Schiefmäulig, oder der defekte Amerikaner

„Immer, wenn ich versuche, eine Linderung meiner Schmerzen herbeizuführen, wird alles noch viel schlimmer. Das Unerträgliche gibt es ja eigentlich nicht“, sagte er, „denn das Unerträgliche müßte der Tod sein, der Tod aber ist nicht unerträglich. Verstehen Sie.“ Thomas Bernhard: Frost

I

Richard Widmark ist mit einem Mal da. Er entsteht nicht über viele Nebenrollen, hat im Film nichts ausprobiert und fallengelassen. Er tritt 1948 in KISS OF DEATH als der sadistische Gangster Tommy Udo mit dem neurotischen Kichern auf, und von da ab ist das amerikanische Kino nicht mehr, was es einmal war. Plötzlich erscheinen die Bogart, Cagney, Robinson, Raft wie Gestalten aus einem dunklen Märchen. Widmark ist blutig graue Wirklichkeit. Gewiß hat sein Auftreten einen guten Grund, es ist die einzige Entschuldigung für Victor Matures gequältes Backpfeifengesicht. Aber ganz schnell löst sich diese Erscheinung aus dem Kontext der Story, aus dem Kontext des Films, wird mehr als ein Markenzeichen für einen Genre-Darsteller, wird größer und größer und ist eine Aussage, eine Aussage über Amerika. Selbst Dan Duryea, ein vollendet neurotischer Schurke in allen Gewichtsklassen, kann da nicht mithalten. Er ist von dem Bösen, das Amerika bedroht. Richard Widmark aber ist das Böse und Kaputte an Amerika selbst. Er tritt als Deformierter an, und jede Deformation, die er als Gewalt zurückgibt, ist eine Anklage gegen die amerikanische Gesellschaft und die amerikanische Geschichte: eine Theorie über sexuelle Ökonomie, ideologische Widersprüche und die Gleichung von Geld und Macht in Form eines Gesichtes, das man nicht loswerden kann. Und er ist obendrein so intelligent, daß er das weiß und daß er darunter leidet. Jack Nicholsons „Joker“ in BATMAN ist nichts als ein armseliger Versuch, den kichernden Gangster in den wenigen, kräftigen Farben des postmodernen Karnevals-Designs zu reproduzieren. Aber Richard Widmark war nie beliebig. Keine Sekunde.

Schiefmäulig, als wolle die eine Hälfte des Gesichtes etwas anderes sagen als die andere oder als wolle dieses Grinsen seinem zufälligen Besitzer heimlich entkommen, gab er der Welt zurück, was sie ihm angetan hatte: ein Einsamer, der das Leben nur im Schmerz erfahren kann, im eigenen, vor allem aber im Schmerz der anderen. In diesem Gesicht gibt es keinen Platz für Wehleidigkeit; es spricht statt dessen von der interessierten Neugier eines Menschen, der die Regeln durchschaut hat, der den Preis für die Autonomie kennt. Es gibt in diesem Gesicht auch keinen Platz für das Fleisch, jene unentschlossene Materie zwischen dem Innen und Außen, die so viele Möglichkeiten zwischen Verwundung und Tod zulässt; Widmarks Gesicht ist ein notdürftig von Haut geschützter Schädel. Und wenn schon ein Gesicht das Leben so pur und wörtlich nimmt, wie erst der ganze Mann, der keine Pose, keine entspannte Geste zur Ruhe in sich selbst, für die anderen oder vor ihnen kennt. Es hat keinen Sinn, diesen Körper in Ruhe zu zeigen, so wie den von Henry Fonda etwa, er spricht in Form von Bewegungen, die immer Bedrohungen sind. Und Müdigkeit: Richard Widmark ist einer dieser Menschen der fünfziger Jahre, die immer zu wenig Schlaf bekommen.

Alle Welt weiß, daß die Worte Worte sind und das Leben das Leben ist. Nur Richard Widmark nimmt beides gleich genau: „Dies ist ein freies Land“, sagt er in John Sturges‘ THE LAW AND JAKE WADE. „Hier kannst du erschießen, wen du willst.“ Das ist das eine Ende des amerikanischen Traums. Ein anderes ist, daß so ein Mann „irgendwie“ ein Indianer ist (wie in THE LAST WAGON), ein Vor-Amerikaner, der, wie wir wissen, die Worte noch beim Ding genommen hat.

