Welcome to Europe, Mr. Altman

Notiz zu einer Station der Reise eines Mannes mit der Erlaubnis, eine Vielzahl von Gedanken zu haben

Christa Maerker hat Altman in einem Interview gefragt: „Es könnte sich fast um zwei Regisseure handeln, so unterschiedlich sind die Ansätze. Wo treffen sie sich?“ Der Regisseur hat geantwortet: „Ich finde, wir sollten hier großzügig sein und mir die Erlaubnis erteilen, eine Vielzahl von Gedanken zu haben.“

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Es ist ziemlich schwer, der Versuchung zu widerstehen, den langen Weg von Robert Altman aus einer katholischen Frauenwelt des mittleren Westens über Stationen der Verzweiflung und Einsamkeit, der Auflösung der Person, über den toten Lärm der amerikanischen Kultur, das Meistern der Vielzahl von Stimmen und Interessen, über ein kleines radikales Theaterkino der Gefühle, schließlich ins Herz des „alten“ Europa, als folgerichtige Biographie eines geborenen Dissidenten und Emigranten zu deuten, der nun, mindestens als Künstler, „zuhause“ angekommen ist. Aber angesichts einer so materiellen und unmythischen Künstlerbiographie wie Altmans VINCENT UND THEO dürfen wir auch ihrem Urheber eine Vielzahl von Impulsen gestatten. Gewiss sind seine Filme alle mehr oder minder autobiographisch: ein Spieler macht Filme über Spieler, ein Lady’s Man macht Filme über Frauen, ein Amerikaner macht statt nur amerikanischer Filme Filme über Amerika. Aber Robert Altman ist vor allem einer, der sieht, und es macht seine irritierende Besonderheit aus, daß er einmal ins Weite führt, das andere Mal in die Tiefe, einmal als wäre er mittendrin, das andere Mal, als wäre er Lichtjahre entfernt und das dritte Mal, als wäre er dabei, hinter den Spiegeln weiterzusehen.

Als er 1969 mit M.A.S.H. Kritiker und Zuschauer faszinierte und schockierte, da war er bereits 44 Jahre alt, hatte sich das Handwerk als Industriefilmer erarbeitet und zahlreiche Arbeiten für Fernsehserien wie „Alfred Hitchcock Hour“ oder „Bonanza“ und Filme wie COUNTDOWN abgeliefert. „Beim Fernsehen“, so Altman, „lernte ich, wie man Dinge sagt, ohne sie zu sagen.“ Das Wesen seiner nun in regelmäßiger Folge erscheinenden Filme ist die Desillusionierung; seine Filme spielen an den mythischen Schauplätzen der amerikanischen Träume, aber die funktionieren bei ihm nicht. Seine Helden sind Spieler, Menschen die eine Show liefern wollen oder die ein Spiel als bedingungslose Herausforderung des Glücks und allem, was daran hängt, spielen. Mit ihren Bewegungen erkennt auch der Zuschauer die Struktur der Verabredungen: Spieler und Künstler, das sind die unbedingten Experimentierer, die sie in Frage stellen würden, müßten sie nicht vorher an dem System zugrundegehen, das sich nie an seine Spielregeln hält.

Altmans Humor ist gelegentlich sarkastisch, oft sehr bitter, manchmal melancholisch, nie aber zynisch. Seine Helden spielen um ihr Leben oder sie haben ihr Leben ganz und gar dem Spiel gewidmet; es sind entweder Menschen, die scheinbar nichts ernst nehmen wie etwa die Lazarett-Ärzte in M.A.S.H., oder Menschen, die etwas todernst nehmen, was doch eigentlich nur ein Spiel sein sollte, wie Paul Newman in QUINTET. Sie haben einen ungeheuer langen, fast nicht zu schaffenden Weg zu einem eigenen Leben durch ein Gewirr von öffentlichen Zwängen, Selbstdarstellungen, Konventionen und Künstlichkeit zurückzulegen, wollen oder müssen sie sich selber begegnen. Oft wissen sie selbst nicht einmal, ob sie gerade einer gesellschaftlichen Pflicht nachkommen, eine Show bieten oder ein „echtes“ Erlebnis haben. Sie bleiben irgendwo stecken und versuchen, sich in die eigene Künstlichkeit zu verlieben. Selbst die Liebe ist da keine Erlösung mehr; auch sie besteht aus Ritualen und Machtspielen.

