weise nicht akzeptiert, ist im Mahnmal der Tod und die Schuld, die ihn hervorrief, selber das Thema. Wo das eine den Tod mit Sinn erfüllt, muß das andere diese Sinngebung radikal verweigern. Der Sinn des Denkmals liegt in diesem selbst, der Sinn des Mahnmals dagegen außerhalb von ihm, in dem, was es auslöst. Es kann weder »schön« noch gar »erhaben« sein. Das Denkmal muß ein geschlossenes, das Mahnmal aber ein offenes Kunstwerk sein.

Die Trivialisierung des Denkmals ist ein Akt humanistischer Gnade. Man kann den eisernen Kaiser nur lieben, wenn genügend Tauben auf ihn geschissen haben. Die Trivialisierung des Mahnmals dagegen kann nur ein Akt der Dehumanisierung sein, sei es in der kriminellen Form der Schändung, sei es in der Form einer Gewöhnung, die zu seiner semiotischen Entleerung führt. Was das Holocaust-Plakat also zeigt, ist der Widerspruch, in dem sich das Errichten des Mahnmals in der »Zivilgesellschaft« vollzieht. Da es ein offenes Kunstwerk ist, das seinen Wert immer wieder in den Köpfen der Menschen und im Verhalten der Gesellschaft selbst gewinnen muß, verlangt es nach Aktionen, die in die Gesellschaft eingreifen. Aber in diesem Eingreifen liegt bereits der Keim der Trivialisierung (zu der gewiß auch die »pädagogische Absicht« gehört).

Das Denkmal will gleichsam überall sein. Der Ort ist ihm nur Anlaß. Ja, alle gesellschaftliche Produktion strebt danach, zumindest auch Denkmal zu werden. (Schon von daher konnte die Beseitigung der faschistischen Denkmäler nie wirklich radikal durchgeführt werden.) Das Mahnmal hingegen muß stets aufs neue das Konkrete von Leiden und Tod, das Konkrete des Verbrechens deutlich machen. Sein Raum muß immer wieder neu geschaffen werden.

Das Holocaust-Plakat aber hat zu uns in der Form der »Mythen des Alltags« gesprochen, es hat semiotisch den Raum für das Mahnmal geschlossen, indem es sich der Gesellschaft als pädagogisch nützlich und ästhetisch reizvoll anbot. Man hat versucht, den Anlaß zu mißbrauchen, um der Gesellschaft ein begehrteres Selbstbild zu schaffen, erzeugt aus dem Wunsch nach dem familiären Innenraum und dessen Distanz zum bösen und kalten Außen. In diesem Weltbild steckt mehr noch als der Keim der Trivialisierung der zur inneren Ablehnung des Mahnmals. Es soll zum Denkmal des eigenen Wohlbefindens werden.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 2001

Text: veröffentlicht in konkret, Heft 9-2001