Das audiovisuelle Lebkuchenherz
Taugt ein Teenager-Katastrophenfilm als Instrument des energiepolitischen Einspruchs? Einige Anmerkungen über Kino, Aufklärung und Entertainment anlässlich eines Films, der es doch nur gut meint: „Die Wolke“ von Gregor Schnitzler
Jetzt, wo die Rede wieder auf die Atomkraft hinzielt, wo sich Wirtschaftsstandort und Profitraten einen Dreck um unsere Angst und um unsere Leben kümmern, da kommt ein Film, der uns die große Katastrophe vor Augen führt, doch gerade recht. Und sollten wir nicht alles, Kitsch und Konvention, Gefühl und Genre eingeschlossen, begrüßen, was Stimmung macht gegen diese neuerliche Bedrohung – insbesondere, wenn es um die Kids geht? Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Es ist, wenn mich nicht vieles täuscht, eines der wichtigsten Projekte des modernen Films, die Emotionalität, die materielle Genauigkeit und den aufklärerischen Elan zusammenzubringen, die im bewegten fotografischen Bild verborgen sein können. Das ist leicht gesagt und verteufelt schwer zu erreichen. Denn das eine widerspricht dem anderen. Wie kann ich gleichzeitig einen Menschen lieben und die Verhältnisse erkennen, in denen er lebt? Wie kann man dabei noch gleichzeitig sich selbst und den Menschen auf der Leinwand ein Bewusstsein abverlangen, wenigstens das Hinauswollen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, die uns verbindet?
Es ist, wie gesagt, schwer – oder nennen wir es einfach Kunst. Und nicht jeder, der Filme macht, muss ein Künstler sein. Aber andererseits: Wer das gar nicht erst versucht, die Zärtlichkeit, die Genauigkeit und die Aufklärung zueinander zu bringen in den Einstellungen, der oder die soll wenigstens nicht daran denken, moderne Filme zu machen. Was aber dann? Entertainment oder Propaganda.
Das Entertainment kann man sehr grob einteilen in zwei Hauptabteilungen. Hauptabteilung eins ist die Feel-good-Formel. Auf der Leinwand kommen das Schöne und das Richtige und das Erwünschte zusammen, entweder in einem allgemeinen oder im Code deiner, ja genau deiner Kultur. Die Feel-good-Movies des Mainstreams nennst du Kitsch, die Feel-good-Movies deiner Kultur sind natürlich etwas anderes. Die zweite Hauptabteilung des Entertainment sind die guilty pleasures. Das Verbotene, Sex und Gewalt, bad taste und Regressionstraum, aber irgendwie mit einem Dreh, bitte.
Propaganda gibt es auch in zwei Formen, das ist noch einfacher. Unsere Propaganda und eure Propaganda. Propaganda für das Böse oder für das Gute. Propaganda entsteht, wenn ein emotionales Plotgeflecht zur Deckung mit einem ideologischen Gerüst gebracht wird. Man identifiziert sich, um zu lernen, woran man glauben und was man hassen soll.
Die perfekte Verbindung von Entertainment und Propaganda ist das Genre. Es besteht aus einer Anzahl von Grundgeschichten, aus narrativen Bausteinen und aus einer Ikonografie: Bilder, auf die alles hinauslaufen muss. Der Show-down im Western, die endlose Straße im Road Movie oder die hysterische Massenflucht im Katastrophenfilm. Die innere Struktur eines Genrefilms folgt dem Prinzip der Feel-good-Formel, rundherum angereichert sind die guilty pleasures. So entsteht eine letztlich ziemlich bizarre Dialektik: Die ganze Welt muss untergehen im Katastrophenfilm, damit ein Paar sich finden, eine Familie geheilt werden kann. Wir verstehen: Genre, das heißt, das Böse, das wir wollen, und das Gute, das wir brauchen, endlos umeinander zu verschleifen. Was nur selten ohne Ideologie vonstatten geht.
Die Dialektik von Feel-good-Formel und guilty pleasure in den Genres macht es schwer, ein Genre zu „benutzen“, um eine aufklärerische Botschaft zu verbreiten. Mit den Tücken der Genre-Erzählung können nur gewiefte Meister in ihren Fächern, als Autoren, Regisseure oder Schauspieler, umgehen. Solides Handwerk plus gute Absicht ist definitiv nicht die Lösung.
