Jean-Michel Leibowitz stammt aus einer jüdischen Familie, der die Religion nicht viel bedeutet und er stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Dennoch hat er es auf eine der französischen Elitehochschulen geschafft. Einige Bücher machen ihn bekannt als geistreichen Linken, er wird Professor und seine linken Überzeugungen schmelzen dahin. Am Ende gilt er als ministrabel.
Dominique Rossi stammt aus einer angesehenen Familie auf Korsika. Auch er besucht eine der Pariser Grandes Ecoles, engagiert sich im Klassenkampf, in den 80er Jahren gründet er eine Schwulenorganisation, als Redakteur der Tageszeitung „Libération“ genießt er ein gewisses Renommée.
Und dann gibt es da noch Willie, eigentlich William Miller, er kommt aus Amiens. 1970 geboren ist er um einiges jünger als die beiden anderen. Er stammt ebenfalls aus einer bescheidenen jüdischen Familie. Er schafft gerade das Abi, beginnt ein wenig zu studieren und landet schließlich 1989 am Gare du Nord – ohne Arbeit, ohne Geld.
Bleibt die Porträtistin: Elisabeth Levallois, eine junge attraktive Journalistin, Geliebte von Jean-Michel Leibowitz, Freundin von Willie und Kollegin von Dominique Rossi. Sie erzählt die Geschichte der drei Männer, in der sie unweigerlich selbst vorkommt. Dominique und Willie sind homosexuell und fünf wilde Jahre lang sind sie ein Paar. Doch dann trennen sie sich nicht einfach, sondern ihre Trennung erzeugt eine Art Schisma in der französischen Schwulenbewegung. In den 80er Jahre beginnt Aids zu wüten, und Dominique Rossi gehört zu denen, die sich vehement für Prävention und Präservative engagieren. Während Willie darin das Ende der schwulen Anarchie, die Zerstörung der homosexuellen Identität und den Verlust der subversiven Kraft sieht. Willie ist kein Intellektueller, sondern ein Nonkonformist aus Mangel an Normen. Ziemlich durchgeknallt, beherrscht er einen Moment lang die Szene der enragés, der Wilden, der ganz Authentischen. „Jemand, der wie Willie die Welt der Ideen und Debatten betritt, ohne von jemanden herzukommen, hat einen kurzen Moment lang das Privileg, genial und originell zu erscheinen, dann aber läuft die lange Welle der Gewohnheiten über ihn hinweg, und er wird zu einem Idioten, einem Eindringling – der wieder dahin zurück verfrachtet wird, wo er herkommt, auch wenn er dort gar nicht mehr hingehört.“
Doch auch zwischen den beiden klassischen Intellektuellen Jean Michel und Dominique verschärfen sich die Spannungen. Leibowitz verträgt immer weniger die Furien des Hedonismus. Insbesondere der Lebensstil der Gays widert ihn an, als Muster, das allmählich die Gesellschaft durchdringt. Er besinnt sich auf das verschüttete Judentum seiner Familie und bastelt an einer Art „Thora light“: nicht richtig orthodox, aber ein bisschen spirituelle Zucht, ein Gesetzbuch mit Luft. Und auch die Zerstörung seiner Freundschaft mit Dominique wird als Drama auf der großen Bühne der Ideen aufgeführt.
Dem deutschen Leser mag dies alles sehr romanesk erscheinen, der französische Leser wird sogleich alle rhetorischen Requisiten und Charaktere des französischen Geistesleben während der letzten 30 Jahre erkennen. Allerdings hat Tristan Garcia keinen Schlüsselroman geschrieben, wir erkennen also nicht hinter Jean-Michel Leibowitz Bernard-Henri Lévy und auch nicht André Glucksmann, Alain Finkielkraut, Pascal Bruckner oder Michel Houellebecq. Die drei Helden sind reine Laborzüchtungen, gemacht aus dem Stoff der Feuilletonhelden der letzten Jahrzehnte. Sie verkörpern aufs erschreckend Genaueste den Niedergang der französischen Intelligentsija.
Wenn man bedenkt, dass ein Kashmirbengel aus der Vorstandsetage der Bundesbank deutsche Identitätsdebatten anstiftet und dabei als der große Unangepasste auftritt, wenn man sich an schauerlich dumme Texte von Martin Walser erinnert, die monatelang die Geistesgemüter erhitzten, dann könnte die Einfalt, die Einfallslosigkeit und Eitelkeit unserer Öffentlichkeitsdenker durchaus auch ein deutsches Thema sein. Doch es gibt einen gravierenden dramaturgischen Umstand, der die französische Szene so einzigartig macht: Die Einheit des Orts. In gewisser Weise findet das französische Geistesleben auf 3 Quadratkilometern im Herzen von Paris statt, da kennt jeder jeden, organisiert seine Hausmacht, bringt seinen Verlag in Stellung oder dreht seine Zeitschrift in die gewünschte Schussrichtung. Und vor allem: hier sitzen alle TV-Sender.
Kein Wunder, dass dieser Roman wie eine Bombe eingeschlagen ist: Da demontiert ein 29-jähriger Autor aus der Provinz das Geschwätz und die Politik des Geschwätzes der so genannten nouveaux philosophes, an denen von Anfang an nur eines neu war: der Lärm und die fast schon durchtriebene Schlauheit ihrer Inszenierungen. Garcia unterrichtet Philosophie in Amiens, hat aber in Paris die Normale École Normale Supérieure durchlaufen, eine jener Elitekaderschmieden, in der die Intellektuellen seit Jahrzehnten gebacken werden.
Vor einiger Zeit hat das „Time Magazin“ den Abstieg der Republik des Geistes in die Bedeutungslosigkeit konstatiert. Wer wissen will, wie das möglich war, der sollte Tristan Garcias Roman lesen. Der taugt aber durchaus als Zustandsbericht über die Verwahrlosung intellektueller Milieus über die französischen Zustände hinaus. Insofern ist eine gewisse Ähnlichkeit mit lebenden deutschen Geistesriesen schier unvermeidlich.
Text: Walter van Rossum
Der beste Teil der Menschen (Tristan Garcia)
Roman. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg.
Frankfurter Verlagsanstalt. Ffm 2010. 319 S. 19,90€
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