Welch ein Schauspieler war das? „Ja, Widmark ist ein ausgezeichneter Schauspieler, weil er denkt“, hat Delmer Daves gesagt, mit dem er 1956 THE LAST WAGON drehte. Im selben Jahr geriet er bei John Sturges‘ BACKLASH mit dem Drehbuchautor Borden Chase aneinander. Da soll er, als Mann, der seinen eigenen Vater als Mörder jagt, zu seinem Gegenüber sagen, er habe keine Seele. Widmark weigerte sich standhaft, den Dialogsatz zu sprechen: „Ich kann dieses Wort nicht verstehen!“, und wenn man Chases Erinnerungen glauben darf, herrschte er daraufhin den Schauspieler an: „Wenn Sie das nicht verstehen, tut es mir leid für Sie, denn dann werden Sie niemals ein Schauspieler sein. Niemals werden Sie ein Schauspieler sein, solange Sie nicht verstehen, was Seele bedeutet!“ Richard Widmark ist gleichsam ein semantischer Schauspieler, einer der immer bedeutet, an dieser Bedeutung gearbeitet hat und nie etwas tat, was keine Bedeutung hatte. So ist er in gewissem Sinne ein Gegenentwurf zum amerikanischen Star, der sich auf seine natürliche Präsenz verlassen kann. Die neurotischen Gangster sind von Widmark als Bilder angelegt, ebenso wie seine desillusionierten oder zynischen Westerner, die sich nahezu zwanghaft aus der Begegnung eines Mythos mit Intelligenz ergeben. Er selbst ist, jedenfalls soweit es uns angeht, weder neurotisch noch desillusioniert; das autobiografische Element in seinem Spiel beschränkt sich auf die Intelligenz.

Richard Widmark hat nur sehr selten in Komödien gespielt, und wenn, dann wie in Gene Kellys TUNNEL OF LOVE, wo er andauernd dreinsieht, als sei er am falschesten aller Orte. Das ist beinahe das Komischste an diesem Doris Day/Tom Ewell-Vehikel. Ansonsten blieb diese Welt Widmark fremd. Seine Karriere kann beschrieben werden als eine lange Reise vom kichernden Gangster der Großstadt zum Patrioten, der für eine widerwillig, aber dann mit vollem Einsatz angenommene Sache die Elemente, Feuer (RED SKIES OF MONTANA), Wasser (DOWN TO THE SEA IN SHIPS), Erde (DESTINATION GOBI) und Luft (SLATTERY’S HURRICANE) bezwingt. Der „gefährliche“ Charakter von Richard Widmark ist am besten aufgehoben in einer Uniform (und tatsächlich hat Richard Widmark häufiger Soldaten gespielt als Gangster, Polizisten oder Westerner), aber auch in einer militärischen Kultur bleibt er widersprüchlich; als „loner“ ist er ein skeptischer Soldat, der seinem Apparat Schwierigkeiten bereitet, die falsche Moral durchschaut, sich aus Beliebtheit nichts macht und dann doch immer wieder und gegen alle Voraussagen die richtigen Maßnahmen durchführt. Richard Widmark ist der richtige Mann, die Amerikaner an die Notwendigkeit unbequemer Entscheidungen zu erinnern. Widmark ist kein „rechter“ Held wie John Wayne, der tut, was getan werden muß, aber auch kein „linker“ Held wie Henry Fonda, dessen Kraft aus dem Volk kommt; für Richard Widmark geht es immer um Entscheidungen, die er allein treffen muß; jeden Augenblick könnte alles ganz anders werden durch eine Fehleinschätzung der Situation. Die sadistische Neugier aus den frühen Gangster-Rollen ist, wo Widmark zum „Guten“ geworden ist, einer angespannten Moral für eine Welt gewichen, die nur aus Jägern und Gejagten besteht. Wie schwierig solche Entscheidungen sind, sieht man daran, dass selbst dieses fleischlose Gesicht sich in endlose Falten legen kann.