Womit wir bei dem Film sind, dem diese Kritik zu gelten hat. Denn „Die Wolke“ von Gregor Schnitzler (Regie) und Marco Kreuzpaintner (Drehbuch) ist genau das: ehrbares Handwerk und gute Absicht. Ein Film, der Genre-Elemente „bedient“, um sein Publikum „abzuholen“. Oder: Der Teenager-Katastrophenfilm als Instrument des energiepolitischen Einspruchs.
Der Film schildert den größtmöglichen Unglücksfall in einem Reaktor im Hessischen. Das ist der Hintergrund. Davor: verzweifelte Versuche der kollektiven und individuellen Flucht vor der todbringenden radioaktiven Wolke. Davor: die Familien- und Liebesgeschichte einer Schülerin, die mit dem Tod des kleinen Bruders und dem der Mutter, der eigenen Strahlenkrankheit und der ihres Geliebten fertig werden muss. Zum schönen Ende fährt man zusammen ins Ungewisse. Geschrieben hat diese Geschichte einst Gudrun Pausewang, aber es gibt große dramaturgische Unterschiede zwischen Roman und Film. Das letzte Bild erzählt davon, dass nur die Liebe hilft, wo Katastrophe war. Danach erfahren wir, in Textform, worum es ging: um jede Menge AKWs in unserer Nähe, die ganz und gar nicht sicher sind. Wer jetzt nicht gegen Atomkraftwerke ist, der hat kein Herz.
Aber was ist mit dem Verstand? Und wohin trägt uns das nach Vorschrift blutende Herz? In der Dialektik von Feel-good-Formel und Destruktionsfantasien wird leicht zum Erzählziel, wovor so eindringlich gewarnt wird. Die Welt muss untergehen, um das Paar zu retten. So haben wir das von Hollywood gelernt und auch kritisiert, jedenfalls dort, wo sich die Sache allzu deutlich mit Bigotterie und Patriotismus auflud. Und die sinnliche Attraktion beginnt noch stets ihr mythisches Eigenleben. Dem Bild der hysterischen Massenflucht ist es schnurzegal, ob Aliens, Zombies, ein Erdbeben, die Russen oder eine radioaktive Wolke der Auslöser ist. Wir wissen nur, eine Etage tiefer im Seelenhaus, dass der Weg von der Katastrophe zur Erlösung durch das Chaos führt. Im Chaos nämlich findet sich nicht nur die Strafe, sondern auch die Wiedergeburt. Und wenn die Liebe nicht anders zu retten ist als durch eine Katastrophe, dann nichts wie her mit der Katastrophe.
Der erste Emotionstrick nämlich ist, die Charaktere so mit dem Allgemeinen und Guten zu füllen, dass man keinen Menschen, sondern einen Zustand, vermutlich am ehesten: sich selbst liebt. Und Mitleid nicht mit einem anderen Menschen mit Ecken und Abgründen, sondern mit sich selbst hat. Der olle Brecht warnte noch davor, allzu romantisch zu glotzen, im Zeitalter des Narzissmus bietet das Kino dagegen vor dem Weltuntergang ein ausgiebiges Bad in Selbstmitleid. Die Personen auf der Leinwand sind so liebenswert und menschlich und über-erklärt, dass das Mitleid durch sie durchgeht wie durch eine kleine Wolke vor dem Spiegel.
Es gehört zur Dramaturgie des Katastrophenfilms, vor der eigentlichen, der großen Katastrophe die kleinen, die sozialen, familiären und individuellen Katastrophen zu zeigen – nebst den Spuren der Erlösung. Auch da funktioniert „Die Wolke“ ganz nach den Genre-Regeln. Einigermaßen liebevoll beschreibt der Film das Leben in deutscher Provinz. Unvollständige Familie im sozialen Überlebenskampf, rau, aber herzlich, auf der einen Seite. Reichtum, auf der anderen Seite, macht nicht glücklich. Und die Liebe läuft in den Bahnen eines Teenagerfilms. Die Guten, die romantischen Außenseiter, finden zueinander. Und die Katastrophe selbst ist zwar schlimm, verändert aber offensichtlich alle Überlebenden zum Guten.
