Von BONNIE AND CLYDE bis heute oder: Wie aus einem Archetyp ein Schauspieler wurde

l.

Charlie Brown ist ein rundköpfiger amerikanischer Junge, dem alles schief geht. Er bemüht sich wirklich nach Kräften, ein guter Amerikaner zu sein, aber sein Baseball-Team gewinnt nie, und das nicht nur, weil ein amerikanischer Beagle-Hund als Fänger nicht eben erste Wahl ist; er schreibt Valentine-Karten, bis er einen Schreibkrampf hat, aber er selber bekommt nicht eine einzige; er erklärt den Nachbarskindern enthusiastisch die amerikanischen Werte von Freiheit, Demokratie und Nachbarschaft, aber er ist, scheint’s, der einzige, der sie wörtlich nimmt und daran scheitert. Er möchte so gerne beliebt sein und ist doch vor allem allein. Charlie Brown ist ein amerikanischer Junge, der Amerika über alles liebt und ganz heroisch all das Schlechte einer ziemlich gnadenlosen Gesellschaft auf sich nimmt, auch wenn er selber das Opfer ist, um einen Traum aufrechtzuerhalten. Denn dieser Traum ist alles was er hat; sein Alltagsleben ist eine einzige Abfolge von Katastrophen. Charlie Brown ist aber zugleich auch ein sechzig Jahre alter Mann, der das Schlimmste fast schon hinter sich hat und dessen Traum von Amerika schon Erinnerung ist. Die Inseln der Hoffnung werden immer seltener im Meer der Resignation. Auf jeden Ausbruch lachender Hoffnung ist nur eine noch härtere Enttäuschung gefolgt.

Was geschah zwischen diesen beiden Seelenzuständen des rundköpfigen kleinen Amerikaners? War Charlie Brown jemals erwachsen? Hat er je das rothaarige Mädchen von gegenüber zum Essen ausgeführt (oder haben die beiden gar geheiratet und Kinder bekommen)? Hat er versucht, es in einem Job zu etwas zu bringen oder sogar so etwas wie Karriere zu machen? Hat er Pillen gegen Haarausfall, Potenzschwierigkeiten, Depressionen oder chronischen Schnupfen geschluckt, hat er seinen Kummer gelegentlich in mehr als einem doppelten Four-Roses ohne Eis ertränkt?

Aber gewiss. Jetzt trägt er scheußliche Krawatten, einen sinnlosen Hut, mampft gestresst Hamburger oder Hot Dogs in sich hinein, hat in Vietnam für etwas gekämpft, was er noch weniger verstanden hat als Baseball, benutzt four-letter-words, und sein Metier ist die Gewalt. Denn je mehr ihm sein Traum von Amerika entschwunden ist, desto mehr glaubt er ihn mit allen Mitteln verteidigen zu müssen; je weniger Amerika ihn schützen kann, desto mehr glaubt er, Amerika schützen zu müssen. Als Soldat, als Polizist, als Detektiv, als CIA-Mann will er „sein“ Amerika erhalten, und das geht genauso schief wie alles andere zuvor. Die Gewalt macht Charlie Brown, der jetzt „Popeye“ Doyle, Roy Tucker oder Harry Mosebee heißt und von Gene Hackman dargestellt wird, weder Spaß noch bringt sie ihm etwas ein. Sie bricht aus ihm mit einer entsetzlichen Verzweiflung heraus. Leute wie Clint Eastwood oder Charles Bronson werden immer ruhiger, je mehr Gewalt sie anwenden; sie finden ihren Frieden in der Gewalt. Gene Hackman nicht, er wird immer fahriger, immer desorientierter; die Ruhe weg haben nur seine Gegner, die so verdammt arrogant sind, maßgeschneiderte Anzüge tragen und in piekfeinen Restaurants speisen. Oh ja, dieser Gene Hackman ist ein amerikanischer patriotischer Prolet, schon auf der High School hat er vor allem nur dies gelernt: Überleben. Immer ist er hereingelegt worden, nie hat irgendeiner seine Versprechungen ihm gegenüber wahrgemacht. Irgendwann muss er zurückschlagen. Er hat seinen Stolz, und ein Amerika aus Pappbechern, Fast Food, Straßenlärm und Hawaiihemden. Was ist so falsch daran?