II

Ein amerikanisches Leben (in dem schon Namen mehr Seele hätten, als sich ein Drehbuchautor vorstellen kann, wenn’s denn wichtig wäre): Richard Widmark wurde als Sohn des Vertreters Carl Widmark und seiner Frau Ethel Mae am 26. Dezember 1914 in Sunrise, Minnesota geboren. Ein halbes Jahr später zog die Familie nach Sioux Falls, South Dakota, später in verschiedene kleine Städte in Illinois und Missouri. In seiner Jugend arbeitete er, wie es sich für den unteren Mittelstand gehörte, nach Schulschluss an der Soda Fountain eines Drugstore und bereitete sich auf ein Jura-Studium vor. Aber Russell Tomlinson, der Leiter der Theater-Abteilung, begeisterte ihn für die Schauspielerei. Noch zwei Jahre nach seinem Abschluß blieb er als Theaterlehrer am College, wo er unter anderem mit seiner späteren Frau Jean Hazlewood zusammenarbeitete. (Später schrieb sie neben Romanen auch einige Drehbücher, darunter zu THE SECRET WAYS [Phil Karlson], wo Widmark einen amerikanischen Abenteurer im kommunistischen Ungarn spielt.) 1938 übersiedelten die beiden nach New York, wo Widmark in zunächst kleinen Rollen in Radio-Soap-Operas auftrat. Schon in den zahllosen Radio-Serien, in denen er arbeitete, darunter „Gangbusters“, „Manhattan at Midnight“, „The Thin Man“, „Ellery Queen“ und „The Shadow“, kultivierte er gelegentlich eine unnatürliche Falsett-Stimme und ein krankhaftes Kichern. Sein Broadway-Debüt gab Widmark 1943 in George Abbotts „Kiss and Tell“, und es folgten in den nächsten Jahren weitere Auftritte, wo er vor allem den jugendlichen Helden spielte. Für KISS OF DEATH machte er dann Probeaufnahmen für eine Rolle, die seiner Radiostimme mehr entsprach als seinen Theater-Auftritten. Im übrigen war es keineswegs der Regisseur Henry Hathaway, sondern Darryl  F. Zanuck, der dafür sorgte, dass Widmark den Part des Gangsters Tommy Udo erhielt (noch ein Indiz dafür, daß Widmarks Kreation des kichernden Gangsters sehr viel mehr war als die Erfüllung einer Story-Vorgabe). Danach trat Widmark noch einige Male im Radio, und, ein letztes Mal, auf der Bühne auf. Nach dem Erfolg von KISS OF DEATH gab man ihm bei 20th Century-Fox einen Sieben-Jahres-Vertrag, und von nun an sollte es keinen Film mehr geben, in dem Widmark nicht den Star-Status erhielt. Nach den sieben Jahren bei Twentieth Century-Fox, die ihn insbesondere in den letzten beiden Jahren nicht nur selbst überaus häufig einsetzte, sondern auch an MGM auslieh (für TAKE THE HIGH GROUND), arbeitete er frei, um nicht mehr gezwungen zu sein, uninteressante Rollen anzunehmen. Nicht dass er seinen giggelnden Neurotiker ganz vergessen würde (er hat ihn unnachahmlich und nicht ohne künstlerische List in Premingers SAINT J0AN als kindischen Dauphin wiederholt). Widmark gründete eine eigene Produktionsfirma Heath Productions und gab zu Beginn seinem Kollegen Karl Malden eine Regie-Chance in TIME LIMIT. Widmark spielt hier einen Anwalt, der einen Offizier verteidigt, den die Nordkoreaner „umdrehten“, weil sie drohten, seine Männer umzubringen. Der Fall hatte sich kurz zuvor in Wirklichkeit abgespielt, und Widmark war gleichsam die „Institution“, die das Verständnis für den „Verräter“ erzeugen musste, das ihm in Wirklichkeit versagt blieb. Mit dieser Darstellung fundierte Widmark ein drittes Rollenfach: Neben den neurotischen Gangster und den skeptischen Profi im Spiel der Menschenjagd, der sich entscheiden muß, trat die moralische Autorität, die sich gegen Konvention und Mehrheit behauptet. Wo immer er steht, der Platz von Richard Widmark ist unbequem.