Die wahrhaft gespenstischen Figuren in Altmans Filmen sind die Inszenatoren der Shows und der Spiele, Buffalo Bill, der in seiner Wild-West-Show jeden Versuch unterdrückt, historische Wahrheit zu zeigen („Männer wie sie“, sagt der amerikanische Präsident Cleveland zu ihm, und das ist ein vernichtendes Urteil über die Nation, „haben Amerika zu dem gemacht, was es heute ist“), der Manager-Ehemann in NASHVILLE, der seiner Frau die Rosenbuketts im Krankenhaus ebenso arrangiert wie ihre Bühnenauftritte; Geraldine Chaplin, die EINE HOCHZEIT als perfekte Fassade für eher kaputte soziale und individuelle Beziehungen inszeniert. Die Hersteller der Mythen in den Filmen von Robert Altman erleiden ein besonderes Schicksal; sie müssen auf ihre eigene Vorstellung hereinfallen, sie müssen ihre eigenen Lügen glauben. Daher sind die Spieler in Robert Altmans Filmen immer Verlierer, nicht, um sie, wie im Genre der Spielerfilme, zur Legende zu machen, sondern weil sie nicht durchschauen, daß ihr Spiel keine absolute Regel ist, sondern nur ein Trick der dahinter sich zeigenden Mächte. In McCABE UND MRS. MILLER ist der Spieler McCabe so lange erfolgreich, bis die Bergwerksgesellschaft nach ihm greift; in CALIFORNIA SPLIT ist die Einheit von Leben und Wettscheinen, Würfeln und Karten so perfekt, dass das Spiel wiederum zum Ausdruck des Lebens wird, aus dem man geflohen ist. So werden in Altmans Filmen die Bewegungen stets kreis- oder ellipsenförmig. Immer wieder ist auch die Sexualität nichts anderes als eine Fortsetzung dieses Spiels, so wie die Politik nichts anderes als eine Fortsetzung dieses Show-Business ist: „Country-Music-Stars und Politiker sind in diesem Lande gleich. Ihre Hauptbeschäftigung ist die Teilnahme an Popularitätswettbewerben“ (Altman).

Neben dem gegenseitigen Durchdringen von Leben und Spiel, der fröhlichen Leere des amerikanischen Lebens und der Beziehung von Macht und Liebe ist die Einsamkeit Altmans Hauptthema. Seine Helden in EIN KALTER TAG IM PARK, SPIEGELBILDER oder DREI FRAUEN sind so radikal einsam wie seine anderen Figuren betriebsam, und wie diese sich in der endlosen Konventionalität der populären Mythologie, der Medien, der Umgangsformen des american way of life verlieren, so verwischen sich diesen Einsamen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Alptraum, und so wie für die Gesellschaft ist auch für das einsame Individuum der Traum keine Chance. An den Menschen, die sich ganz den äußeren Formen anpassen, zeigt Altman die gesellschaftlichen Räume, an seinen Einsamen tut er innere Räume auf. Er erklärt sie nicht, er öffnet nur Blicke. Die Katastrophe ist die einzige Möglichkeit für die Erlösung aus einer solch perfekt inszenierten Leere; aber selbst die wird ganz schnell vom Show-Business hinweggefegt: das Attentat in NASHVILLE, die Taubenkot-Attacke in EINE HOCHZEIT, der Krieg in M.A.S.H. bringen diese Gesellschaft nur für wenige Momente aus dem Gleichgewicht, dann wird wieder gesungen, gespielt und gelächelt. Die fremden Stimmen der Gesellschaft wuchern in den Tragödien der einzelnen, wie das Radio in der Untergangsgeschichte der kleinen Gangster in THIEVES LIKE US. In BREWSTER McCLOUD versucht der „Held“ mit einem selbstentworfenen Fluggerät im „Astrodom“ zu fliegen; es gelingen ihm einige Runden, dann stürzt er ab. Die Zuschauer applaudieren, denn dies ist für sie ein selbstverständlicher Teil der Schau.

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Nun also Europa. Hier gibt es „die Kunst“, die vielleicht beides zugleich, die gesellschaftlichen und die inneren Räume, öffnen könnte und die aus beidem, der Betriebsamkeit in der Gesellschaft und der Einsamkeit, besteht. Robert Altman hat mit VINCENT UND THEO gewiß eine Liebeserklärung an Europa geschaffen; es ist ein Film in europäischen Farben, in europäischer Kadrage und europäischer Bewegung. Aber zugleich hat der Regisseur auch gegenläufige Tendenzen in seiner Arbeit zusammengeführt, eine Lösung für extreme Spannungen gefunden.

So ist VINCENT UND THEO doch nicht geworden, was es angesichts des van-Gogh-Rummels dieser Zeit und der kulturellen „Identität“ des „europäischen Films“, unter dessen Bedingungen er entstanden ist, beinahe hätte werden müssen: ein kalligraphischer aber todsicherer (und todlangweiliger) Film.