Alles was Charlie Brown/Gene Hackman geblieben ist, ist seine Hartnäckigkeit. Er weiß, Selbstmord ist noch unamerikanischer als Aufgeben. Beides kommt nicht in Frage.

2.

Eugene Hackman, 1930 in San Bernardino, Kalifornien geboren, war eigentlich für eine Zeitungskarriere prädestiniert (und als toughen Reporter kann man ihn sich ja nur zu gut vorstellen); Großvater und Vater waren Zeitungsleute gewesen, und auch Gene besuchte später eine Journalistenschule. Aber mit 16 Jahren verpflichtete er sich für drei Jahre bei den Marines. Weil er sich bei einem Motorradunfall beide Beine gebrochen hatte, arbeitete er in Taiwan als Discjockey bei einem Army-Sender. Hier erkannte Gene Hackman den Ausweg aus einer nicht eben erfolgversprechenden Situation: Nur dort, wo er so etwas wie ein Star war, ließ man ihn gewähren, konnte er vergessen, daß sich die Träume seiner Familie und seine eigenen nicht erfüllten. Aber bis zu einer Karriere im Show-Business war der Weg noch weit. Zurück in den USA arbeitete er als Türsteher, Kellner, Lastwagenfahrer, Damenschuhverkäufer und Möbelträger – sieben harte Jahre amerikanisches Durchschnittsleben, die Gene Hackman Gelegenheit gaben, die unzähligen Charlie Browns und Popeye Doyles zu studieren (und teilweise auch zu lieben).

Gene Hackman lernte dann das Handwerk der Bilderproduktion, indem er sich beim Fernsehen zum Aufnahmeleiter, schließlich gar zum Regisseur hinaufarbeitete. Dann nahm er Schauspielunterricht am Pasadena Playhouse; unter seinen Mitschülern war Dustin Hoffman, mit dem ihn eine lange, persönliche Freundschaft verbindet. Beide schlugen sich als Kleindarsteller auf verschiedenen Off-Broadway-Bühnen durch. Erst 1964 spielte Hackman in der Broadway-Inszenierung von „Any Wednesday“ von Muriel Resnick, und im gleichen Jahr begann, durch den kritischen Erfolg dieses Stücks begünstigt, auch seine Filmkarriere. An der Seite von Warren Beatty spielte er in LILITH (Regie: Robert Rossen), einem der in jener Zeit beliebten Psychologie-Filme. Im Fernsehen war Hackman in Serien wie „FBI“, „The Iron Horse“ und „The Invaders“ zu sehen. Drei Jahre später trat er in BONNIE AND CLYDE als glanzloser, zweifelnder, normaler Bruder von Clyde Barrow (Warren Beatty) auf, und seine Rolle brachte ihm die erste Oscar-Nominierung ein, ebenso die in seinem nächsten Film I NEVER SANG FOR MY FATHER (Regie: Gilbert Cates). Hackman spielt hier einen Mann, der genau so alt ist wie er selber: vierzig Jahre, und der immer noch verzweifelt versucht, seinem Vater (Melvyn Douglas) einen Sohn vorzuspielen. Hier erfindet Charlie noch einmal seinen Vater, so wie er ein „gutes Amerika“ erfunden hat, weil er vor nichts so sehr Angst hat wie vor der Einsamkeit. Aber der schmerzhafte Schritt zum Erwachsen-werden muß ja doch getan werden, und für Hackman ist aus dieser gewiß nicht von autobiografischen Bezügen freien Rolle (das ist nicht „wörtlich“ zu nehmen), die zugleich im sensitiven Kindmann einen amerikanischen Archetyp gestaltete, der Weg frei für den Leinwand-Star Hackman. Er kommt also als erwachsener Mann in den Kreis der Großen; das ist nicht leicht, denn die Rollen für erwachsene Männer muß in diesen siebziger Jahren der amerikanische Film erst finden.