III

DER GANGSTER. Sein aufsehenerregendes Debüt in KISS OF DEATH bot Widmark in einer Zeit der Krise; der Stil der „semidocumentaries“, dem Hathaway hier, zum zweiten Mal nach THE HOUSE ON 92ND STREET, folgte, war ein armes Kino; sein Realismus war der Versuch, aus einer ökonomischen Not eine Tugend zu machen, und zugleich ging es darum, Alternativen zum Film noir zu finden, der die New Yorker Banken, das patriotische Amerika und schließlich auch Hollywood selber verunsichert hatte. Aber Widmark ist auch eine Gestalt einer viel tiefergreifenden ökonomischen Krise, zugleich einer Wende: Waren in den Figuren des Films noir Gut und Böse untrennbar in der Seele des einzelnen miteinander verknüpft, so wurde nun wieder eine Trennungslinie gesucht: Gut und Böse mussten eine Sache der Entscheidung sein, und der Gangster sollte isoliert werden. Tatsächlich gibt Widmark den Gangster, der nicht mehr reformierbar ist, von dem die Gesellschaft nur terroristische Akte zu erwarten hat. Aber er macht dieser Strategie insofern einen Strich durch die Rechnung, als er die Rolle des „psychopathischen Killers“ (ein feststehendes Rollenfach in der nächsten Zeit) als amerikanisches Spiegelbild anlegt. Schon in seinem zweiten Film THE STREET WITH NO NAME nahm er das Pathologische ein wenig zurück. Seine Brutalität zeigt sich allerdings überaus heftig in der Gewalttätigkeit gegenüber seiner Frau – an die Stelle dieser Reaktion auf die Unmöglichkeit des Dialogs setzt Widmark später einen Blick, der sagt, dass ihm nun nur noch Gewalt helfen könnte, wenn Gewalt überhaupt helfen würde; in diesem Blick kehrt die Gewalt zu ihm zurück, man möchte den Schmerz in seinem Inneren fast hören. In THE ROAD HOUSE ist er eher noch wahnsinniger und sein Lachen noch schriller, aber zum ersten Mal wird hier so etwas wie eine individuelle „Erklärung“ für seine Psychose geliefert. Damit wurde der Weg frei zu einer Wandlung der Figur.

Den „bloßen“ Neurotiker spielte Richard Widmark nur noch in wenigen Filmen. In NO WAY OUT ist er ein fanatischer Rassist, und noch einmal, in der Episode „The Clarion Call“ des Filmes O. HENRY’S FULL HOUSE, spielte er den neurotischen Killer. Danach haben seine Schurken eher materialistische Grundsätze und geben sich seelisch mehr oder minder normal, ein bißchen mies, getrieben jetzt, wie in Samuel Fullers PICKUP ON SOUTH STREET, wo er als kleiner Taschendieb in eine Agentenintrige gerät. Die Rolle des Skip McCoy, des Detektivs Madigan und des kaputten Rodeo-Coach Red Dillon in WHEN LEGENDS DIE bilden so etwas wie eine Trilogie der amerikanischen Gewaltkrankheit, die zugleich Höhepunkte seiner Karriere markieren, echte RichardWidmark- das heißt Alptraumfilme. In Richard Widmark hört der Gangster auf, ein amerikanischer Volksheld zu sein, und wird materielle Wirklichkeit. Sogar ein nostalgisches Whodunit wie MURDER IN THE ORIENT EXPRESS erhält durch Widmarks Darstellung des Gangsters, der alle mörderischen Impulse auf sich zieht, einen Moment erschreckender Wirklichkeit. Und diesen Film kann man auch getrost als Aufstand von Kinofiguren gegen eine Erinnerung an die Wirklichkeit, als die Rache des Kinos an Richard Widmark deuten.

DER WESTERNER. Richard Widmark kommt nur für den „adult western“ in Frage, mit ihm ist das Problem da, das das Scheitern der Zivilisationsgeschichte der Verwandlung der Wildnis in einen Garten vorwegnimmt. So sind mit ihm einige der schönsten und einige der misslungensten ambitionierten Filme des Genres entstanden. Widmarks Auftreten im Western ist nicht weniger beängstigend als im Gangsterfilm, aber seine Figur ist hier von Anbeginn an komplexer, ein wenig, als müsse hier die historische Erklärung für den psychotischen Stadtbewohner gegeben werden, aus einer authentischen Wirtschafts- und Kriminalgeschichte des Westens, in der der Mythos allein durch den anarchischen Ausbruch der Gewalt gerettet wird. Wie in YELLOW SKY das Gold über seinen toten Körper rieselt, Blut und Tod für ein terroristisches Leben, da ist dieser ganz und gar tote Mensch ein negatives Spiegelbild des amerikanischen Archetyps, der sich opfern mag wie in GARDEN OF EvIL, der gerechte Rache genommen hat wie in THE LAST WAGON, der sich für die feigen Bewohner einer Stadt gegen die Verbrecher stellen mag, wie in WARLOCK, der vom neuen Kapital buchstäblich zu Tode gehetzt wird wie in DEATH OF A GUNFIGHTER. Er ist in diesem Genre der Verlierer, selbst als Schurke wie in BACKLASH oder THE LAW AND JAKE WADE das untergehende Alte, der aufrecht zynische, schiefmäulige Barbar, der von einem Bürgertum verdrängt wird, das seinen eigenen Lügen glaubt. Richard Widmark, das ist dreimal das Drama der Zivilisation, als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

