Ihr filmisches Leben begann als Hure. Viscontis Rocco und seine Brüder wurden gleichsam ihr Schicksal im zweifachen Sinne. Es war ihr künstlerischer Durchbruch zwischen Alain Delon und Renato Salvatore. Am Ende wird Nadia von Simone, also Renato Salvatore, ermordet und schaut ihn sterbend an mit einem Blick, der in die europäische Filmgeschichte gehört. Das war 1960, zwei Jahre später hatte sie Renato Salvatore geheiratet.
Der Tod dieser wunderbaren Schauspielerin erinnert auch an den Tod eines Kinos, das es so nicht mehr gibt. Annie Girardot hat gearbeitet bis zum Anfang dieses Jahrtausends, doch ihre große Zeit war die des westeuropäischen Kinos in den sechziger und siebziger Jahren. Sie hat mit beinahe allen gearbeitet, ihre wichtigsten Regisseure waren wohl Claude Lelouch (So sind die Tage und der Mond) und André Cayatte. Mit dem drehte sie Aus Liebe sterben, über eine erwachsene Lehrerin, ihre Liebe zu einem Schüler und eine Gesellschaft, die sie in den Selbstmord treibt. Vielleicht zeigt dieser Film am prägnantesten, was das Besondere dieser Schauspielerin war: Ihre kraftvolle, gleichsam flirrende Durchschnittlichkeit. Sie war keine auffallend schöne Frau, aber diese Durchschnittlichkeit war von einer Art, die die Schönen neben ihr verblassen ließ. Ihre schönste Altersrolle war wohl die altersvergrämte Mutter in Hanekes Die Klavierspielerin, im Duell mit Isabelle Huppert.
In den letzten Jahren litt sie an kompletten Gedächtnisverlust, sie hatte das Bewusstsein ihrer selbst vollkommen verloren.
Im Bewusstsein und im Gedächtnis des Publikums wird Annie Girardot für lange Zeit unverloren bleiben.
Text: Henryk Goldberg
Text erschienen in Thüringer Allgemeine, 01.03.2011
Bild: Annie Girardot à la cérémonie des Césars (Foto Georges Biard)
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