Postdogmatisch: der neue Film von Lone Scherfig
Die dänische Regisseurin Lone Scherfig, (Italienisch für Anfänger) hat sich mit ihrem neuen Film von den strengen Regeln der„Dogma“-Schule wie vom europäischen Festland gleichermaßen weit entfernt: Die Geschichte des Fast-Selbstmörders Wilbur spielt in Glasgow.
Ich habe nichts gegen belanglose Filme. Einige meiner Lieblingsfilme sind mehr oder weniger belanglos. Aber dieser dänische Schottenfilm (oder schottische Dänenfilm) geht auf eine Weise mit seiner Belanglosigkeit hausieren, die mir nicht so sympathisch ist. Dabei geht es schließlich um Liebe, um brüderliche Verbundenheit, um tragische Familienromane, um wirtschaftlichen Niedergang, um Krankheit, Tod, Bücher und nicht zuletzt Selbstmord. Das sind keine Kleinigkeiten.
Wilbur will sich umbringen, immer wieder versucht er es. So geht das los. Später erfahren wir dazu ein schreckliches Detail aus seinem Familienroman. Sein älterer Bruder versucht beides zu verhindern, die Erinnerung und den Suizid. In der Klinik kann man Wilbur nicht viel helfen. Das Personal ist dem Lars-von-Trierschen Welttheater der „Geister“-Serie durchaus ähnlich. Verzweifelte Melancholie hat die Institution erfasst; Wilbur scheint da auf paradoxe Art der Gesündere. So muss ihn der ältere Bruder bei sich aufnehmen, in der Wohnung an der kleinen Buchhandlung, die sie von ihrem Vater geerbt haben. Der Bruder hat gerade endlich die Frau fürs Leben kennen gelernt, eine Krankenschwester, die bei ihm die in der Klinik liegen gebliebenen Bücher verkauft hat (hübsche Idee!), bis man sie wegen ihres ständigen Zuspätkommens feuert. Eigentlich könnten die vier, Wilbur, sein Bruder, seine Frau und ihre Tochter, eine durchaus lebensfähige Notgemeinschaft bilden. Aber Wilbur hat noch eine andere Eigenschaft, er erweckt in den Frauen etwas. Oder zuviel. So verlieben sich die beiden also ineinander und müssen das Verhältnis vor dem Bruder geheim halten. Der wiederum hält vor ihnen die medizinische Diagnose geheim: Er hat Krebs, und die Aussichten auf Heilung stehen nicht gut. Nach einem letzten Weihnachtsfest mit seiner Familie nimmt er sich im Krankenhaus das Leben. Wilbur und die Witwe stehen an seinem Grab, zusammen mit dem Kind, und sie werden eine, wahrscheinlich, einigermaßen glückliche Familie.
Das ist keine uninteressante Geschichte, und Lone Scherfig hat daraus schon mal keinen Tränendrücker und keine Soap Opera gemacht. Und sie versteht auch etwas vom Filmemachen. Nein, das Problem liegt ein bisschen tiefer, und es betrifft nicht nur die Regisseurin und die Art, wie in Europa Filme gemacht werden, sondern auch unsere Art des Sehens und des Anteilnehmens.
Denn mit Wilbur könnten wir direkt ins finstere Herz der Gegenwart gelangen. Dorthin, wo ein Lachanfall und ein Verzweiflungsschrei kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Aber Wilbur Wants to Kill Himself erklärt das alles mit einer wundersamen Skurrilität, mit Figuren und Nebenfiguren, die einen durchaus packen könnten, wenn sie nicht so penetrant ihre eigene Skurrilität vor sich her tragen würden. Natürlich begegnen einem solche Leute auch im wirklichen Leben, und man ist verdammt dankbar für jede und jeden von ihnen. Aber richtig funktionieren sie eben doch nur als Ausnahmen und Überraschung. So fehlt dem Film jeder Zorn und jede wirkliche Zärtlichkeit, er protestiert gegen nichts, will nicht viel sehen – zum Beispiel davon, wie auch in Glasgow das Elend und Glück des einzelnen Lebens mit Geschichte und Gesellschaft zusammen hängt -, nimmt alles und jeden ein bisschen in den Arm. Ein Realismus-Kuscheln, das man gelegentlich braucht. Weil es seinen Ort verloren hat, konstruiert dieses europäische Kino einen falschen. Gemäßigtes Schottentum wird für einen Binnen-Exotismus missbraucht, der einem im europäischen Kino schon gewaltig auf die Nerven gehen kann. Wilbur Wants to Kill Himself ist vielleicht auch so etwas wie ein Symptom für ein etwas ratloses Post- „Dogma“-Kino.
Aber was soll da die ästhetische und politische Kritik, wo man sich doch mal wieder einer Sache überlassen kann, minutenlang, ohne gleich ein schlechtes Gewissen haben zu müssen? Wilbur ist ja eine Geschichte des Glücks. Eine anti-melodramatische Angelegenheit: Ein Mensch wird gerettet, weil ein anderer ihm das durch seinen Tod ermöglicht. Wie sollten wir da nicht an Agnès Vardas damals so „skandalösen“ Film Le Bonheur denken: Das war ein amoralischer Film über das Glück. Wilbur Wants to Kill Himself ist gemessen daran nicht nur formal ein Schritt zurück. Er durchtränkt sich gleichsam mit Moral. Notfalls muss, das sollte sich endlich mal verbieten, das Kind noch als Instanz moralischer Erklärung und Absolution herhalten. Wie das Leiden des einen mit dem Glück des anderen Menschen zusammenhängt, wie sich das an einem konkreten Ort zeigt und ob das durch Liebe erträglicher wird – das wäre vielleicht doch einen etwas weniger belanglosen Film wert gewesen.
Georg Seeßlen, epd film
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