DER JÄGER. Schon ein Jahr nach seinem Erfolg in KISS OF DEATH hat Widmark in DOWN TO THE SEA IN SHIPS seine erste durch und durch positive Rolle gespielt. Er ist der Erste Maat eines Walfangschiffes, der zum väterlichen Freund des Neffen des Kapitäns wird. Ein Freund ist Widmark sehr viel häufiger als ein Vater oder ein Liebhaber, denn da bleibt die Autonomie gewahrt. In SLATTERY’S HURRICANE ist er zum erstenmal jene „neue“ Mischung aus Gut und Böse, die in der Folgezeit für ihn bestimmend sein wird: der „Einsame“, der sich, weil er zuviel weiß, heraushalten möchte, dann aber doch gezwungen wird einzugreifen und dabei das einzig Richtige tut.

In Elia Kazans PANIC IN THE STREETS (1950) ist Widmark ein Arzt, der entdeckt, dass ein Ermordeter pestkrank war und vermutlich seinen Mörder angesteckt hat. Es ist einer der wenigen Filme, in denen Widmark ein glückliches Familienleben zugestanden wird. Aber in Filmen wie diesen verlagert sich seine „Tragödie“ ganz auf den Beruf, und auch in seinen späteren Filmen, wo er der alte Polizist oder Agent ist, zynisch, allein und unbeirrbar, stets scheiternd an den wenigen Momenten, in denen er seinen Mitmenschen nicht das Schlechteste zutraut, okkupiert sein „Beruf“ seine ganze Person. Richard Widmark hat kein „Privatleben“.

Das macht ihn anfällig für Fanatismus; Verhaltensweisen, die in einer Ausnahmesituation richtig sein mögen, versucht er als Regel zu etablieren. Doch die Neurose in seinem Wesen als „soldatischer Mann“ ist so kompliziert, daß sie gelegentlich aufgebrochen werden kann: Er ist stets zu intelligent, um ganz und gar diesem Fanatismus zu verfallen. Er ist das Böse, das von sich weiß, oder das Gute, das seiner nicht sicher sein kann.

In Filmen wie BROCK’S LAST CASE oder BLACKOUT ist er, in Fortsetzung und Variation von DEATH OF A GUNFIGHTER, ein Gesetzeshüter, der bereits außer Dienst gestellt ist und der weiter arbeitet, ein intelligenter Barbar in den Städten, dessen Zeit abgelaufen scheint. In THE DOMINO PRINCIPLE will er, zunächst ganz kalt, den „Proleten“ Gene Hackman als Marionette verwenden; er läßt Kafka sprechen, als hätte er alles hinter sich, wird dann doch vom Spieler zum Gespielten, wie immer, und stirbt. Das Alter ist für ihn weder Erlösung noch Ruhe, da man sich diesen Mann im Zustand der Ruhe auf der Leinwand nicht vorstellen kann, müssen seine Bewegungen im Gegenteil heftiger werden, wenn auch mit größerer Müdigkeit vollführt. Dieser Mann macht, was er tut, mit letzter Kraft, und sein Ziel kann nur der Tod sein; zum Schrecklichsten in seinen Polizisten-Filmen gehört die Vorstellung, was dieser Mann wohl mit sich macht, wenn der Dienst getan, die Jagd zu Ende ist.

Widmark ist Gangster und Polizist, Rassist und Humanist, anarchistischer und gesetzestreuer Westerner, Täter und Opfer, böses Kind und guter Alter. Und wir wissen: der Unterschied macht nicht viel aus. Es ist nur eine Frage der Entscheidungen, und die helfen, wie in THE DOMINO PRINCIPLE zu sehen, auch nicht mehr. Man steht mittendrin, mit diesem staunenden, entsetzten, zynischen, grausamen und trauernden Blick, und schiefmäulig, wie Richard Widmark.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in  epd Film 12/89