Der Zauberkasten

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Amélies Vater mag es nicht, wenn beim Pinkeln jemand neben ihm steht. Amélies Goldfisch heißt Pottwal, er neigt zu Depressionen und ist suizidgefährdet, er springt immer aus dem Aquarium. Amélies Mutter steht vor Notre-Dame, da springt ihr eine Selbstmörderin auf den Kopf. So wird Amélie „Unsere Liebe Frau“. Sie findet in ihrem Bad ein altes Kästchen. Vor vierzig Jahren hat ein Junge darin die Schätze seiner Kindheit verwahrt, einen Radfahrer, Zigarettenbilder, den ganzen herrlichen Krimskrams. Amélie findet den Mann und trägt Sorge, dass er seine Schatztruhe erhält wie ein Wunder vom Himmel.

Und weil er, als er das Wunder schaut, sein Glück zu würdigen weiß, beschließt Amélie noch mehr Wunder zu wirken. Sie schickt den Gartenzwerg ihres Vaters auf Weltreise, bis dieser selbst zu reisen beginnt, sie schickt der Nachbarin einen Brief ihres toten Mannes, dass die Witwe ihre Erinnerung wieder lieben kann, und sie schickt der hypochondrischen Kollegin an der Tabakkasse im Bistro und einem frustrierten Dauergast so lang Nachrichten, bis die beiden in den hinteren Gemächern das Haus zum Beben bringen. Und weil das alles mit einer kleinen Zauberkiste begann, verwandelt Jean-Pierre Jeunet gleich seinen ganzen Film in eine wundersame Zauberkiste. In dieser Kiste findet sich alles, was des Zuschauers Herz begehren mag, nur eine Seele ist nicht darunter. Aber weil sie von allem übrigen im überreichen Maß enthält, lauter wundersame, schöne und skurrile Dinge, fällt das beinahe nicht auf.

Dieser Film wurde in Frankreich so etwas wie ein nationaler Erfolg und in Deutschland so etwas wie ein intellektueller Glaubenskrieg. Es gibt drei Sätze über diesen Film: „Das ist ein sehr schöner Film“, ist der erste. „Es ist aber kein sehr wichtiger Film“, der zweite. Und der dritte Satz heißt: „Weil er so schön ist, ist es nicht so wichtig, dass er nicht auch noch wichtig ist.“

 

Das Kino, heißt es, erschaffe die Welt. Und der Regisseur dieses Filmes versteht sich als der Schöpfer dieser Welt: Und er sah, dass es gut war. So betrachtet er die Vöglein unter dem Himmel mit der gleichen Milde wie die Arbeiter im Weinberg des Herrn, und allen misst er den gleichen Lohn zu, das Glück. Und er, nur er, kennt die Gleichzeitigkeiten des Lebens, all seine Verrücktheiten. Und sendet, milde gestimmt, den Engel Amélie in die Welt. Natürlich hat Die fabelhafte Welt der Amélie mit der wirklichen Welt der Menschen nicht so sehr viel zu tun, das ist eine Welt ohne Geschichte, aber da sie es auch nicht behauptet, ist es auch kein Problem. Ein bekennender Märchenerzähler war das Kino schon immer und soll es auch sein dürfen. Zumal, so überwältigend wurde schon lang kein Märchen erzählt. Nicht für die Seele, aber für das Auge doch.

 

Denn der Zauberkasten von Jean-Pierre Jeunet (Delikatessen) muss einen doppelten Boden besitzen, so unerschöpflich strömen die Einfälle, die Effekte, so etwas hat man lang nicht gesehen im Kino. Das ist überwältigend, das ist in der Tat eine Art von Glück, ein Kino-Glück, ein Kintopp-Glück vielleicht, will sagen: ein auch etwas unwirkliches Glück. Denn mehr als seine Geschichte zeigt der Film seine Effekte und er erweckt den Eindruck, als habe er eher die Geschichte gesucht für seine Einfälle als umgekehrt. Jeunet ist zu sehr auf die Überwältigung der Sinne aus, als dass er auch die Seele zu überwältigen vermöchte, denn die Seele, was immer das sein mag, wird von Substanz mehr berührt als vom Effekt. Und eine wirkliche Substanz besitzt dieser Film nicht, seine Substanz ist seine Form. Doch da diese tatsächlich überwältigend ist, sollte ihn gesehen haben, wer sehen will, was das Kino alles vermag und wie schön das sein kann.

 

Nino arbeitet manchmal als Tod in der Geisterbahn und manchmal als Verkäufer im Sexshop und er sammelt zerrissene Fotos, die Menschen vor einem Fotoautomaten zerreißen und wegwerfen. Er wird das Glück, das Amélie sich selbst stiftet und sie inszeniert eine wunderschöne Schnitzeljagd durch Paris, bis Nino sie findet. Diese Liebe ist, wie der Film, eine Konstruktion und sie lebt, wie der Film, wohl eher von ihrer skurrilen Form. Da beginnen vier Passfotos des gleichen Mannes zu reden, da knipst ein alter Mann nachts die Blumen seiner Frau, weil er früher Schaffner bei der Metro war, da kopiert ein alter Mann seit zwanzig Jahren „Das Frühstück der Ruderer“. Das ist so wirklich, wie Jaques, der Lebenskünstler, und so sympathisch auch. Und hat mit Audrey Tautou eine sehr gute, sehr französische Hauptdarstellerin, so heilig, so frech.

 

Die heitere Zauberkiste von Jean-Pierre Jeunet ist sehenswerter als die ernsten Beziehungskisten vieler seiner Kollegen. Unbedingt anschauen.

 

Autor: Henryk Goldberg

Text: veröffentlicht in FILMSPIEGEL

Bild: Universal