Die Frage, wie der Holocaust darzustellen sei, muss sich jeder Film zum Thema neu stellen. Mit seiner Adaption der Erinnerungen von Wladyslaw Szpilman, die in Cannes die Goldene Palme erhielt, ist Roman Polanski eine beeindruckend maßvolle Arbeit geglückt: eine Erzählung, die nie die Perspektive des Opfers verlässt.
Es gibt Geschichten, die man aus drei Gründen einfach erzählen muss. Weil sie wichtig sind für einen selbst, weil sie wichtig sind für die Welt, und weil sie sonst in keiner anderen Erzählung enthalten sind. Eine solche Geschichte ist die von Wladyslaw Szpilman, die er unter dem Titel „Das wunderbare Überleben“ aufgezeichnet hat. Seine Geschichte ist die vom Schmerz, vom Leiden des Verlustes, von der Einsamkeit, vom Hunger und der Angst, und davon, wie das Leben durch ein, zwei Wunder gerettet wird. Jedenfalls wenn man die bloße Existenz von Menschen in der Organisation der Unmenschlichkeit durch die deutschen Faschisten ein Wunder nennen wollte. „Das wunderbare Überleben“ ist eine Geschichte, die wohl niemand glauben würde, wenn sie nicht wirklich geschehen wäre.
Es gibt Filme, denen bringt man nach einigen Minuten ein tiefes Vertrauen entgegen. So ein Film ist Der Pianist, den Roman Polanski nach „Das wunderbare Überleben“ gedreht hat. Man weiß sofort, dass dieser Regisseur diesen Film hat machen müssen. Vielleicht aus biografischen Gründen, vielleicht aus künstlerischen Gründen, vielleicht weil es auch beim Filmemachen die kleinen Wunder gibt: Polanski hilft mit seinem Film eine Geschichte zu verstehen, die sonst vielleicht vergessen würde, Der Pianist hilft aber auch, Polanski und seine Filme besser zu verstehen, ihre verzweifelte Komik, ihre poetische Metaphysik.
Dabei gibt es in Der Pianist nichts Sensationelles, keine waghalsigen Verstöße gegen filmische Konventionen, möglicherweise nicht einmal einen ausgeprägten historischen Erkenntniswert. Nur diese eine, wunderbare Geschichte von Wladyslaw Szpilman, der 1939, als Deutschland Polen den Krieg erklärte, als Pianist beim Warschauer Rundfunk bescheidenen Ruhm genießt. Er und seine Familie machen alle Stationen des Leidens der Juden mit: die Konfiszierungen des Besitzes und der Wohnung, die Kennzeichnung mit dem blauen Davidstern, das Berufsverbot, die Umsiedlung ins Ghetto, Krankheit, Hunger und dann die Transporte ins Lager. Bei der Verladung ermöglicht einer der jüdischen Polizisten ihm die Flucht; Wladyslaw Szpilman kommt in einem Bautrupp unter, beteiligt sich an der Vorbereitung zum Aufstand und muss dann wieder fliehen. Die polnische Untergrundorganisation kann ihn in einer leeren Wohnung gleich bei der Ghettomauer verbergen, aber auch im Untergrund gibt es nicht nur gute Menschen; so beraubt ihn einer seiner letzten Habseligkeiten und unterschlägt die für ihn bestimmten Lebensmittel. Seine letzte Flucht führt Wladyslaw Szpilman zurück ins leere, zerstörte Ghetto. Dort wird er in seinem Versteck in einem ausgebrannten Haus von einem deutschen Offizier gefunden. Dass der ihn nicht verrät, sondern sogar Lebensmittel bringt, ist das letzte der Wunder, die ihn am Leben lassen.