Der Mann, der sich am 29. Juli 1890 durch eine Pistolenkugel selbst das Leben nahm, der Maler Vincent van Gogh, existiert im Gedächtnis unserer Kultur zweimal. Einerseits ist er der Wegbereiter der modernen Malerei, der in einem gewaltigen, ja auch gewalttätigen Dialog mit den Farben der Kunst neue Möglichkeiten eröffnete. Andererseits aber ist Vincent van Gogh auch ein Name, der auf Unmengen bis in die Farbwerte falscher Wohnzimmerdrucke und Kopien steht, gleich neben Dürers „Betenden Händen“, die Chiffre für ein endlos reproduziertes Klischee vom Künstlerleben, in dem sich Genie und Wahnsinn treffen. In dieser trivialen Legende hat Vincent als harmloser Blumenmaler überlebt, der sich in den gegen sich selbst wütenden Ohrabschneider und Todesbildner verwandelte. Im populären Bild des Künstlers, das in zahlreichen Biographien, in Filmen und Romanen verbreitet wurde, ist das Erschrecken vor der Wahrheit der Kunst gut aufgehoben: Man ist fasziniert, und hat zugleich gute Gründe, Abstand zu nehmen. So funktionieren Mythen.

1956 hat Kirk Douglas van Gogh in einem Hollywoodfilm von Vincente Minnelli dargestellt. Trotz des reißerischen Titels LUST FOR LIFE, in Deutschland EIN LEBEN IN LEIDENSCHAFT, war dies eine durchaus respektable filmische Künstlerbiographie, und doch mit dem Mangel des Genres behaftet, für alles eine einfache Erklärung zu finden, und alles herauszulassen, was so einfach nicht zu erklären ist. Vincent van Gogh wurde in den nächsten Jahrzehnten beinahe zu Tode reproduziert, in jedem populären Sammelwerk, in jedem Feature wurde die immer vertrautere und immer mehr verkürzte Vita wiederholt. Die Legende setzt sich fort in den Rekordsummen, die auf internationalen Auktionen für die Bilder des Malers erzielt werden, der in den siebenunddreißig Jahren seines Lebens nur ein einziges verkaufen konnte. Daß 1987 das berühmte Bild der Sonnenblumen für nicht weniger als 72,5 Millionen Mark in den Besitz des Präsidenten der japanischen Schadensversicherungsgesellschaft überging, ist die Fortschreibung der Legende als Wirtschaftsnachricht und politisches Klischee und viel wirksamer als etwa die Kenntnis davon, wie sehr der holländische Maler auch von der japanischen Kunst beeinflusst war. Vincent van Goghs Werk gehört zu den Schätzen, die die europäische Kultur in der Vermarktung verliert. Der gigantische Kunstrummel, der zum hundertsten Todestag durchgeführt wird, droht diesen Verlust nur zu bestätigen. (Freilich gibt es auch Gegenbewegungen, etwa die Ausstellung mit dem listigen Titel „Vincent zuliebe – van Gogh zu Ehren“ in Kassel, in der Künstler – mit unterschiedlichem Erfolg – versuchen, Akzente gegen den van-Gogh-Jubiläumszirkus zu setzen.)