Hackman nennt sich selbst einen „Instinktschauspieler“. Das Schlüsselwort in der Beschreibung seiner Arbeit ist „Hingabe“: „Die Show machen“ heißt für ihn, als Person in der Rolle verschwinden. „Ich verstehe nichts von Politik, aber ich weiß genau, was ich nicht mag daran“, begründete er seinen (dann doch nicht realisierten) Entschluss, so etwas wie einen politischen Film in eigener Regie zu inszenieren. Da sprach aber schon Charlie Brown, und noch mehr Popeye Doyle aus ihm, jene Figur, in der Gene Hackman in den zwei Filmen FRENCH CONNECTION (Regie: William Friedkin) und FRENCH CONNECTION II (Regie: John Frankenheimer) das amerikanische Dilemma der siebziger Jahre zusammenfasste.

3.

Hackman ist der Anti-Held der Nixon-Ara, der Amerikaner vor und nach Watergate, ein Mensch, der nicht begreifen kann, was mit ihm und um ihn geschieht. Das schauspielerische Paradestück Hackmans ist ein ungläubiger, fast törichter Blick auf jemanden, der ihn bedroht oder beleidigt, und man sieht es in dieser Leere arbeiten: dass man ihn nicht verstehen will, heißt noch lange nicht, daß man auf ihm herumtrampeln kann. Daneben gibt es jenes Grinsen, das in den raren Momenten des Glücks aufscheint, dem er so gern trauen würde. Und es gibt den Zornausbruch, der ihm die Züge entgleisen lässt zu einer Fratze der Verzweiflung, als käme zugleich ein Stoßgebet aus den zusammengebissenen Zähnen, ein Schrei nach Erlösung. Wenn er besiegt ist, wenn man ihn, wie in FRENCH CONNECTION II etwa unter Drogen gesetzt hat, dann ist Gene Hackman wieder ganz das rundköpfige Kind. Seine Fähigkeit, beim Zuschauer Mitleid zu erregen, ist dann fast grenzenlos.

Neben dem „schmutzigen“ Cop ist Gene Hackmans beste Rolle ein Privatdetektiv, der alles falsch macht, immer zu spät kommt und nur durch seine Sturheit noch weiter kommt als jene Vertreter der Gesellschaft, die keine schlafenden Hunde wecken wollen. Er ist ein Elefant im Porzellanladen, und er weiß es; auf der Suche nach der Wahrheit seines Traumes gerät er in den Strudel permanenter Selbstzerstörung; ein Amerikaner der Depression, 1935 wie 1980. Wenn es wahr ist, was Wolfgang Limmer über gute Privatdetektive schrieb, dass sich die gelösten Fälle als Narben ihrer Seele abzählen lassen, so ist der Hackman-Detektiv wohl der vernarbteste. Er kann auch sein Privatleben nicht mehr schützen; er muss sein Mobiliar zerstören, wie in Coppolas THE CONVERSATION, seine Ehe natürlich, wie in Arthur Penns so schmählich unterschätztem NIGHT MOVES. Jeder Fall, bis hin zu TARGETS wird über kurz oder lang sein eigener: Hackman findet auf der Suche nach Tätern und Opfern immer nur heraus, daß auch er selber Täter und Opfer ist. Und seine größte Furcht, wie er sie eindringlich in THE DOMINO PRINCIPLE (Regie: Stanley Kramer) formuliert (und wieder tritt da etwas Tieferes hinter der Rolle hervor): die Furcht vor dem Alleinsein, erfüllt sich immer. So wie er am Schluß von THE CONVERSATION in seinem zerstörten Appartement Saxophon spielt, wie er in THE DOMINO PRINCIPLE vor dem Zielfernrohr eines Scharfschützen über den Strand stapft, das sind Jahrzehntbilder der Einsamkeit, die erst die durch und durch maskierte Gesellschaft der Reagan-Ara verwarf.