Polanski erzählt diese Geschichte (die man unbedingt auch lesen sollte!) gradlinig, genau und immer nahe an seinem Protagonisten. Bewundernswert ist dabei das Maß der erzählerischen Mittel, das der Regisseur findet. Polanski malt jedes Detail, die Dinge, die Körper, die Gesichter, und er schafft einen Blick, der zugleich die Enge der ständigen Gefangenschaft und die Endlosigkeit des Terrors einbezieht. Jede Einstellung, jeder Schnitt konstruiert den Zusammenhang zwischen dieser einen wunderbaren Geschichte und der historischen Wahrheit der Todesmaschine. Es ist der Traum vom Leben noch mehr als der vom Überleben, der uns berührt. Wladyslaw findet in seinem Versteck ein Klavier, darf aber keinen Ton darauf spielen, um sich nicht zu verraten. So schweben seine Finger über den Tasten, und nur er und wir hören die Musik. Ein Hinweis vielleicht, wenn auch keine Antwort auf die Frage, die Szpilman am Ende seines Berichts stellt: „Von morgen an musste ich ein neues Leben beginnen. Aber wie, wenn hinter einem nur der Tod lag? Welche Lebenskräfte konnte man aus dem Tod schöpfen?“
Die Frage, wie das alles darzustellen sei, die Verfolgung, Folterung, Ermordung der Juden durch die deutschen Nazis – sie stellt sich auch hier. Sie stellt sich mit jedem Roman, mit jedem Dokument, mit jedem Film wieder. Natürlich hat Polanski dabei eine Vorlage zur Verfügung gehabt, die einen ganz eigenen Erzählgestus aufweist. Wladyslaw Szpilman schrieb seine Erinnerungen gleich nach dem Krieg, ohne eine Phase der Reflexion und der Abgleichung der Erinnerungen. Die Erzählung setzt sich aus Augenblicken zusammen, der Blick hat noch nichts vom Staunen und Entsetzen verloren, das sich von Station zu Station des Leidens steigert, ohne schon ein Ganzes, ein System zu entwerfen, und ohne vollständig im Grauen das Groteske verdrängen zu können. Man kann natürlich nicht von Komik sprechen, nicht einmal Ironie ist das richtige Wort. Es ist eine Beobachtung, die sich noch keine moralische und ideologische Konvention anverwandelt hat. Und das ist vielleicht auch der Grund dafür, warum Szpilmans Buch so ungelitten ist: Er verschweigt auch die jüdischen Verbrechen im Ghetto nicht, sieht den Widerstand genau so deutlich wie die polnische Kollaboration. Das Buch und der Film machen keinem System den Prozess, analysieren keine historischen Zusammenhänge; sie stellen das Leben auch unter den extremsten Bedingungen als eine Abfolge von Entscheidungen dar. Das Wunder besteht in nichts anderem als in Entscheidungen für das Leben. Das ist vielleicht keine Antwort, aber eine Präzisierung der Frage: Welche Lebenskräfte kann man aus dem Tod schöpfen?
Das ist eine Frage an die Kunst. Der Pianist, eine Geschichte, gewiss, eine Lebensstudie, die durch den großartigen Schauspieler Adrien Brody ein Gesicht bekommt, ein Meisterwerk der Angemessenheit, kann keine Antwort geben. Aber in Filmen wie diesem gelingt es uns gelegentlich, über sie nachzudenken. Und darüber, wie wenig vergangen die Vergangenheit ist.
Was ein Spielfilm uns über Faschismus und Holocaust sagen kann, ist durch seine Grammatik und seine Dramaturgie begrenzt. Weder das Ausmaß noch die Struktur der Wirklichkeit sind zu erreichen, und der Vorrat an Fabeln und Metaphern, die uns durch einen Ausschnitt das Ganze erahnen lassen, scheint erschöpft. Aber ein Spielfilm kann etwas, was ihm zugleich zum Fluch werden kann und ihn befähigt, die ungelöste Frage – Wie war Auschwitz möglich? Und wie können wir leben, nach Auschwitz? – neu zu stellen. Ein Spielfilm kann uns für Augenblicke in das Geschehen hineinversetzen. Wir erproben hier, wie es wäre, in dieser Hölle zu sein, als Opfer, manchmal sogar als Täter. Wir können die Schnittstellen erleben, zwischen dem System und dem Einzelnen, dem Schicksal und der Entscheidung. Dorthin gelangt kein Begriff, dorthin gelangt kein wissenschaftliches Modell. Dorthin kann man nur durch ein revivre, durch die zweite Wirklichkeit des Films gelangen. Polanski nähert die beiden Wirklichkeiten einander mehr an als es die meisten anderen Filme zu diesem Thema tun, indem er die Perspektive seines Protagonisten nie verlässt. Eines Menschen, der leidet. Eines Menschen, der sich immer wieder, manchmal mit allerletzter Kraft, für das Leben entscheidet.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film
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