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Im äußeren Geschehen hält sich Altmans Film weitgehend an das biographische Wissen um Vincents Leben. Die Schwerpunkte sind die Beziehung des Malers zu der Prostituierten Sien, seine Kämpfe ums Überleben, um die Farben für seine Arbeit, seine Begegnung mit Malern wie Bernard in Paris, seine Freundschaft zu Gauguin, die in einer verzweifelten Attacke endet, als die beiden eine Zeit lang gemeinsam leben und arbeiten, vor allem aber die Beziehung von Vincent zu seinem Bruder Theo, der vergeblich versucht, seine Bilder zu verkaufen, und mit dem Vincent Zeit seines Lebens innig verbunden bleibt. Der Film zeigt das Scheitern zweier Männer, die anscheinend sehr unterschiedliche Wege gehen, in Wahrheit einander aber über die Abhängigkeit, die Freundschaft, ja sogar über die brüderliche Liebe hinaus verbunden sind. Da ist Vincent, der Künstlerproletarier in seinen schäbigen Behausungen, in denen sich die alte Farbe über den Schmutz eines weltlosen Lebens breitet. Und da ist Theo, der korrekte Bürger, der immer darum kämpft, die Form zu bewahren: um eine würdige Wohnung für sich und seine Familie, einen sozialen Ort. Vincent, die Pfeife zwischen den schwarzen Zähnen, lässt das Chaos der Welt an sich heran. Theo, der sich mit der eleganten Zigarette Distanz verschafft, versucht Ordnung in sie zu bringen. Vincent verliert seine Geliebte durch Theo; später verliert Theo beinahe durch Vincent seine Frau. Vincent geht neben seiner inneren Verfassung ganz buchstäblich an seinen Farben zugrunde, die er immer mehr nicht wie ein Werkzeug, sondern wie ein Lebensmittel behandelt; er verschlingt die Farben, reibt sich mit ihnen ein, trinkt das Lösungsmittel. Theo geht neben seiner inneren Verfassung an der Syphilis zugrunde, die ihn so sehr von innen zerfrißt wie Vincent die Farben von außen. Alle diese Entsprechungen macht der Film in sorgfältig komponierten Bildern deutlich, in denen die Kunst der Malerei in der Kunst des Films deutlich gespiegelt ist. Wie beide von der Vision leben, hat Altman in der Szene des Selbstmordes zusammengefaßt: Vincent malt das Bild mit den Krähen über dem Kornfeld. Die Kamera zeigt ein gewaltiges Feld, auf das der Blick des Malers gerichtet ist. Wir sehen aber auch, daß weder der Weg noch die Krähen, die über das Feld fliegen, in der Wirklichkeit, die Vincent abbildet, vorhanden sind. Dann geht er in das Feld hinein. Dabei zieht er eine Furche durch das Korn. Er bleibt dort stehen, wo sich der Fluchtpunkt des gemalten wie des Filmbildes befindet, und er schießt sich eine Kugel in den Leib. Der Schuß scheucht einige Krähen auf. Für einen Augenblick entspricht das Filmbild dem Gemälde, das eine Medium wird zur Vollendung des anderen.

Die Welt, hat Vincent van Gogh gesagt, sei nichts anderes als eine unausgeführte Skizze; die Kunst hat die Aufgabe, sie zu einem Bild zu vervollkommnen. Zu Altmans Vervollkommnung der unausgeführten Skizze von Vincents und Theos Leben gehört, daß er es nicht erklärt. Dass Theo Vincents Leben und seine Schmerzen auf einer bürgerlichen Ebene wiederholen muß, ist weder psychologisch noch gesellschaftlich recht eigentlich gedeutet. Wie in einem Gemälde geht es stattdessen um den Pinselstrich, der die widersprüchlichen Elemente einer Komposition verbindet. Altman verhält sich als Regisseur wie ein Maler zu seiner Leinwand; er verbindet die Elemente seiner Komposition durch Farbsymmetrien, Flächen und Linien. Tödlich verwundet schleppt sich Vincent nach Hause. Er betrachtet die Blutspur, die er hinterlässt, wie einen letzten Pinselstrich, der die fehlende Harmonie erzeugt.

Vincent und Theo, das sind die beiden Lebensmodelle, die Altman in seinen Filmen immer wieder untersucht: den Weg des Einsamen nach innen und den Weg des Erfolgsuchenden nach außen. Dass beides scheitern muss, wenn man das Ende einer Bewegung, die sich nicht erfüllen kann, als Scheitern bezeichnen will, hat Altman immer wieder gezeigt. Aber hier setzt er beides zum ersten Mal in Beziehung miteinander, und er ist sich nicht mehr sicher. „Erfolg haben“ und „Scheitern“ sind vielleicht sehr amerikanische Metaphern. Die innere und die äußere Form, die Wahrheit und die Wirklichkeit, sind miteinander verwandt wie jene beiden Brüder, denen es nichts nutzt, dass sie sich lieben.

Er habe, so Robert Altman, nicht das im Sinne, was man einen Kunstfilm nennt. In der Tat bewahrt der Film stets seine Autonomie gegenüber der Kunst, die er darstellt. Als Vincent den Arzt Paul Gachet malt, in dessen Haus er die letzte Zeit seines Lebens verbringt, da zeigt die Kamera nicht das berühmte Gemälde von Vincent van Gogh, sondern ein Bild des Darstellers Jean-Pierre Cassel, der Gachet spielt. Es stammt übrigens von Robin Thiodot, der noch weitere Bilder für den Film gemalt hat. Die Autonomie des Mediums macht erst möglich, hinter dem Menschen Vincent, den Tim Roth darstellt als Kind und Greis, der Gefühle gleichsam im Rohzustand lebt und sehend das Glück verliert, den Künstler neu zu entdecken. Altman hat darauf verzichtet, ihn in den Bildern des Films aufzulösen; statt falscher Vertraulichkeit hat er in einem Werk von befremdlicher Schönheit Distanz geschaffen. Aus ihr heraus sehen wir, jenseits des Posterkitsches und des Jubiläumsrummels, einen anderen, einen lebendigen Vincent van Gogh.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 5/90