In NIGHT MOVES gibt es eine bezeichnende Konstellation. Gene Hackman, der hier Harry Mosebee heißt, hat eine Frau, die Filme von Eric Rohmer liebt. Er sagt, das wäre so, wie wenn man Farbe beim Trocknen zusieht. Als er sie dann einmal vom Kino abholen will, sieht er sie mit einem anderen Mann, und er verfolgt die beiden, und so ist es schon wieder sein eigener Fall, den er vergeblich zu lösen sucht. Aber auch sein anderer Fall hat mit dem Kino zu tun: er muß die Tochter eines Hollywoodstarlets finden, die zu ihrem Stiefvater, einem früheren Filmproduzenten, nach Florida geflohen ist. Und dieser Harry verliebt sich in dessen Frau, weil er eigentlich kein Schnüffler mehr sein möchte. Irgendetwas, nicht wahr, müsste doch verlässlich sein. Keine Chance!

Hier wird deutlich, dass sich der Gene Hackman-Charakter nicht nur im Leben, sondern auch in den Bildern, in seiner Kultur rettungslos verheddert hat. Harry Mosebee antwortet bei einer Fernsehübertragung eines Footballspiels auf die Frage seiner Frau nach dem Sieger, daß es keinen Sieger gebe. Die einen verlieren nur langsamer als die anderen. Daß er langsamer verlieren will als die anderen, ohne an einen Sieg und damit an einen Frieden zu glauben, macht diese Tuckers und Mosebees und Doyles gefährlich. So wie er glaubt, mit amerikanischen Geschmacklosigkeiten und amerikanischem Lebensstil gleich auch amerikanische Moral zu vertreten, die immer eine Moral der kleinen Leute ist, so glaubt er auch, daß die Gewalt noch etwas Ordnung bringen kann. Auch er muß einen Gefangenen aus Vietnam herausholen, in UNCOMMON VALOR (Regie: Ted Kotcheff), und auch da muß er sich wieder einmal durch den Sumpf von Bürokratie und Korruption kämpfen, aber mit diesem Gesicht ist ein ideologischer Gewinn dabei kaum zu ertrotzen. Charlie Brown bringt seinen Sohn nach Hause, und dort wird alles wieder sein wie es früher war.

Eigentlich unerträglich.

4.

So „wichtig“ wie als Popeye Doyle in allen seinen Varianten und Nachläufern war Gene Hackman nach dem Ende der Ara Nixon (die mit Nixons Rücktritt noch nicht zu Ende war) nicht mehr. Aus einem Archetyp wurde ein Schauspieler, der sich ironisch zitieren konnte wie in den SUPERMAN-Filmen als ewiger Feind des Stählernen, Lex Luthor, und der seinen schießenden Amerikaner, der mehr tun muss als er begreifen kann, nun eher psychologisch untersuchte, wie in TARGETS.

Wichtiger wird nun ein anderer Aspekt des Erwachsenenseins, wenn alle Gewalt sich als sinnlos erwiesen hat und auf ihn zurückfallen muß: die Liebe. Charlie Brown/Gene Hackman hat die Frauen ja nicht nur verehrt, aus einer selbstzweifelnden Distanz, er hat sie auch um so vieles mehr respektiert als alle seine heroischen Kollegen. Vieles ist ihm schiefgegangen, aber er will nicht so einfach die Schuld den anderen zuschieben; so wie er vorher gekämpft hat um seinen Traum, um seine Moral, so kämpft er nun um die Achtung, um die Liebe einer Frau oder eines Kindes. Überrascht scheint er zur Kenntnis zu nehmen, daß er dazu vielleicht viel begabter ist als dafür, andere Menschen in welchem Namen auch immer umzubringen. Er holt nun eine Zärtlichkeit aus sich heraus, die lange nur in kleinen, missglückten Impulsen zu spüren war. So musste ihn der Weg früher oder später zu Woody Allen führen. Hier ist er ein Mann, der über Gefühle nachzudenken gelernt hat. Das macht aus einem Verlierer noch keinen Gewinner, nicht einmal einen, der seinen inneren Frieden machen könnte. Aber haben wir nicht schon immer geahnt, daß ein wundervoller Liebhaber und Ehemann in Charlie Brown verborgen ist?

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 5/89