Jim Jarmusch ist der Held jenes amerikanischen Kinos, das definitiv nicht Hollywood ist und es auch nie werden will. Er hat angefangen als Assistent bei Nicholas Ray und zu seinen frühen Förderern und Freunden gehört ein Amerika-süchtiger Deutscher namens Wim Wenders. Jim Jarmusch, das sind Filme, die vom Unterwegssein handeln, vom merkwürdigen Unterwegssein, manchmal: Leute auf den Straßen von New York (Permanent Vacation), Amerikaner und ein Italiener, der nicht englisch spricht in Florida, in „Down By Law“, zwei junge japanische Rock’n’Roll Freaks auf dem Weg nach Memphis, auf den Spuren ihres Idols, Elvis: „Mystery Train“, Neil Young und seine Band in „Year Of The Horse“ (Young hat übrigens auch den Soundtrack zu „Dead Man“ beigesteuert). Allenfalls gibt es Pausen im Unterwegssein, wie in „Coffee And Cigarettes“. Pausen, die ein paar Minuten dauern, oder auch eine Ewigkeit. Immer treffen sich beim Unterwegssein ein paar sehr verschiedene Leute und verstehen sich phantastisch, vielleicht weil sie sich gegenseitig keine Vorschriften machen und keine Erklärungen verlangen. Sie verstehen sich, auch wenn sie sich gegenseitig erschießen müssen. Die Antwort auf den Sinn der Reisen gibt June in „Mystery Train“: „It’s cool“. Er sagt das mit einem Ausdruck großer Trauer. Cool ist nicht nur elegant, cool ist auch immer nahe am Tod. Es sind Wanderer zwischen den Welten, sie kommen aus Japan, aus Italien, aus Ungarn (Stranger Than Paradise), aus Afrika (Ghost Dog). Und sie wissen, dass es auf die Frage „Wohin?“ keine große Antwort gibt.
In seinen späteren Filmen nahm sich Jarmusch die großen amerikanischen Film-Genres vor, den Western in „Dead Man“, den Gangster/Yakuza- Film in „Ghost Dog“, das Melodrama in „Broken Flowers“, um sie konsequent in seiner Manier umzuformen. Die Reisen haben jetzt eine andere poetische und philosophische Dimension. Jetzt sind die Helden nicht mehr allein aus Spaß oder Langeweile unterwegs, jetzt suchen sie etwas. Etwas, das sie verloren haben. Etwas mehr oder weniger Gespenstisches. Ganz behutsam nähert sich der Regisseur von Film zu Film den Produktionsformen des Mainstream. Aber immer sind es Jim Jarmusch-Filme. Aber was sind Jim Jarmusch-Filme?
Erstens: In einem Jim Jarmusch-Film gibt es Typen, die einerseits cool bis in die Haarspitzen sind, andrerseits aber auch von irgend etwas besessen. Sie leben ihre Leben wie einen Rock Song. Mit Refrains und Solos. Und mit einem Ende, das auch schon wieder der Anfang des nächsten Tracks sein könnte. Sie sind unterwegs, aber nicht so, wie die Figuren in einer Heldenreise oder in einem traditionellen Road Movie. Sondern einfach, weil sie nichts anderes zu tun haben. Jim Jarmuschs Helden reagieren auf ihre Umwelt, aber einem Teil von ihnen ist sie auch vollkommen egal. Jedenfalls gehören sie in Wahrheit nirgendwo dazu, außer zu sich selbst und zu Regeln, die sie sich selber geben. In „Coffee And Cigarettes“ bietet ein Kerl dem anderen an, für ihn zum Zahnarzt zu gehen. In „Ghost Dog“ lebt der afroamerikanische Auftragskiller getreu nach einem japanischen Samurai-Buch, das man ebenso gut in einem Comic-Laden hätte finden können. Und in „Broken Flowers“ wird die Reise des Helden durch einen Brief ausgelöst, den wer weiß wer ihm geschrieben hat oder wer weiß wer geträumt hat. Und kein normaler Mensch kann, wie Bill Murray in „Broken Flowers“, in den moralisch und emotional dramatischsten Augenblicken so weggetreten schauen. Es ist für Jim Jarmusch-Helden einfach besser, nicht ganz von dieser Welt zu sein. Es sind Spiele, die sie spielen, langsame Spiele, die wie kindliche Albereien beginnen, oder wie kleine poetische Happenings, Spiele, die von Film zu Film „ernster“ werden, und die am Ende tiefer in die Wirklichkeit führen als Helden von sogenannten realistischen Filmen jemals kommen.
Zweitens: Jim Jarmusch-Filme leben Musik. Musik ist ihre Seele, ihr Motor, ihr Spirit. Der Jazz von Charlie Parker in „Permanent Vacation“, der kaputte Country Rock Neil Youngs in „Dead Man“, der subversive Rap des Wu Tang Clan in „Ghost Dog“ usw. Es ist nie Musik zum Film (oder Film zur Musik), es ist wie Zwei Mal die Welt verstehen – oder auch nicht. Fremd in einer fremden Welt kann der Mensch den Klängen mehr vertrauen als den Worten.
