Filmfestival-Jurys treffen oft seltsame Entscheidungen. Das war gerade wieder auf der Berlinale 2011 zu bestaunen. Nicht zum ersten Mal in Berlin. Im Vorjahr beispielsweise war es für viele unverständlich, dass der dänische Spielfilm „Eine Familie“ von den Juroren harsch übersehen wurde.
Autorin und Regisseurin Pernille Fischer Christensen hatte 2006 für ihr Kino-Spielfilmdebüt „En Soap“ auf der Berlinale den Großen Preis der Jury bekommen, für viele die wichtigste Filmfestspiel-Ehrung gleich nach dem Goldenen Bären. Diesmal also nix. Immerhin: Die Jury der FIPRESCI, des internationalen Verbandes der Filmkritik, gab „Eine Familie“ in Berlin ihren Preis. Völlig zu Recht!
Erzählt wird eine dieser kleinen Geschichten, in denen sich das Große der Welt widerspiegeln lässt. Aufhänger ist ein Job-Angebot für Ditte (Lene Maria Christensen), Mitte 30, in New York. Ihr Freund, Peter (Johan Philip Asbæk), ist so begeistert wie sie selbst. Er kann absolut nicht verstehen, weshalb seine Liebste zurücksteckt, als ihr Vater erkrankt. Das ist der Bäcker Rikard (Jesper Christensen), weithin berühmt im Land, nicht nur, weil er es zum Hoflieferant gebracht hat. Seine Krankheit ist lebensbedrohlich. Er will, dass Ditte seine Nachfolge antritt. Da steckt sie nun in einem Dilemma: Die Liebe zum Vater sagt ihr, dass sie das tun muss; der Selbsterhaltungstrieb schlägt Alarm. Guter Rat ist nicht in Sicht. Also wurschteln alle erst einmal weiter – doch die Katastrophe ist unabwendbar.
Der Film, der nicht einen Moment in Kitsch abrutscht, erfreut damit, dass die scheinbar voraussehbare Story ziemlich anders verläuft als wohl die meisten Zuschauer zunächst vermuten. Krankheit, Sterben und Trauer bestimmen die Handlung. Trotzdem wird’s nicht düster. Interessant ist, dass „Eine Familie“ auch so genannte heikle Fragen stellt – zum Beispiel die, ob ein erwachsenes Kind sich dem Willen der Eltern verweigern sollte, oder auch die, ob eine Ehefrau sich von ihrem sterbenden Mann abwenden darf.
Die Kameraführung ist dem angenehm leisen Erzählfluss angepasst. Optische Sensationen bleiben aus. Was sich an Reaktionen in den Gesichtern der Protagonisten abspielt, das ist das Entscheidende. Dazu gibt’s handfeste, knappe Dialoge. Die werden von den durchweg exzellenten Schauspielern unprätentiös serviert. Das Ensemble agiert durchgehend ungekünstelte lebenswahr. Schonungslos werden die Figuren mit dem Sterben konfrontiert – und damit das Publikum. Dabei erinnert der Film etwa an Ingmar Bergmans „Wilde Erdbeeren“, bis heute einer der eindrucksvollsten Spielfilme zum Thema Sterben. Pernille Fischer Christensen jedoch lässt, anders als Bergman, kein Grübeln zu. Ihr Film schöpft seine Stärke aus einem bedingungslosen „Ja“ zum Leben. Man geht erstaunlich froh gestimmt nach Hause.
Peter Claus
Eine Familie, Pernille Fischer Christensen (Dänemark 2010)
Bilder: Tobis Film
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