Eine gewöhnliche Filmkritik müsste hier aufhören: Es ist gelungen, die Muster eines Genres zum einen für eine gute Sache und zum anderen für humanes Entertainment nutzbar zu machen. Alle Beteiligten verstehen ihr Handwerk, ohne durch ein Übermaß an Originalität oder sophistication die gute Absicht zu stören. Eine Balance zwischen emotionalisierenden Pflichtteilen und gelegentlichen Kürelementen des genaueren Blicks wird erreicht. Näheres ist in „anschließenden Diskussionen“ in Schulvorstellungen zu erfahren.
Aber vielleicht geht es doch auch um ein paar grundsätzlichere Methodenfragen. Und was das anbelangt, kommt man um die Diskussion von Katharsis, Aufklärung und Identifikation im Genre nicht herum. Denn im Kern des Genres steckt das gute alte Märchen. Und wir wissen, wozu das gut ist: Es dient als innere Begleitmusik zu einer Ablösung. Den Eltern gewidmet, die uns nur in den finsteren Wald bringen konnten, um uns in den Kampf mit der Hexe zu führen. Vom Urvertrauen zur Selbstbestimmung. Oder von der Familiengeborgenheit auf den kapitalistischen Markt, wie man es nimmt. Man muss lernen, dem zu verzeihen, was einen aus der Einheit geworfen hat, und man muss lernen, in einer grausamen Welt zurechtzukommen. Allein und auf der Suche nach der neuen Einheit. Am Leitfaden der Liebe, zum Beispiel.
In „Die Wolke“ nun haben wir nichts anderes als ein Ablösungsmärchen, bei dem eine Kernkraftexplosion die Rolle der bösen Hexe übernommen hat. Bei der Frage, ob so etwas „funktionieren“ kann, kommt es ganz darauf an, was man unter Funktionieren versteht. Im Sinne einer Propaganda gegen Atomkraft könnte der Film vielleicht funktionieren (man kann auch das mit Fug bezweifeln), weil niemand das Böse richtig gern hat und der Text am Ende noch einmal die Aufmerksamkeit von der Fiktion auf die Wirklichkeit lenkt: Das Zeug ist ja wirklich mordsgefährlich.
Im Sinne einer aufklärenden Bewegung in den Bildern kann ein Film wie „Die Wolke“ indes definitiv nicht funktionieren. Unter den Tränen und unter dem Glück von Katharsis und Märchenstruktur geht gerade das verloren, was den Widerstand nur bestimmen kann: kritisches Urteil und Autonomie. Wenn es ihn gegeben hat, dann haben die Mittel in diesem audiovisuellen Lebkuchenherz den guten Zweck unbarmherzig erstickt in Katastrophenangst und Liebeslust.
Und? War das jetzt die zweite, die dogmatische Filmkritik (Entertainment und Politik, das geht nicht, Ausnahmen bestätigen die Regel)? In der Genre-Erzählweise geht in der Tat schon nach kurzer Zeit die Idee davon verloren, dass man zwischen Inhalt und Verpackung unterscheiden könnte. Oder zwischen Erzählmittel und Erzählabsicht. Man könnte, in the mood fürs Radikale, schlicht behaupten, dass Bilder, die vollauf damit beschäftigt sind, in sich selbst aufzugehen, nur falsche Bilder der Welt sein können. Bilder der visuellen Unmündigkeit. Nur dass auch die dogmatische Attitüde nicht unbedingt weiterhilft. Deshalb muss man wohl doch jeden neuen Versuch, aus der Genrefalle von Entertainment und Ideologie heraus zur Aufklärung zu kommen, neu und für sich bewerten. Es hilft ja nur Entertainment, wo Entertainment herrscht.
Also doch: Lieber Propaganda/Entertainment fürs Gute, als das audiovisuelle Feld den Traumschiffern und Sternenkriegern zu überlassen? Falsche Frage. Ob der Zweck die Mittel heilige, steht am Ende gar nicht mehr zu Debatte. Eher: Wie viel formale Subversion kann man in die Verwendung von Genremustern stecken, ohne sich den Zugang zum Mainstream zu verbauen, und wie viel Bewusstsein braucht es, um aus einer Pose eine Geste zu machen? Unbedingte Emotionspropaganda aber kann auch zum direkten Gegenteil der eigenen Absicht führen. Bittersüße erste Liebe, oder wie wir lernten, Atomkatastrophen zu lieben.
Es gibt Fragen, die muss man gar nicht beantworten können wollen. Es ist schon viel gewonnen, wenn man sie sich stellt.
Georg Seeßlen
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