Drittens: Jim Jarmuschs Filme sind einfach. Sie brauchen keine großen Budgets, dafür aber die Begeisterung aller Beteiligten. Man sieht und hört in Jim Jarmuschs Filmen Leuten bei der Arbeit zu, denen das Filmemachen und das Zusammensein einen grimmigen Spaß bereitet. Alle machen genau das, was sie machen müssen, für einen Filme, der genau so ist, wie er sein muss. Immer wieder kippt die Drehbuch-Fiktion in Szenen um, die wie Dokumentationen wirken. Aber man darf sich nicht täuschen. Nichts ist willkürlich, nichts ist nicht genauestens komponiert in Jim Jarmusch-Filmen. Vielleicht hört er’s ja nicht gern, aber das ist Filmkunst bis ins Arrangement der Kippen in einem Aschenbecher.
Viertens: Viele Jim Jarmusch-Filme entwickeln auch ein eigenes Spiel mit ihren musikalischen, filmischen oder literarischen Vorbildern. „Mystery Train“, sagt Jarmusch, sei eigentlich nichts anderes als eine „minimalistische Version von ‚Canterbury Tales’“. In „Permanent Vacation“ werden die „Chants de Maldoror“ zitiert, eine der schönsten Szenen von „Ghost Dog“ ist eine kleine literarische Debatte zwischen dem Killer und einem kleinen Mädchen. „Dead Man“ ist unter anderem eine Reise durch ein paar Shakespeare-Stücke. Es ist amüsant, solche Anspielungen zu entdecken; notwendig, einen Jarmusch-Film zu genießen ist es aber nicht.
Fünftens: In Jim Jarmuschs Film sind Komik und Trauer mindestens so nahe beieinander wie das coole Spiel und die melancholische Poesie. Es ist, als hätten alle Figuren kapiert, dass diese Welt und sie nicht wirklich zusammen gehören. Deswegen bewegen sie sich auch in einer anderen Zeit, musikalisch, manchmal wie in Zeitlupe, gespenstisch. Aber richtig gespenstisch sind nicht diese Menschen, die nirgendwo dazu gehören, gespenstisch ist die Welt. Es ist schon komisch, sagt mehrmals in Jim Jarmusch-Filmen einer der Reisenden, dass man immer weiter reisen kann, und trotzdem sieht alles gleich aus. Jim Jarmusch-Filme handeln vom Unterwegssein, vom Ankommen ist nie die Rede. Sprache, so wie man sie aus dem Alltag kennt, taugt nicht viel in Jim Jarmusch-Filmen. Nicht bloß, weil die Reisenden ohnehin die Weltsprache Englisch nur sehr teilweise beherrschen. Mindestens so wichtig wie gewisse Poesie- und Musik-Stücke werden in Jim Jarmusch-Filmen Witze zu Leitmotiven. Sie werden irgendwann erzählt und tauchen dann in immer neuen Variationen wieder auf. Sprache funktioniert wie Musik, und Musik funktioniert wie Bilder, und Bilder funktionieren wie Gedichte.
Wissen wir jetzt, wie Jim Jarmusch-Filme funktionieren? Jedenfalls sind es „Filme von herbem, dissonanten Charme“ (New York Times), „von gnadenloser Langsamkeit“ (tip) und sie „beschreiben Reisen ans Ende des Nichts“ (Süddeutsche Zeitung). Das ist hübsch gesagt. Ansonsten gilt das erste Gesetz zur Kritik von Jim Jarmusch-Filmen: Je einfacher ein Jim Jarmusch-Film ist, desto komplizierter werden die Sätze, die man braucht, um ihn zu beschreiben. Übrigens meine ich das gar nicht ironisch. Also anders herum: Jim Jarmusch-Filme leben auch durch die Schauspieler (und Musiker), die nie etwas darstellen müssen, sondern immer nur die richtigen Menschen in der allerrichtigsten Rolle sind: Künstler wie John Lurie (Permanent Vacation), Tom Waits (Down By Law) und Roberto Benigni. In der zweiten Hälfte arbeitet er mit eher eigenwilligen Leuten auch aus Hollywood zusammen: Johnny Depp und Robert Mitchum in dem Schwarzweiß-Gespensterwestern „Dead Man“, Forrest Whitaker und Henry Silva in „Ghost Dog“, Bill Murray in „Broken Flowers“. Aber es sind eindeutig Jarmusch-Schauspieler geworden, so als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gewartet.
Am einfachsten ist es ja immer, einen Regisseur seine Filme selber erklären zu lassen. „Meine Filme leben von den Zwischenräumen zwischen den Dingen, von den Momenten zwischen den Dialogen, von den kleinen Dingen, die zwischen den Leuten passieren“. Oder: „Poesie kann sehr schön sein. Aber für mich ist das weiße Papier drum herum genau so interessant“. „Zwei ästhetische Formen, die sich widersprechen, gleichzeitig zu benutzen, das inspiriert mich“. Und: „Ich halte meine Filme am ehesten für schwarze Komödien“.
Mit all dem sind wir vielleicht wirklich einer Beschreibung von Jim Jarmusch- Filmen ziemlich nahe gekommen. Aber wozu eigentlich? Jim Jarmusch-Filme muss man nicht beschreiben. Man muss sie sehen.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in filmspiegel 04/ 2007
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