Vor fünf Jahren brachte Autor und Regisseur Chris Kraus das Kammerspiel „Vier Minuten“ heraus – und ein wahrer Preisregen ging über ihn nieder. Mehr als fünfzig Auszeichnungen soll der Film weltweit bekommen haben. „Vier Minuten“ war leise, hintergründig, fein gewoben. Mit „Poll“ offeriert Kraus Gröberes – und wieder einen Film, der es einem nicht leicht macht.
Die Handlung des Films, an dessen Vorbereitung Chris Kraus viele Jahre gearbeitet hat, spielt in einer großen Rückblende im Sommer 1914 in Estland, an der Ostseeküste. Oda von Siering (Paula Beer), ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein, kommt zu ihrem Vater auf das Gut Poll. Im Gepäck hat sie den Sarg mit der Leiche ihrer Mutter. Ebbo von Siering (Edgar Selge), ein zwielichtiger Forscher, einer der Deutsch-Balten, die damals dort das Sagen hatten und fast wie Sklavenhalter herrschten, lebt hier mit seiner zweiten Frau (Jeanette Hain) und dem Sohn (Enno Trebs) aus dieser Ehe. Wobei: Der Hirnforscher lebt nicht mit den Seinen, sondern neben ihnen. All sein Augenmerk ist auf seine Arbeit gerichtet: das fanatische Sezieren von Leichen, das „Ausräumen“ von Köpfen. Dafür hat er ein ehemaliges Sägewerk in ein Laboratorium umgewandelt. Wann immer von den Soldaten des Zaren ein Anarchist getötet wird, kauft Ebbo den Körper und schnippelt. Was Oda außerordentlich fasziniert. Noch faszinierender allerdings wird ein Fremder für sie, der sich Schnaps (Tambet Tuisk) nennt. Der Mann ist verletzt, angeschossen, als Anarchist auf der Flucht. Oda versteckt ihn, pflegt den Kranken, und unternimmt mit dem angeblichen oder wirklichen Schriftsteller erste Schritte, um sich auf den Weg in die Welt des Dichtens zu wagen. Die lange Rückblende wird häufig von einem Off-Kommentar begleitet. Wir hören die greise Oda, die sich erinnert. Ganz am Ende kommt sie einmal kurz ins Bild, dargestellt von Gudrun Ritter. Dieses Gesicht voller Traurigkeit und Schmerz prägt sich ein. Es manifestiert eine lebenslange Sehnsucht nach dem Unerreichbaren – nach der Glut der Jugend… Bis dahin aber vergehen mehr als zwei Stunden. Und die fordern viel Geduld vom Zuschauer.
Chris Kraus schaut in die Geschichte der eigenen Familie mit Blick auf die europäische Historie: Oda Schaefer, die vor mehr als einem halben Jahrhundert als Lyrikern recht bekannt wurde, war eine Großtante von ihm. Doch sie wurde von der Familie abgelehnt, da sie gewisse Sympathien für die Kommunisten hegte. Kraus erfuhr von ihr erst, nachdem sie 1988 gestorben war. In seiner opulenten deutsch-österreichisch-estnischen Gemeinschaftsproduktion huldigt Kraus vor allem Odas Poesie, die von einer permanenten Untergangsstimmung geprägt ist. Jede Dialogzeile wirkt wie von Dichterhand gemeißelt, jedes Bild wie von einem ambitionierten Maler entworfen. Das, leider, erstickt mitunter die Lebendigkeit. Vieles mutet abgezirkelt, ausgedacht an, zu wenig prall und lebensecht. Dennoch: Kraus’ Film fasziniert. Die aufwändigen Bilder prägen sich ein, die familiären Konflikte werden als Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche begreifbar. Wiewohl vieles anmutet wie in einem düsteren Märchen, wird’s nie märchenhaft-bunt oder gar kitschig. Dafür sorgen die durchweg strenge Inszenierung und die Schauspieler mit ihren differenzierten Darstellungen. Dabei prägt sich besonders die Nebenfigur von Ebbos zweiter Frau ein, verkörpert von Jeanette Hain, fragil, immer etwas „weggetreten“ anmutend, durchaus spitzzüngig. Hain fasziniert mit kapriziösem Charme und bietet wohl vielen Zuschauern, weil die von ihr dargestellte Frau immer mal ganz handfeste, realitätsbezogene Fragen stellt, manchen, einen Schlüssel zum Geschehen.
Frappierend ist auch Hauptdarstellerin Paula Beer. Die Debütantin, ausgewählt aus mehr als 2.500 Bewerberinnen, vereint Kindlichkeit und Reife aufs Beste. Nicht einmal hat das etwas Tümelndes. Sie erschafft einen starken Charakter, man glaubt sofort, dass aus diesem Teenager einmal eine ernst zu nehmende Künstlerin wird.
Die visuelle Schönheit und die schauspielerische Klasse bieten viel Genuss. Doch es bleibt eine starke Irritation. Die Handlung packt nicht völlig, weil die Erzählung nicht dicht genug gewebt wurde. Aber: Aus der Fülle ästhetisch und inhaltlich eher kleiner Filme aus Deutschland sticht „Poll“ heraus. Und: Da bleiben auch lange nach dem Sehen viele Bilder und Momente im Kopf, etwa das seltsame Haus auf Stelzen, direkt am Meer, in dem Ebbo und Familie leben, die nie laut ausgesprochene, aber durchweg spürbare Wut Odas angesichts vieler sozialer Ungerechtigkeiten und das beinahe wie aus dem Jenseits aufleuchtende Gesicht von Gudrun Ritter. Ein Film, über den man sich gern unterhält und vielleicht auch gern streitet.
Peter Claus
Poll, Chris Kraus (Deutschland / Österreich / Estland 2010)
Bilder: Pfiffl
- „Rosenmontag For Future“ Oder: Lachen schult das freie Denken - 9. Februar 2020
- Thilo Wydra: Hitchcock´s Blondes - 15. Dezember 2019
- Junges Schauspiel am D’haus: „Antigone“ von Sophokles - 10. November 2019
Schreibe einen Kommentar