„Sein Blick ist vom Vorüberziehen der Stäbe so müde geworden, dass er nichts mehr hält“, gerne zitierte Kanzler Schröder „Der Panther“ von Rilke. Einst rüttelte er heftig von außen an den Gitterstäben des Kanzleramts, dann von innen. So soll es aussehen: Der Kanzler, die Kanzlerin, der Präsident und die Minister – allesamt Gefangene der komplexen und unvorhersehbaren Wege der Macht…. Fast könnte man Mitleid bekommen. Da schreibt man glitzernde Wahlprogramme: Weniger Steuern, mehr Arbeit, Leistung soll sich lohnen, und dann kommt die Finanzkrise und frisst alle Pläne und ein paar Hundert Milliarden offenbar heimlicher Reserven. Man berappelt sich, neue Wahlprogramme: mehr Bildung, mehr für Familien. Schwupps bricht Griechenland zusammen, man rettet mal schnell die bösen Ururururenkel der europäischen Wiege, dann wackelt Irland und Portugal und Spanien wanken am Horizont, also muss jetzt der Euro insgesamt unter den Rettungsfallschirm, der allerdings auch mal so ne knappe Billion kostet. Wieder nix mit Familie und Bildung. Und als ob das nicht genug wäre, taucht schließlich noch eine ganz neue Spezies auf: der Wutbürger, einst die schweigende Säule der Palaverdemokratie, jetzt lässt er in Stuttgart Deutschlands Schnellzüge in die Zukunft entgleisen. Und dann ständig diese Landtagswahlen! Letztes Jahr durfte das drastische Sparpaket erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen verkündet werden. Und wie soll das erst in diesem Jahr werden? Sieben Landtagswahlen! Kein Wunder, dass unsere politischen Panther sich im Kreise drehen, nicht wahr? „Sein Schritt ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht“.
Es ist schon sonderbar: Pausenlos besingen unsere Politiker die Wonnen der Freiheit, dichten Hymnen der Deregulierung, und sind doch niemals frei. Aus dem Geist der Sachzwänge ist man dann allerdings zu großen Taten fähig. Im Handumdrehen werden Hunderte von Milliarden zur Rettung angeblicher systemnotwendiger Banken von den Bäumen geschüttelt. Und – fast schon vergessen – die rot-grüne Regierung sowie die nachfolgende große Koalition hatten immerhin gewaltige Spielräume, das Land in eine neoliberale Wüste von einstmals unvorstellbaren Ausmaßen umzuprogrammieren. Musste natürlich alles sein. Sie wissen schon: Globalisierung, demographische Entwicklung, ausufernder Sozialstaat usw.
Da könnte ein notorisch boshafter Zeitgenosse glatt auf die Idee kommen: Prima Nummer das mit den Sachzwängen. Politiker predigen Selbstverantwortung, sind aber am Ende nie verantwortlich, weil…. Sachzwänge. Und wenn so ein fieser Zeitgenosse ins Grübeln kommt, da schwant ihm schnell noch Schlimmeres: Ist das nicht der Leitfaden der Politik der – sagen wir – letzten 15 Jahren: Deregulierung, Privatisierung, Entmächtigung der Politik? Da schafft man etwa ein gemeinsames Europa nur als Währung, ohne Verfassung und als demokratisches Kümmergebilde. Da heizt man die Finanzindustrie mit jedem nur erdenklichen politischen Mittel an, zieht die Aufsicht ab und zwingt die Bürger zur privaten Altersvorsorge auf dem Kapitalmarkt und dann wundert man sich, dass die Institute dieser Finanzindustrie systemrelevant werden. Man schafft Finanzmärkte mit unvorstellbarem, doch mit Sicherheit komplett unseriösem Kapitalvolumen und wundert sich dann, dass die so genannten „Märkte“ die Politik, nein, ganze Staaten vergnügt vor sich her treiben. Ach ja, und dann die Landtagswahlen. Wer hat eigentlich dafür gesorgt, dass Landtagswahlen keine Landtagswahlen mehr sind, sondern so etwa wie lokale Bundestagswahl geworden sind. Seit Monaten heizt der Spiegel ein, worum es bei der Wahl in Baden-Württemberg geht – um Westerwelle: „Am Donnerstag redet er beim Dreikönigstreffen der FDP. Reden kann er. Vielleicht verschafft er sich Luft bis zu den Landtagswahlen im Frühjahr. Wenn es dann gut läuft, kann er womöglich Parteivorsitzender und Außenminister bleiben.“ Wenn Westerwelle wankt, dann wankt auch Merkel. Und schon hat unser Qualitätsjournalismus wieder ein schaurigschönes neues Kapitel aus der deutschen Fassung von Denver-Clan geschrieben. Dabei hätten die Wahlen in Baden-Württemberg ja ein wahrhaft regionales Thema: den Bahnhof, an dem die Republik gerade ihr 1789 nachholt. Doch nein: Hier geht es um mehr, nicht nur um Westerwelle, hier geht es ums Ganze, wie etwa Renate Künast nicht müde wird zu betonen: „Bei diesen Landtagswahlen werden wir aber auch darum kämpfen, wer eigentlich die Lösung für die Zukunft hat und wer das strategische Zentrum ist. So selbstbewusst sind wir.“ So selbstbewusst und so selbstvergessen: Ausgerechnet die Grünen, die als Regierungspartei lupenreinste Basta-Politik betrieben haben, bieten sich als Sammelbewegung zur Erneuerung basisgestützter Demokratie an. Offenbar werden Politiker nie verantwortlich gemacht für ihre Taten. Doch das ist natürlich der Vorteil einer Politik, die sich darauf spezialisiert hat, Sachzwänge zu organisieren, um ihre Konzeptionslosigkeit zu tarnen. Erst senkt man die Temperatur der Demokratie, dann bietet man sich als Viagra der Aufrechten an. Am Ende werden sich sicherlich jede Menge Gründe finden, warum ein grüner Ministerpräsident Stuttgart 21 vollstreckt – Sachzwänge natürlich.
Text: Walter van Rossum
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